15. Juni 2021

Wenn die „Kralle“ abspringt

Wolfgang Jeschke schildert in „Meamones Auge“ Genmanipulation in ferner Zukunft

Lesezeit: 3 min.

Orbitalfabriken, künstliche Ökosysteme, ein absolutistisch geführter Stadtstaat und zwei Monde, die sich gegenseitig zu zermalmen drohen – Wolfgang Jeschkes Novelle Meamones Auge (im Shop) bietet eine überwältigende Kulisse voller farbenprächtiger Details und starker visueller Eindrücke. Doch damit nicht genug: Dank seiner humanistisch geprägten Handlung ist dem Autor ein weiteres Meisterstück der modernen Science Fiction gelungen.

Es ist ein Moment, den Gianfrancesco Patini nicht vergessen wird: Die humanoide „Kralle“, die einen der mächtigen schwebenden „Fresser“ genau vor das Visier seiner Harpune gelenkt hat, lässt sich nicht plangemäß abschießen, sondern springt auf den abgeweideten Mond Confringet zurück. Das hat es noch nie gegeben. Und niemand kann ahnen, welche Tragweite die an sich harmlose Episode besitzt, deren Rang allenfalls die Bioingenieure der Firma Matsushita-Sandoz abzuschätzen vermögen. Denn bei dem Symbionten Om handelt es sich um keine gewöhnliche „Kralle“ – er verfügt über eine ungewöhnliche Fähigkeit. Und er bekommt rasch eine erstaunliche Verbündete.

Auf Confringet ist unterdessen ein neuer Zyklus angebrochen. Zwischen zermalmten Panzern und Schalen, Kadavern und Skelettresten wächst langsam frisches Leben heran – Treiber, Watschler, Brüller und Knurrer; alle dazu bestimmt, so viel Biomasse wie möglich zu erzeugen. Denn Confringent wird regelmäßig von den Bewohnern des Nachbarmonds Conterret mit vorbereiteten Ökosets geimpft; industriell erzeugten Lebewesen, die nur dafür existieren, um eines Tages in den Orbitalfabriken zu Nahrungskonzentrat verarbeitet zu werden.

Eine der Familien, die auf diese Weise seit Generationen ihr Dasein bestreiten, ist das Geschlecht der Patini. Ihre Macht beruht auf ihren Fähigkeiten zum Terraforming, aber auch auf dem Schutzschild, der sich um ihre Stadt legt, wenn Conterret und Confringet, die auf nahe beieinanderliegenden Bahnen um den Gasriesen Meamone kreisen, ihre Plätze tauschen. Dies ist stets das Signal dafür, eine neue Saat auszubringen. Doch der lang eingespielte Kreislauf gerät ins Wanken, als es der telepathisch begabten Meta Patini gelingt, Kontakt zu Om herzustellen. Die „Kralle“ verfügt über eine genetische Abweichung, die sie sehr wertvoll für Matsushita-Sandoz macht – und Metas Vater ist nur zu gern bereit, dem Konzern die Mutation zurückzuverkaufen. Es geht um nichts Geringeres als die Gabe, über Lichtjahre hinweg Kontakt mit jenen Raumschiffen zu halten, die die Galaxis durchqueren.

Meamones Auge (1992), die neben Der König und der Puppenmacher (1961, im Shop) und Osiris Land (1986, im Shop) wohl wichtigste lange Erzählung des Autoren und Herausgebers Wolfgang Jeschke (1936–2015), bietet eine erstaunliche Vielzahl an Themen. Genmanipulation und Terraforming spielen ebenso eine Rolle wie eine dystopisch gezeichnete Gesellschaft, bizarre Lebensformen und die Rolle der Religion. Im Mittelpunkt steht neben Om die junge Meta, die eine Grundsatzentscheidung fällen muss und sich hierdurch von einschränkenden familiären Verhältnissen emanzipiert.

Jeschke hat Meamones Auge sichtlich mit großer Fabulierlust geschrieben. Er zeigt sich dabei nicht nur als erfahrener Autor, sondern er setzt auch auf einen souveränen Leser. Es braucht einige Zeit, bis man sich in seiner Erzählwelt zurechtfindet, und man sollte jeden Moment der vorübergehenden Ratlosigkeit genießen. Schon aufgrund der Schönheit der Sprache – ein im SF-Bereich eher selten anzutreffendes Element – lohnt sich die mehrfache Lektüre, die ein ums andere Mal belegt, wie makellos der Autor seinen Stoff durchgearbeitet hat. Und natürlich ist – wie meistens bei Jeschke – Meamones Auge keine reine Unterhaltung, sondern besticht mit einem humanistischen Hintergrund und Kommentaren zur Gegenwart. Die subtile Religionskritik, die sich in der Frage äußert, ob die Ökosets künftig einen „Glauben“ bekommen sollen, weil sie dann leichter zu kontrollieren wären, entstammt einem weiterhin aktuellen Themenkreis.

Erstaunlicherweise ist Meamones Auge – anders als etwa die vier großen Romane Der letzte Tag der Schöpfung (1981, im Shop), Midas (1989, im Shop), Das Cusanus-Spiel (2005, im Shop) und Dschiheads (2013, im Shop) – nicht mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet worden. Ein überraschendes Versäumnis, das Jeschke selbst geahnt zu haben scheint, als er – quasi im Sinne einer vorweggenommene Entschädigung – seine Erzählung 1992 als Luxusausgabe in 100 Exemplaren auflegen ließ; als Illustrator firmierte der Künstler Jörg Remé, der zwölf Lithographien beisteuerte. Derartige bibliophile Großereignisse sind – zumindest im Hinblick auf die deutschsprachige Science-Fiction – unterdessen Geschichte. Aber als eBook lässt sich der Text ohnehin erheblich einfacher beschaffen.

Wolfgang Jeschke: Meamones Auge • Erzählung • Wilhelm Heyne Verlag, München 2015 • E-Book • € 1,99 • im Shop

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