26. Mai 2022 2 Likes

„The Department of Truth“: Das Ende der Welt

Keine Verschwörungstheorie: Der neue Comic von James Tynion IV und Martin Simmonds

Lesezeit: 4 min.

FBI-Ausbilder Cole Turner weiß über die wildesten Verschwörungstheorien Bescheid. Darüber, dass manche Menschen an eine flache Erde glauben, an einen Deep State und Reptilienmenschen in Amerika, an satanische Vorschullehrer mit einem Heißhunger auf Babys, an Barack Obamas kenianische Herkunft oder daran, dass Regisseur Stanley Kubrik die Mondlandung damals nur fürs Fernsehen inszeniert hat. Für Cole sind all diese verrückten Gedanken und Diskussionen, aus denen sich verblüffend viele Leute ihre Realität und das Bezugssystem ihres Lebens zusammenzimmern, nichts Neues. Doch nun findet er heraus, dass der intensive Glaube an manche dieser Verschwörungstheorien die Wirklichkeit tatsächlich umschreiben, letzten Endes eine alternative Realität erschaffen könnte. Als neuester Agent des Department of Truth von Lee Harvey Oswald (sic!) soll Cole mit seiner Partnerin Ruby genau das verhindern. Aber das ist, natürlich, ebenfalls nicht die ganze Wahrheit …

Jahrelang war James Tynion IV einer der Top-Autoren bei DC Comics, wo er sich um Batman, die Justice League und andere Ikonen kümmerte. Dann verkündete er Ende 2021 seinen Abschied, um sich ganz auf seine eigenständigen, unabhängigen Panel-Stoffe zu konzentrieren, nachdem er in diesem Bereich mit „The Woods“ und „Something is Killing the Children“ bereits beachtliche Erfolge gefeiert hatte. Tynion wurde eines der Aushängeschilder des ‚Substack-Booms’, als die Newsletter-Publishing-Plattform vor einigem Monaten als neues digitales Eldorado für Comic-Schaffende Schlagzeilen generierte. Allerdings konnte Mr. Tynion nun doch nicht widerstehen, für DC noch eine neue Serie in Neil Gaimans demnächst auf Netflix erblühendem „Sandman“-Universum zu realisieren, das heute sofort mit DCs ehemaligem Vertigo-Imprint assoziiert wird. In „The Sandman Universe: Nightmare Country“ widmet sich der 1987 geborene Tynion, der seine Comic-Laufbahn einst übrigens als Vertigo-Redakteur unter der großen Shelly Bond startete, dem gruseligen Korinther.

Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass Tynion sich auch mit seiner neuen eigenen Comic-Serie „The Department of Truth“, deren erster von Martin Simmonds gezeichneter Band „Das Ende der Welt“ bei Splitter auf Deutsch erschienen ist, ebenfalls ein Stück weit vor Vertigo verneigt, dessen Einfluss auf seine Karriere zugleich würdigt wie kanalisiert. DCs Label für erwachsene, kriminell gute und oft fantastische Genre-Stoffe brachte in den 1990ern und 2000ern nicht nur den US-Comic voran, sondern prägte mehrere Generationen Kreativer und Lesender. Laufende DC-Titel wie „Hellblazer“, „Swamp Thing“, „Doom Patrol“ und „Sandman“ wurden 1993 zum Start der Linie von Redakteurin Karen Berger bei Vertigo eingeordnet, Serien wie „The Invisibles“, „Preacher“, „Fables“, „Transmetropolitan“ und „DMZ“ erwiesen sich über die folgenden Jahrzehnte als unvergessliche, teils revolutionäre Highlights des grafischen Erzählens.

„The Department of Truth“ hätte inhaltlich und optisch perfekt zu Vertigo gepasst, egal ob vor oder nach dem Jahrtausendwechsel. Dennoch ist die Serie von James Tynion und Martin Simmonds, der schon die „Dying Is Easy“-Comics von Horror-Superstar Joe Hill (im Shop) visualisierte und dessen kratzig-unangepasster Zeichenstil an Duncan Fegredo, Bill Sienkiewicz und Ben Templesmith erinnert, durch und durch ein Comic für unsere Zeit. Denn ob Corona-Pandemie, der Trumpismus und der Sturm des Kapitols in Washington oder jetzt der Krieg in der Ukraine: Fake News, alternative Fakten, Querdenken, Verschwörungstheorien, Propaganda und ganz allgemein die Verzerrung von Wahrheit und Wirklichkeit sind überall um uns herum, auf allen möglichen Kanälen. Wer die Macht, die Mittel, die Plattform oder schlicht das Publikum hat, dichtet sich sein eigenes Narrativ und manipuliert damit die Realität.

Und genau darum geht es in diesem starken ersten Band von „The Department of Truth“, das mit seinem überspitzten Blick auf ein sehr reales, sehr präsentes Thema bzw. Problem unterhält, fasziniert und erschreckt. Einerseits erzählt Tynion eine coole Geheimagenten- und Verschwörungs-Geschichte, anderseits bohrt er mit dem Finger in einer tiefen Wunde des Zeitgeists und des Weltgeschehens. Simmonds fängt die Stimmung, die Bedrohlichkeit und die Unbehaglichkeit von all dem in seinen Bildern hervorragend ein. Wer Tynion nicht mehr bis zum Schluss nach Gotham City folgte, noch nie im Traumland war oder „Something is Killing the Children“ nicht kennt, wird vom Auftakt von „The Department of Truth“ überrascht und umgehauen werden. Tynion und Simmonds legen einen der Comics des Jahres 2022, aber eben auch den Comic für das Jahr 2022 vor.

Zum Abschluss noch eine erfreuliche Wahrheit, die demnächst ganz einfach zur Realität werden dürfte: Der zweite deutschsprachige Band ist bereits für Oktober angekündigt.

Abb.: The Department of Truth is ™ and © 2021 James Tynion IV & Martin Simmonds / dt. Ausgabe Splitter Verlag

James Tynion IV, Martin Simmonds: The Department of Truth Bd. 1: Das Ende der Welt • Splitter, Bielefeld 2022 • 144 Seiten • Hardcover: 22 Euro

 

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