Die geheime Super-Geschichte der Welt
Warren Ellis’ und John Cassadays „Planetary“ als US-Gesamtausgabe
Elijah Snow kontrolliert die Kälte. Jakita Wagner ist schnell und stark wie kaum jemand sonst. Und der Drummer kann jedes digitale Informationssignal auslesen und jedes Gerät beeinflussen. Zusammen sind sie Planetary und den historischen Geheimnissen einer Welt auf der Spur, die sich am 1. Januar 1900 mit der Geburt mehrerer Superwesen drastisch veränderte. Einer Welt, die Teil eines gewaltigen, faszinierenden Multiversums ist. Und einer Welt, die sich abermals wandelt, als vier Individuen im Weltall mit außergewöhnlichen Fähigkeiten ausgestattet werden und nach ihrer Rückkehr die Geschicke der Menschheit im Verborgenen beeinflussen, und das alles andere als zum Guten. Das tun diese sinister-fantastischen Vier solange, bis Snow das Puzzle zusammensetzt und entschließt, mit allen Mitteln dafür zu sorgen, dass die Welt trotz allem genau der seltsame und staunenswert merkwürdige Ort bleibt, der sie immer gewesen ist. Oder simpel ausgedrückt: „It’s a strange world. Let’s keep it that way.“
Der heute nicht mehr besonders wohlwollende Comic-Gott Alan Moore lobte „Planetary“ einst in höchsten Tönen, und tatsächlich ist über die Jahre niemand Moores Œuvre so nah gekommen wie Moores nicht minder bärtiger Landsmann Warren Ellis in „Planetary“, einem seiner wichtigsten Werke als Comic-Autor, das in den USA vor Kurzem in einer mächtigen überformatigen Hardcover-Gesamtausgabe gesammelt wurde. In seinem Ausnahmecomic zwischen Pulp-Literatur, Science-Fiction und Superhelden verbindet Ellis getreu seiner persönlichen Vorlieben Hard-SF, den Superhelden-Urknall im Marvel-Universum durch die Fantastischen Vier im Jahr 1961 und Philip José Farmers Wold Newton Universum – und verpasst ihnen allen ein Update und einen neuen Kontext. Neben atemberaubenden Ideen gibt es daher gelungene Neuinterpretationen von Tarzan, Sherlock Holmes, dem Hulk, Green Lantern, Superman, dem Lone Ranger, Doc Savage oder Jule Vernes „Von der Erde zum Mond“.
Hinzu kommt, dass Ellis von 1999 bis 2009 in fast 30 Kapiteln eine einzige große Geschichte mit Reisen durch Raum und Zeit, exotischen Alien-Welten, Aborigine-Mythen, mikroskopischen Sphären und vielem mehr erzählt, aber trotzdem den Wert des einzelnen Kapitels bzw. Heftes und ganz allgemein des komprimierten Comic-Storytellings niemals aus den Augen verloren hat (in „Fell“, „Global Frequency“ und anderen Werken sollte Ellis, dessen neue „Moon Knight“-Serie für Marvel gerade mit einer verkauften Erstauflage von 70.000 Exemplaren des ersten Heftes startete, diesen Gedanken konsequent verfolgen). „Planetary“ ist formal also genauso reizvoll wie inhaltlich, und wenn man die Serie noch einmal oder gar zum ersten Mal am Stück liest, wird umso deutlicher: „Planetary“ ist etwas Besonderes.
Abgerundet wird die amerikanische Neuauflage durch ein Nachwort von Joss Whedon und die drei Crossover „Planetary/JLA“, „Planetary/Batman“ und „Planetary/The Authority“, die Ellis allesamt geschrieben hat. Das Treffen mit verschiedenen Inkarnationen des Dunklen Ritters gestaltete abermals der damals noch weitgehend unfehlbare John Cassaday, die beiden anderen Auseinandersetzungen zeichneten der oldschoolige Jerry Ordway und der umtriebige Phil Jimenez.
Superhelden neigen dazu, immer wieder dieselbe Geschichte aufzubereiten, und das ist irgendwo in Ordnung und letztlich Teil ihrer Matrix und Struktur. Dass es auch anders geht und dann zu neuen Höhenflügen und Wahnsinnsgeschichten zwischen den Genres führen kann, hat Warren Ellis mit „The Authority“ und eben mit „Planetary“ eindrucksvoll bewiesen. Auch nach all den Jahren liest sich „Planetary“ in konzentrierter Form noch sagenhaft gut und bestätigt seinen Anspruch als eines der Superhero- und SF-Comic-Highlights der Moderne.
Das ist sicher kein Geheimnis mehr, für dessen Bergung man Elijah Snow und Co. bräuchte, sollte aber dennoch niemanden davon abhalten, diese Serie immer wieder auszugraben und Ellis’ hervorragenden interdisziplinären Remix zu genießen.
Warren Ellis (Autor), John Cassaday (Zeichner): The Planetary Omnibus • DC Comics, New York 2014 • 864 Seiten • $75,00
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