„The Billion Dollar Code“ – Wer hat’s erfunden?
Eine deutsche Netflix-Serie versucht sich an einer „Social Network“-Variante
Erst vor zwei Monaten kam der Dokumentarfilm „Alles ist Eins, außer der 0“ ins Kino, ein bemerkenswertes Porträt der Anfänge des Computerzeitalters und des Chaos Computer Clubs. Auch die nun veröffentlichte Netflix-Serie „The Billion Dollar Code“ beginnt in jenen Jahren des Aufbruchs, versucht eine Zeit zu evozieren, in denen die Möglichkeiten der Technik, vor allem des Internets noch im Dunkeln lagen und die Programmierer- und vor allem Hacker-Szene noch von Idealismus geprägt war.
Doch der von Oliver Ziegenbalg erdachte, von Robert Thalheim inszenierte Vierteiler beginnt Mitte der Nuller Jahre in kalten Büroräumen, bei einer Vernehmung. Die inzwischen älteren Juri Müller (Mišel Matičević) und Carsten Schlüter (Mark Waschke) werden unabhängig voneinander über die Entwicklung von Terravision verhört, einer Software, die es ermöglichte, schwerelos um die Welt zu fliegen, sich den eigenen Wohnort von oben anzuschauen und hineinzuzoomen. Hört sich wie Google Earth an? Genau das ist der Punkt, den die Serie zu machen versucht. Angeblich war es das in Berlin ansässige Duo, dass als einzige auf diese Idee gekommen ist, die sie dann – dem Hacker-Ethos folgend, dass alle Daten frei sein und der Allgemeinheit dienen sollten – teilten und nicht monetarisierten. Doch die Zeiten änderten sich, gerade amerikanische Programmierer wie Brian Anderson (Lukas Loughran) rochen plötzlich das große Geld, klauten Idee und Source-Code und die Deutschen schauten blöde aus der Wäsche.
Jahre später verklagen sie Google wegen einer Patentverletzung, und wer hier an David Finchers Meisterwerk „Social Network“ denkt liegt nicht falsch. Dezidiert wollten Ziegenbalg und Thalheim eine Geschichte aus der anderen Perspektive erzählen, also im Falle von Facebook von den Winklevoss-Zwillingen, die sich um ihre Idee betrogen sahen.
Doch der Vergleich zu Terravision/Google Earth beginnt schon dadurch zu hinken, dass es das Duo Müller/Schlüter in der hier erzählten Form nie gegeben hat. Mindestens vier Programmierer führten die auch heute noch existierende Berliner Firma ART+COM an, der sich in der Serie entwickelnde ideologische Konflikt zwischen den beiden Figuren ist rein fiktiv und allzu sehr bemüht, das Facebook-Duo Mark Zuckerberg/Eduardo Saverin zu spiegeln. Beziehungsweise das Duo, wie es sich Aaron Sorkin ausgedacht hat, schließlich überspitzte auch der amerikanische Starautor die Realität, um etwas Universelles zu erzählen, um zu zeigen, wie sich der einstige Idealismus auflöste, je mehr Geld ins Spiel kam.
Ein legitimer Ansatz, den auch Ziegenbalg und Thalheim gut zwei Folgen lang überzeugend variieren, zwar mit etwas zu vielen Klischees über die Aufbruchstimmung der Berliner 90er Jahre, geprägt von den üblichen illegalen Clubs und baufälligen Gebäuden. Zunehmend wird „The Billion Dollar Code“ jedoch zu einem Gerichtsdrama, will erzählen wie Schlüter und Müller vor einem Gericht im amerikanischen Delaware zu beweisen versuchten, dass ihr Patent gestohlen wurde.
In der Realität ging der Prozess krachend verloren, denn Google argumentierte, dass schon lange vor Terravision das amerikanische Militär an einer praktisch identischen Software arbeitete, mit der man sich aus der Vogelperspektive in Landkarten hineinzoomen konnte und dass dies das eigentliche Vorbild von Google Earth war.
Manche Ideen liegen eben auf der Hand und werden unabhängig voneinander entwickelt, doch diese alte Wahrheit wäre wohl zu banal gewesen. Statt dessen sollen Müller/Schlüter zu visionären Genies stilisiert werden, die von Monitoren in Flugzeugsitzen bis zu Onlineshopping so ziemlich alles voraussahen, was kommen würden und zwar als Einzige. So wird „The Billion Dollar Code“ nach sehenswertem Beginn zunehmend banal und zeigt einmal mehr, dass deutsche Filmemacher gerade wenn es um Computer und das Internet geht, ihrem Publikum leider so gar nichts zutrauen.
Abb.: Netflix
The Billion Dollar Code • Deutschland 2021 • Creator: Oliver Ziegenbalg, Robert Thalheim • Darsteller: Mark Waschke, Mišel Matičević, Leonard Scheicher, Marius Ahrendt, Lavinia Wilson • vier Folgen jetzt auf Netflix
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