10. Februar 2021

„Call of the Sea“: Lovecraft mal anders

Das fesselnde Adventure-Debüt von Out of the Blue verfolgt einen angenehm unverbrauchten Ansatz

Lesezeit: 4 min.

Schon das Storymotiv von Call of the Sea (bereits im letzten Dezember für PC sowie Xbox One und Xbox Series X zum Preis von rund 20 Euro erschienen) mutet zunächst unaufgeregt und geradezu geerdet an: Geplagt von einer unheilbaren Krankheit, steht es schlecht um Norah Everheart. Doch ihr Mann Harry will nichts unversucht lassen, seine Frau zu retten, und begibt sich auf eine Expedition zu einer Insel im Südpazifik, da es dort angeblich Hinweise auf ein Heilmittel gibt. Als jedoch Norah in England über längere Zeit keine Nachricht mehr von Harry erreicht, begibt sie sich selbst auf die Insel, um sowohl ihren Gatten zu finden als auch unerwarteterweise ihre eigene Krankheit näher zu ergründen. Und das ausschließlich mit Notizbuch und ihrem eigenen Verstand „bewaffnet“ – zwei Dinge, die Norah auf ihrem Weg durch die mit Rätseln und Hindernissen gespickte Insel bei Tahiti ständig brauchen wird.

Eine Frau ohne Waffen auf einer geheimnisvollen Insel? Was nach dem üblichen Schema zahlreicher Mystery- und Horrortitel klingt, entpuppt sich im Fall von Call of the Sea als einer der ungewöhnlichsten Adventure-Ausflüge der letzten Jahre. Denn obwohl sich das spanische Studio von Out of the Blue klar beim Werk von H.P. Lovecraft bedient, folgt das Spiel nicht dem damit oft vorgegebenen Weg einer Hauptfigur in den Wahnsinn. Im Verlauf der Schnitzeljagd über das Tropenparadies entwickelt Norah vielmehr eine überraschend ungewöhnliche, ja geradezu rational gefasste Haltung zu dem, was ihr widerfährt, sodass der zunehmende Grusel um sie herum erstaunlich polyvalent und dennoch in sich stimmig erscheint. In den insgesamt sechs Kapiteln dringen wir bis tief ins dunkle Herz der Insel vor und die Referenzen speziell auf Lovecrafts Cthulhu-Mythos werden immer deutlicher, ohne uns mit Monsterbegegnungen oder gar Kämpfen aus Norahs Weg zur Selbstfindung herauszureißen.

Unsere Heldin steuern wir dabei aus der Ego-Sicht, wobei sich uns zunehmend komplexe Schalter- und Schieberätsel um Drehscheiben, Stromgeneratoren oder verschlossene Pforten in den Weg stellen. So finden wir heraus, dass Harry und seine Crew einem gefährlichen mythischen Ritual auf die Schliche kam, was auch das Verschwinden der Männer und das Zurückbleiben ihrer Ausrüstung erklären könnte. Auch hier verweigern sich die Macher einem zu offensichtlichen Schauerrepertoire oder gar plumpen Jump Scares und setzen uns eine dezent schwarzromantische, von Norah stets gefasst und mit viel Empathie kommentierte Atmosphäre vor die Nase. Die Story hält sich dabei knackig kurz und ist in gut sieben bis acht Stunden durchgespielt; vorausgesetzt natürlich, man knobelt nicht zu lange an so manchem Rätsel herum.

Das kann nämlich bei Call of the Sea immerhin an ein paar Stellen durchaus passieren, denn das Gameplay verzichtet leider auf die in zeitgenössischen Adventures übliche Funktion optionaler Hilfestellungen. So wissen wir trotz sehr gut (und automatisch) geführtem Tagebuch von Norah nie genau, ob wir beispielsweise schon alle zur Lösung eines Rätsels nötigen Hinweise aufgespürt oder richtig verstanden haben und erhalten auch nicht zusätzliche Tipps, die wir etwa auf Knopfdruck selbst anwählen könnten. Dieses Manko federt die Entwickler leicht ab, indem sie uns meist mit Aufgaben konfrontieren, die wir ohne langes Herumlaufen direkt an einem Objekt (wie z.B. einer Schalttafel) bewältigen müssen. Auch nicht schlecht: Die Rätsel sind insgesamt sehr abwechslungsreich gestaltet und verlangen von uns häufig eher kombinatorische Fähigkeiten, wie das Entschlüsseln von Symbolketten, und kaum das frustrierende Suchen nach bestimmten Schlüsselkomponenten ohne Hinweis auf deren Aufenthaltsort.

Ein großes Kompliment muss man den Machern aber vor allem für ihre zwar sehr lineare, dennoch höchst gelungene Umsetzung einer einsamen, aber eben nicht leblosen Insel aussprechen. Bis auf wenigen Tieren und der reichhaltigen Pflanzenwelt, begegnen wir keinen weiteren Lebewesen auf der Insel und führen ausschließlich Selbstgespräche. Genau das trägt allerdings dazu bei, sich auf Norah zu fokussieren und sich ebenso von der grandios umgesetzten Lichtstimmung, den Wetterwechseln und der überhaupt ungemein pittoresken Grafik in den Bann ziehen zu lassen. Dazu passt sich die nur sehr spärlich eingesetzte Musik, die gute (englische) Vertonung Norahs (wobei die Menüs und Untertitel auf Deutsch verfügbar sind) sowie die insgesamt solide technische Umsetzung ohne gravierende Mängel (wir spielten auf PC). Ein Trip also, der sich definitiv lohnt.

Fazit

Getragen von seiner tiefgründigen Protagonistin und einem überraschend unkonventionellen Lovecraft-Ansatz, begeistert das Puzzle-Adventure (fast) auf ganzer Linie.

Call of the Sea • Out of the Blue • Mystery-Adventure • PC/Xbox Series X/Xbox One

Abb. © Raw Fury

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