5. November 2019 2 Likes

„Was kann das Wesen eines Menschen ändern?“

„Planescape: Torment“: Das Rollenspiel für Rollenspieler

Lesezeit: 8 min.

Es ist kaum vorstellbar, aber Mitte der 90er drohte eines der gigantischsten Genres der Videospielgeschichte auszusterben, das heutzutage sogar in Egoshootern, Autorennspielen und gar Strategiespielen Anleihen findet: Das Rollenspiel. Während in den 80ern Pen-&-Paper-RPGs und legendäre Reihen wie „Ultima“ Herzen eroberten, sah das Trashpop-Jahrzehnt deutlich düsterer aus, als sich westliche PC-Entwickler mit der aufkommenden CD wachsenden Grafiksprüngen überfordert sahen und der Innovation nicht Herr wurden. Fighting-, RTS- und Adventure-Games eroberten den Markt und es wurde totenstill um das Rollenspiel. Ende der 90er sollte jedoch noch eine Welle losgebrochen werden, die bis heute nicht abebbt. Mit „Diablo“ feierten Blizzard Ende 1996 einen bis heute anhaltenden Erfolg, während im Staffellauf „Fallout“, „Baldur’s Gate“ und diverse Nachfolger folgten, die immer noch zu den besten Rollenspielen aller Zeiten zählen. Unter diesen Diamanten befindet sich auch ein gänzlich einzigartiger Titel mit Namen „Planescape: Torment“. Auf dem Gerüst der isometrischen Infinity-Engine, die eigens von Bioware für „Baldur’s Gate“ entwickelt wurde, im Setting der Advanced-Dungeons-And-Dragons-Welten – der sogenannten Ebenen – und einer schier wahnwitzigen Anzahl an Textpassagen erschlug „Planescape: Torment“ den geneigten Gamer, halt, ja gar Leser. Aber lobpreiset den, der sich von der gewaltigen Buchstabenflut nicht unterkriegen ließ. Dieser Auserwählte sollte eines der besten Rollenspiele der Moderne vorfinden, das auch nach heutigen Maßstäben in gewissen Aspekten immer noch Giganten wie die „Witcher“-Serie in den Schatten zu stellen vermag.

Der Spieler schlüpft in die Rolle des Namenlosen, der an einer akuten Amnesie leidet, während er in den Leichenhallen Sigils schläft und prompt vom schwebenden Plapper-Schädel Morte geweckt wird. Dieser macht ihn aufmerksam auf den eigenen, tätowierten Körper, der mit tintigen Instruktionen einer früheren Inkarnation des Namenlosen aufwartet und den Spieler auf die Suche nach dem eigenen Tagebuch und einer Person namens Pharod schickt. Schnell stellt sich jedoch heraus, dass das bei Weitem noch nicht alles ist, womit der Namenlose zu kämpfen hat. Denn so schön und gut es auch auf dem Papier klingen mag, so beängstigend ist der Gedanke: Der Namenlose ist unsterblich – und komme was wolle – erwacht nach seinem Ableben erneut in der Leichenhalle. Und auf dem Weg, die eigene Unsterblichkeit zu ergründen, wird schnell klar, dass dies dem Namenlosen wohl etliche Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte bereits immer wieder passierte und frühere Inkarnationen – mal gutherzig, mal paranoid, mal größenwahnsinnig – ihre Spuren im Lande Sigils und den Ebenen hinterlassen haben.


Eine schwangere Wand, der wir helfen müssen? In „Planescape“ ganz normal

„Planescape: Torment“ stammt aus der Feder der RPG-Legende Chris Avellone („The Outer Worlds“) und entstand in den heiligen Hallen der Black Isle Studios und erschien zunächst 1999 für den PC, 2017 als Enhanced Edition für den PC, Android, Linux und iOS und schließlich am 15. Oktober 2019 für Nintendo Switch, XBox One und PS4 in einem Doppelpack mit „Icewind Dale“. Zu Beginn kreiert der Spieler den Namenlosen und wählt zwischen den genretypischen Attributen wie Stärke, Ausdauer, Konstitution, Intelligenz, Charisma und Weisheit. Dass es sich bei „Planescape“ jedoch um ein ganz besonderes Spiel seiner Gattung handelt, verdeutlicht bereits der Fokus auf die Attribute. Seien wir einmal ehrlich: Welches Attribut ist für den Spieler eines RPGs augenscheinlich das zu vernachlässigendste? Na? Ich wette, die meisten werden „Weisheit“ sagen. Wehe dem, der Weisheit bei „Planescape: Torment“ unterschätzt, denn hier stellen sich Intelligenz, Charisma – und allen voran Weisheit – als die wichtigsten Attribute heraus. Nicht nur bietet Weisheit zusätzlichen Erfahrungsbonus, sondern eröffnet in fast jedem Dialog mit einem der endlos vielen NPCs diverse Möglichkeiten, die den Narren dieser Welt verborgen bleiben. So lassen sich nicht nur die meisten Kämpfe umgehen, sondern eröffnen völlig neue Quests oder Belohnungen. Zu sagen, dass „Planescape: Torment“ ein dialoglastiges RPG sei, ist beinahe untertrieben. So mancher spricht schon von einer spielbaren Novelle. Und genau hierin liegt der erstmal zu beackernde Reiz des Abenteuers. Bei „Planescape: Torment“ handelt es sich um wohl eines der cleversten RPGs, mit wahnwitzigen Dialogen, endlosen Möglichkeiten der eigenen Gestaltung der Figur und einer tiefschürfenden Story um das Sein, den Kern des Menschens und um fehlgeleitete Reue.


Jeder auch noch so kleine Raum ist liebevoll designt und handgemalt

Während man zu Beginn der meisten RPGs die eigene Gesinnung der Figur festlegen muss, ist sie in „Planescape“ ein wandelbarer, lebendiger Organismus, der sich stets nach Wahl der Antworten in den Dialogen verändert. Startet man zuerst mit echter neutraler Gesinnung, verändert sich diese schnell zu chaotisch, böse, rechtschaffen oder gut, je nach Verhalten des Spielers. Die eigene Gesinnung hat aber auch weitreichende Auswirkungen auf das Multiversum Planescapes. So schließen sich unter Umständen diverse Begleiter der Gruppe nicht an oder es können gar bestimmte Items nicht eingesetzt werden. Darüber hinaus, und womöglich noch viel schlimmer, bleiben bestimmte Questwege versperrt, die NPCs Sigils reagieren in Gesprächen anders oder verweigern sogleich den Zutritt zu den diversen Fraktionen. „Planescape“ lässt sich weitestgehend gewaltfrei lösen und beinahe jede Quest bietet eine Vielzahl an Lösungsmöglichkeiten – wenn man die richtigen Attribute oder auch Entscheidungen in Gesprächen trifft. Spiele wie „Witcher 3“ rühmen sich mit großen ungeahnten Konsequenzen bei jeder Quest, jedoch ist das schlicht und einfach eine Tugend, die in den letzten 15 Jahren bei den meisten RPGs wieder verloren ging. Es ist in „Planescape“ gut möglich, ohne eigenes Wissen, bestimmten Leuten auf den Schlips zu treten, während man als der Namenlose mit seinen Kumpanen im Schlepptau Quests löst. Beispielsweise verlangen eine der heimischen Fraktionen, die Göttermenschen, eine ganze Liste an abzuarbeitenden Quests um ihnen beizutreten. Während des Questverlaufs wird man jedoch im heimischen Quartier der Fraktion von einer dort eingeschleusten Anarchistin, einer weiteren Fraktion Sigils, abgeworben. Nun steht es einem frei, die Anarchistin den Göttermenschen auszuliefern, oder ihre Forderungen zu erfüllen. Am Ende winken die Belohnungen der und Zutritt zur Anarchistenfraktion. Im späteren Verlauf des Spiels gewinnen die Göttermenschen jedoch nochmals an Wichtigkeit und je nach früherer Entscheidung, wird hier ein Fortkommen nicht mehr möglich sein – und somit brechen komplette Storyfäden und Quests ab – ohne, dass der Spieler davon überhaupt weiß.


Das Spiel wartet mit schweren Dialogen auf – gerade wenn es große Metallmänner betrifft

Ein weiteres, kleines Beispiel: Dem Spieler wird eine verfluchte Box überreicht, die allen Besitzern immenses Unglück brachte, was natürlich erst nach Übergabe bekannt wird. Nun steht es dem Spieler frei, eine lange Questreihe zu beginnen, die zum Ursprung der Box führt und bei einem hilfreichen Magier endet, der einen darin eingesperrten Dämonen in eine andere Dimension verbannt. Oder, der Spieler öffnet die Box, findet darin einen begehrten Edelstein vor (der in einer anderen Quest nützlich wird) und stellt sich einem bösen Geist, der entweicht. Oder man verlässt schlicht und einfach die Stadt Sigils, und die Box vernichtet sich selbst. Der darin befindliche Dämon wird aber, wie im Falle der vollständig beendeten Questreihe, sich zu deutlich späterer Stunde gegen Ende des Spiels dem Namenlosen plötzlich in den Weg stellen. Nicht nur das Multiversum „Planescape: Torments“ lebt in Synergie, sondern die im Spiel befindlichen Gruppierungen und Questreihen ebenso, die sich von Spieler zu Spieler völlig unterscheiden können. Das hier inhärente Problem „Planescapes“ ist schlicht und einfach, dass dem Spieler, der sich nur einmal in die Welten Sigils wagt, die immense Vielfältigkeit, mit der das Spiel aufwartet, nicht bewusst wird, da es diese nicht unbedingt sofort vermittelt. Dabei wird ein bösartiger Spieler, der den Fokus auf die Dieb-Klasse legt und die Attribute auf Ausdauer und Intelligenz legt, ein völlig anderes Spielerlebnis haben als ein neutral-gesinnter Magier. Heutzutage sind es Spieler gewöhnt selbst in Dialogwahlmöglichkeiten bereits eine Andeutung davon zu bekommen, wie sich eine Wahl auswirken könnte. Im Falle von „Planescape“ ist dem nicht so. Bemerkbar machen sich die gewaltigen Spielverlaufsunterschiede erst wirklich, wenn man „Planescape“ tatsächlich ein zweites oder drittes Mal spielt – und wirklich lieben lernt.

Ebenso entscheidend ist die Wahl der Gefährten. Neben dem Namenlosen lassen sich bis zu fünf – von sieben wählbaren – Begleitern rekrutieren und mit auf die Suche nach dem eigenen Schicksal führen. Vom Plappermaul Morte, über den Gith-Krieger mit der verwobenen Vergangenheit, Dak’kon, bis hin zu dem robotischen Konstrukt Mordon – alle Gefährten sind weitaus mehr, als es ihr zunächst stereotypischer Blick erahnen lässt. Dabei kann man bereits Stunden damit verbringen, jeden der Gefährten bloß nach der eignen Geschichte, der ihres Volkes, oder nach den eigenen Prinzipien auszufragen. Allgemein hin gilt: Jeder noch so auffällige oder unscheinbare NPC in der Welt „Planescapes“ wartet mit einer liebevoll inszenierten Geschichte auf, mal lustig, mal tragisch oder manchmal gar episch und poetisch. Sei es der schwebende, in Flammen gehüllte Untote in der naheliegenden Kneipe, oder eine kreischende Frau, die Angst vor Türen und Portalen hat. Wie im echten Leben, muss man einfach eine Weile zuhören.

Das Kampfsystem entstammt dem Regelwerk des „Dungeons & Dragons“-Rollenspiels, das, wie im Falle von „Baldur’s Gate“ für den Spieler unsichtbare 20-seitige Würfelwürfe simuliert und so den Schaden, Trefferrate und Zufallsquotienten bestimmt, ob eine Tat gelingt oder nicht. Ganz wie im Pen-and-Paper, nur ohne Stift, Zettel und Würfel. Darum kann es gerade für Neulinge etwas überfordernd sein, herauszufinden, wie die Rüstungsklasse genau funktioniert, was nun Stärke 18 oder Stärke 18/50 bedeutet, oder was zum Teufel dieses ständig erwähnte THAC0 ist. Andererseits funktioniert das Spiel tatsächlich, durch die starke Dialoglast, auch ohne ein Verständnis des Kampfsystems. Je nach Spielweise, selbstverständlich.


Eines der Highlights ist das stets zufällig generierte und versteckte Modron-Roboter-Labyrinth

Die Portierung eines Spiels, das eigentlich jahrzehntelang nur per Maus und Tastatur gesteuert wurde, gelingt überraschend gut. Per Schultertasten lassen sich Kreismenüs mit Inventar, Zauberbuch, oder dem Charakterbildschirm aufrufen und per Schnellspeichertaste Items oder Zaubersprüche nutzen. Per Tastendruck lässt sich das Kampfgeschehen jederzeit einfrieren, um in aller Ruhe Kampfbefehle zu erteilen, die nach Beendigung der Pause direkt ausgeführt werden. Mit L1 und R1 wechselt man auf der PS4 zwischen den Gefährten hin und her und mit einem Druck beider Tasten wird die ganze Gruppe ausgewählt. Mit dem linken Stick steuert man die Figur, während es auch einen Taktikmodus gibt, der einen Mauszeiger simuliert, wenn es mal etwas genauer sein soll. Das einzige Problem, bei dem die Portierung aktuell noch sehr hinterherhinkt, sind wiederkehrende Abstürze. Diese häufen sich, wenn man Händlerbildschirme betritt, oder auch nach längeren Spielsessions. Ebenso gibt es noch einen wiederkehrenden Bug, der den Spieler daran hindert, das spielnotwendige Kreismenü aufzurufen. Davon lässt sich aber alles durch ein übliches Neuladen des Speicherstandes oder Neustarten des Spiels lösen, was häufig nur wenige Sekunden benötigt.

Spielerisch ist „Planescape: Torment“ dahingehend nicht gut gealtert, indem es den Spieler nur schwerlich an der Hand führt und viel Einarbeitungszeit erfordert. Wenn man jedoch bereits mit „Baldur’s Gate“ oder den ersten beiden „Fallouts“ betraut ist, ist dies kein Hindernis. Dafür wird man mit einem der besten RPGs aller Zeiten belohnt, das dem Spieler nicht nur auf eine grandios geschriebene Geschichte schickt, sondern jedem den ganz beliebigen Spielstil überlässt – und davon rein reaktiv keinen Spieler zu kurz kommen lässt. Jeder Spielstil und jede Entscheidung hat immense Folgen, die aber alle in einem vollendeten Spiel enden. Wer sich diesen verlorenen Schatz all die Jahre entgehen lassen hat, oder davon schlicht und einfach nicht wusste, darf sich nun eines Besseren belehren und es im Doppelpack mit dem CRPG-Klassiktaktiker „Icewind Dale“ holen. „Planescape: Torment“ und „Icewind Dale“ sind seit dem 15. Oktober 2019 in dem Enhanced-Edition-Doppelpack für Nintendo Switch, XBox One und PS4 erhältlich.

Planescape: Torment/Icewind Dale Enhanced Edition • Black Isle Studios/Beamdog/Skybound Games • RPG • Nintendo Switch/XBox One/PS4

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