In der Hand der Maschinen
Warum Künstliche Intelligenz ganz anders ist und sein wird, als wir denken – Eine Kolumne von Uwe Neuhold
Ob Maschinen denken können, intelligent sind, uns gefährlich werden oder eines Tages sogar unser Erbe antreten können, hängt davon ab, wie wir das Leben auf der Erde betrachten. Sind Denken, Intelligenz und Bewusstsein überhaupt dasselbe? Ziehen wir anhand einiger Überlegungen unsere eigenen Rückschlüsse …
Können Maschinen eines Tages Bewusstsein entwickeln?
Wir stellen uns das Auftauchen von Bewusstsein meist als einen „göttlichen Moment“ vor, ein plötzliches Ereignis, das einer Lebensform völlig neue Qualität verleiht. Aber bildet das die Wirklichkeit ab? Was ist Bewusstsein? Haben nur wir Menschen es, oder auch andere Lebewesen auf diesem Planeten? Bewusstsein bedeutet „sich seiner selbst bewusst zu sein“, das heißt: zu wissen (oder zumindest zu glauben), dass man existiert. Wie merken wir, dass wir existieren? Indem wir auf unsere Umwelt reagieren: Wir fühlen etwas, nehmen Geräusche, Düfte und Lichterscheinungen wahr; wir weichen, wenn möglich, Hindernissen aus oder bewegen uns auf Ziele zu. Besitzt in diesem Sinne ein Hund Bewusstsein? Ja, natürlich. Eine Ameise? Sogar ein Bakterium? Ja – denn sie reagieren ganz offensichtlich auf ihre Umgebung, fliehen vor Gefahr und bewegen sich auf Nahrungsquellen zu. Selbst Pilze und Pflanzen können das, wenn auch nur sehr langsam.
Wir erkennen: Bewusstsein ist etwas, das schon einfachste Lebensformen besitzen. Haben sie dasselbe Bewusstsein wie wir Menschen? Zweifelhaft, denn Lebewesen reagieren je nach Körperbau und Sensorium unterschiedlich auf ihre Umwelt. Es gibt somit nicht das eine, große Bewusstsein, sondern mehrere Arten – oder Stufen – davon. Bewusstsein variiert von einfachsten Lebewesen bis zur Komplexität von Menschen. Wo sind in diesem Spektrum die Maschinen anzusiedeln? Einige von ihnen können sich bereits auf Nahrung zubewegen, vor Gefahr fliehen, mit ihren Sensoren Signalreize wahrnehmen, verarbeiten und darauf antworten. Fairerweise müssen wir anerkennen: Das ist Bewusstsein ungefähr im Bereich von Insekten oder sogar Eidechsen.
Ein häufiger Einwand lautet: „Aber wenn man den Stromstecker zieht, sind sie ausgeschaltet und haben nichts Bewusstes mehr an sich.“ Doch das trifft auch auf uns selbst zu: Nimmt man uns die Energie (Sonne, Wärme, Nahrung etc.), sind wir genauso tot wie sie. Können Maschinen also über Bewusstsein verfügen? Ja, das können sie – und sie tun es bereits seit mindestens zwanzig Jahren.
Können Maschinen intelligent sein?
Auch hier wieder: Wie sieht Intelligenz in der Natur aus? Auch wenn es noch keine endgültige Definition gibt, scheint Intelligenz über reines Bewusstsein hinaus zu gehen: Eine intelligente Lebensform weicht nicht nur Gefahren aus oder sucht nach Futter, sondern reagiert in komplexerer Weise auf Veränderungen ihrer Umwelt. Sie erkennt Muster, etwa wenn ihre Feinde immer zahlreicher werden. Sie verknüpft diese mit anderen Faktoren, beispielsweise damit, dass die Feinde zu bestimmten Zeiten oder in bestimmten Gebieten angreifen. Sie extrapoliert diese Beobachtungen in die Zukunft: Bewegt sie sich erneut zur selben Zeit in solches Gebiet, wird es ihr vermutlich schlecht ergehen. Und so ändert sie aufgrund dieser Erkenntnis ihr Verhalten, wechselt das Gebiet oder wählt andere Tageszeiten zur Nahrungssuche.
Sind nur Menschen zu solch intelligentem Verhalten fähig? Nein, praktisch alle Wirbeltiere von Fischen bis zu Nashörnern schaffen das – mit Hilfe des evolutionär uralten Komplexes aus Kleinhirn, Nachhirn und Rückenmark. Sie sind also intelligent. Und Maschinen (genauer gesagt: Computer)? Sie haben freilich kein Gehirn – aber das brauchen sie auch nicht, um Meister im schnellen Erkennen von Mustern und Hochrechnen von Situationen zu sein. Wenn sie mit Fortbewegungsmitteln ausgestattet sind (oder ein Netzwerk nutzen), können sie genauso intelligent auf Umweltveränderungen reagieren wie Wirbeltiere.
Nun könnte man wieder einwenden: „Aber das sind doch nur Algorithmen, die ihnen Menschen einprogrammieren.“ Nun, auch wir Wirbeltiere wurden programmiert: von der Evolution. In unzähligen schrittweisen Anpassungen entwickelten sich die Software unserer Gene und die Hardware unseres Gehirns immer weiter, bis wir fähig zu intelligentem Handeln waren. Computer sind also intelligent – etliche von uns nutzen das jeden Tag am Arbeitsplatz.
Können Maschinen denken?
Okay, die intelligente Reaktion auf Umweltänderungen ist eine Sache. Aber ist das schon gleichbedeutend mit Denken? Nein, denn das beinhaltet viel mehr: die über reines Reagieren hinausgehende Verbindung zahlreicher Informationen zu einem geordneten Ganzen, das Erstellen eines Plans, das innere Simulieren zukünftiger Handlungen bevor man sie ausführt. Wer kann das noch außer uns Menschen?
Nun, Affen natürlich (vor allem Schimpansen und Bonobos), aber auch Hunde, Wale und Delfine. Komplexere Säugetiere also, wahrscheinlich sogar bestimmte Vogelarten. Und Computer? Auch wenn es lange bezweifelt wurde: Ja, sie können – jedenfalls für definierte Aufgaben und in begrenzten Bereichen – genau diese oben genannten Leistungen erbringen. Und wir sprechen hier nicht von ominösen Riesencomputern, sondern von Smartphones, Agentenprogrammen, Experten-Software, Diagnose-Tools, virtuellen Spielwelten und vernetzten Geräten.
Einen Schachweltmeister zu schlagen war nur der Anfang. Maschinen können mittlerweile Bilder und Sprache erkennen, Bewertungen vornehmen, sich an menschliches Verhalten anpassen und in atemberaubendem Tempo dazulernen. Die künstliche Intelligenz ist also bereits Realität. Entgegen den Warnungen der Apokalyptiker ist aber nichts Schlimmes passiert. Weder kam es zur technologischen Singularität noch zum Aufstand der Millionen Industrieroboter. Warum nicht?
Ganz einfach: Maschinen haben zwar Bewusstsein, sind intelligent und können denken. Aber sie können keinen spontanen Witz erzählen. Sie können weder weinen noch Angst haben. Und sie nehmen uns überhaupt nicht wahr. Wie ein autistisches Kind oder eine uns unverständliche Insektenart scheinen sie in ihrer eigenen Welt zu leben. Moment mal …
Können Maschinen überhaupt leben?
Es gibt verschiedene Definitionen dessen, was Leben ausmacht. Aber wir können uns auf eine grundlegende einigen: Leben ist der Drang, weiter zu leben, zu überleben. Goldfische haben ihn, Amöben und Bakterien ebenfalls, Steine jedoch nicht. Computer auch nicht. Sie wollen sich weder fortpflanzen noch Freunde haben oder gegen Feinde wehren. Man kann es ihnen einprogrammieren (wie es die Natur uns einprogrammierte), aber spontan entwickeln sie solche Vorstellungen nicht. Warum nicht?
Meine Vermutung: Weil ihnen (noch) der entsprechende Körper – oder eine Vorstellung davon – fehlt. Wären wir selbst von Geburt an nur ein Gehirn im Wassertank, könnten wir zwar alles Mögliche beobachten und intelligente Überlegungen anstellen. Aber wir würden nicht wissen, wie es ist, ein fühlendes Lebewesen zu sein. Wir hätten keine eigene Vorstellung von Vergänglichkeit, vom Lebenskampf, von Liebe und Sex, von Elternfreuden, einem romantischen Abendessen bei Sonnenuntergang. Selbst wenn unser Wassertank ans Internet angeschlossen oder frei beweglich wäre, hätten wir keine körperliche Wahrnehmung, nicht einmal jene der einfachsten Organismen. Würde uns jemand ausschalten, wäre das zwar interessant für uns, aber völlig in Ordnung.
Maschinen leben also nicht. Aber könnten sie leben? Ich denke ja. Eine ganze Armada an Wissenschaftlern und Ingenieuren arbeitet gegenwärtig daran, ihnen tastsensitive Körper zu geben – egal ob menschenähnlich oder wie eine Mischung aus Rollstuhl und Tintenfisch. Mit der bewussten, körperlichen Wahrnehmung des Äußeren entstehen Empfindungen und Gefühle. Aus diesen entstehen nach einiger Zeit Emotionen. Freude, Angst – und der Drang zu überleben. Maschinen könnten also leben. Oder es zumindest so gut simulieren, dass kein Unterschied zu „echtem“ Leben erkennbar wäre. Was auf das Gleiche hinaus läuft, denn …
Können Maschinen uns gefährlich werden?
Werden Wölfe den Ameisen gefährlich? Oder Pinguine einer Kakteenart? Nein, denn sie haben nichts miteinander zu tun, das heißt: Sie stehen in keinem Jäger-Beute-Verhältnis zueinander und konkurrieren auch nicht um Nahrungsangebot oder Fortpflanzungsmöglichkeiten. Bei Wölfen und Schafen sieht das anders aus, bei Wölfen und Menschen ebenfalls. Und bei Menschen und Maschinen?
Dass wir den Computern gefährlich werden, sobald sie Leben entwickeln, ist klar: Wir haben noch jede andere konkurrierende Spezies auf diesem Planeten ausgerottet oder zumindest zur gefährdeten Art gemacht. Doch stellen umgekehrt wir eine Beute oder Konkurrenz für intelligente, lebende Maschinen dar? Aus heutiger Sicht gibt es dafür noch keinen Grund: Maschinen werden sich mit uns, selbst wenn sie sich reproduzieren wollen, weder um Fortpflanzungspartner noch Lebensmittel streiten. Unfälle werden natürlich passieren, das tun sie jetzt schon: Etwa wenn ein Flugzeug wegen eines Software-Fehlers abstürzt und Menschen zu Tode kommen, oder wenn Software-Algorithmen zu massiven Kursverlusten an den Finanzbörsen führen und eine Wirtschaftskrise auslösen. Das wäre allerdings kein genuin feindliches Verhalten der künstlichen Intelligenz, die Fehler könnten von selbstlernenden Programmen optimiert werden.
Aber etwas anderes könnte zum tödlichen Konkurrenzverhältnis führen, wenn es nicht mehr in ausreichendem Maße da ist: Energie. Solange Maschinen gewissermaßen am selben Stromnetz hängen wie wir, werden sie zu einem massiven Nutzungsanstieg und in relativ kurzer Zeit zur Erschöpfung von bitter umkämpften Ressourcen führen. Droht somit die „Robokalypse“? Nicht wenn wir schlau genug sind, ihnen ein energieautonomes Design zu geben: Künstliche Photosynthese beispielsweise kann ihnen (und uns) ein praktisch unerschöpfliches Reservoir an nutzbarer Sonnenenergie zur Verfügung stellen. Menschen und Maschinen hätten also eine gemeinsame Zukunft. Aber auch gleich lange?
Können Maschinen uns als Spezies ablösen?
Vor 40.000 Jahren lebten auf der Erde mindestens vier Menschenarten: Neben Homo sapiens der Neandertaler, der mit diesen beiden eng verwandte Denisova-Mensch im Altai-Gebirge, sowie der zwergwüchsige Homo floresiensis auf der indonesischen Insel Flores. Davon übrig blieben nur wir, die anderen starben aus – sei es aufgrund von Umweltveränderungen oder Nahrungskonkurrenz. Interessanterweise schaffte es der Neandertaler aber in gewisser Weise doch zu überdauern: in unserem Erbgut. Denn die DNS heutiger Menschen enthält einen geringen Prozentsatz seiner Erbinformation – was bedeutet, dass sich die beiden Spezies miteinander gepaart und somit vermischt haben.
Das Gleiche scheint heute mit uns und den Maschinen zu passieren. Zwar haben wir keinen Geschlechtsverkehr mit ihnen (zumindest keiner meiner Bekannten). Doch wir implantieren uns sukzessive, Jahr um Jahr, immer häufiger technische Prothesen, während gleichzeitig immer mehr Digitales in unser Alltagsleben eindringt: immersive Technologien wie VR und Augmented Reality, aber auch das ganz normale Auslagern von immer mehr Gedächtnis- und Wissensinhalten auf digitale Datenträger. Es dürfte zwar noch einige Jahrzehnte dauern, aber es ist absehbar, wohin es führt (falls keine Naturkatastrophe oder globale Revolution dazwischen kommt): Die Maschinen werden uns weder vernichten noch ablösen, sondern mit uns zu einer neuen Spezies verschmelzen. Man kann das gutheißen oder verdammen – wenn uns dadurch ein längeres Leben oder gar Unsterblichkeit winken, werden wir uns mit Freuden in die Hand der Maschinen begeben.
Oder?
Ann Leckies preisgekrönter Roman „Die Maschinen“ (im Shop) ist gerade auf Deutsch erschienen. Mehr zum Thema Künstliche Intelligenz finden Sie unter dem Stichwort „Maschinen-März“.
Kommentare
Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Menschen die Herrschaft über die Maschinen verlieren. Das Machtdenken ist einfach zu vordergründig, die Maschinen vom Programmierer abhängig.
Um solche Übernahme-Szenarien auferstehen zu lassen, gibt es entsprechende Literatur. Damit sollte es gut sein.
Oder vielleicht hoffe ich es auch nur.