4. Oktober 2022 5 Likes

From Hell

Exklusiv: Eine Gratis-Story aus Dmitry Glukhovskys „Geschichten aus der Heimat“

Lesezeit: 24 min.

In wenigen Tagen erscheint Dmitry Glukhovskys Erzählband Geschichten aus der Heimat(im Shop vorbestellen). In insgesamt zwanzig Storys gibt uns der Autor des Bestsellers „Metro 2033“ (im Shop) schonungslose Einblicke in die russische Gesellschaft und zeigt auf, welche Abgründe sich in Putins Weltreich auftun. In „From Hell“ ist dieser Abgrund wörtlich zu verstehen: Ein Geologe macht eine schier unfassbare Entdeckung mitten in Sibirien – und muss zu seinem Entsetzen feststellen, dass Gazprom schon vor ihm davon gewusst hat …

 

——————————–

FROM HELL

 

»Michail Semjonowitsch! Wachen Sie auf! Es gibt da etwas …«

Der Assistent schüttelte Professor Gotlib an der Schulter. Der drehte sich ächzend auf die andere Seite. Was konnte es auf dieser sinnlosen, stümperhaft durchgeführten Expedition schon geben? Höchstens blutgierige Schnaken, die imstande waren, eine Kuh in zehn Minuten komplett auszusaugen. Mücken, groß wie eine wohlgenährte Promenadenmischung. Schweiß und Wodka. Staub, Dreck und Steine. Mehr nicht.

Was hatte er sich da auf seine alten Tage bloß eingebrockt?

»Hau ab«, schnauzte Gotlib den Assistenten an, doch dieser gab nicht auf.

»Michail Semjonowitsch! Der Bohrer ist durchgestoßen! Und wir haben etwas gefunden!«

Der Professor öffnete die Augen. Durch die Zeltplane drangen die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne. Am Kopfende seiner Schlafstatt lag ein angebrochenes Päckchen Analgin, daneben stand ein geschliffenes Wasserglas. Dort lag auch das Schreibheft mit seinen theoretischen Ausführungen.

Sobald die Expedition vorbei war, würde Gotlib diese karierten Seiten schreddern, sie dann mit Sonnenblumenöl anmachen und verspeisen. Schade um all die vergeudete Zeit. Brächte er den Mut auf, seine Theorien in der Akademie der Wissenschaften vorzustellen, würden ihm seine wissenschaftlichen Opponenten seine Notizen anders verabreichen: rektal.

»Michail Semjonowitsch!« Der Assistent klang jetzt verzweifelt. »Die Leute haben die ganze Nacht durchgearbeitet. Sie haben Sie extra so lang wie möglich schlafen lassen, aber als ihnen klar wurde, was sie da gefunden haben …«

Der Professor war endlich wach.

»Was haben sie denn gefunden?«

»Wir wissen es nicht!«

Gotlib setzte sich auf, schlang fröstelnd die Arme um seine behaarten Schultern und atmete tief durch.

»Also gut. Geh schon mal vor. Ich komm gleich nach, muss mich nur schnell anziehen.«

Die hatten doch nicht wirklich das gefunden, weshalb diese idiotische Expedition überhaupt stattfand? Wegen dieser Expedition hatte er sich mit seiner Frau zerstritten. Hatte eine Verschlechterung seiner chronischen Prostatitis und seines Wirbelsäulenleidens in Kauf genommen, obwohl er im Verlauf der letzten zwanzig Jahre einigermaßen gelernt hatte, friedlich mit beiden zu koexistieren. Wegen dieser Expedition hatte Gotlib beschlossen, die geruhsame Büroarbeit aufzugeben und sich erneut ins Feld hinauszuwagen. Und wozu?

Na, doch wohl deswegen, weil dieser ziemlich erfolgreiche und anerkannte, russisch-sowjetische Doktor der geologisch-mineralogischen Wissenschaften namens Professor Michail Semjonowitsch Gotlib mit seiner Lage ganz und gar nicht zufrieden war.

Gotlib zog die Hose an, setzte sich die Brille auf die Nase – was ihn wie Kissinger aussehen ließ –, stülpte sich das Mückennetz über den Kopf und drückte seine schweren Beine in die Gummistiefel. Die ganze Feldromantik konnte ihm gestohlen bleiben! Die Last des Alters: Je weniger man imstande war, den Schädel hin und her zu drehen, desto mehr verging einem die Lust, sich in der Welt umzusehen. Außerdem war sein Büro doch so bequem und gemütlich! Dort war es warm, es gab weder Zecken noch Mücken, das Klo war zehn Schritte den Gang runter, und wenn man sich einen Tee machen wollte, musste man niemanden losschicken, um Wasser aus dem Fluss zu holen.

In diesem Büro hatte er auch seine bislang wichtigste Entdeckung gemacht: eine möglicherweise neue Bruchstelle in der Erdkruste. Wenn er mit seiner Hypothese recht hatte, würde das heutige Staatsgebiet Russlands in nur drei bis vier Millionen Jahren auseinanderbrechen – und es würden zwei neue Kontinente entstehen! Eine Frage von gesamtstaatlicher Bedeutung.

Aber für so einen Affront würden ihn die Hohepriester der Akademie sofort kreuzigen. Es sei denn, er legte irgendwelche Beweise vor. Gesteinsproben zum Beispiel. Zeugnisse von Prozessen, die sich bereits jetzt vollzogen, wenn auch in großer Tiefe.

Einen Tag nach seinem Jubiläum – er hatte seinen Fünfundsiebzigsten gefeiert – traf er endlich den Entschluss. Mit größter Sorgfalt berechnete er den Standort, wo sich der gesuchte Punkt befinden musste, verabredete sich mit einem alten Freund, der es als Experte für geologische Prospektion bis zum Direktor eines Bergbaukonzerns gebracht hatte, machte eine staatliche Finanzierung klar, verkrachte sich mit seiner Frau, packte einen halben Koffer voller Medikamente, wälzte sich drei Tage lang im Zugabteil herum, ratterte weitere drei Tage lang mit einer Minsk M1A (dem Sowjetklassiker unter den Motorrädern, im Volksmund »Ziegenbock« genannt) über Stock und Stein – und hing nun bereits seit einem halben Jahr in der sibirischen Pampa herum. Ohne auch nur das Geringste erreicht zu haben.

»Wahnsinn, Professor! Schauen Sie sich das an!«

Hatten sie etwa ein Stück von einem Mammut ausgebuddelt? Oder von einem Trilobiten? Gotlib schlug die Zeltbahn beiseite, schlurfte an den Security-Leuten vorbei hinter den Palisadenzaun – es gab in der Taiga außer Mücken und Zecken ja noch anderes, deutlich größeres Getier – und blieb am Eingang zum Schacht stehen.

Ringsum standen Arbeiter und Geologen, auch ein Wachmann hatte hier mit einer Doppelflinte Stellung bezogen. Die Leute flüsterten verängstigt miteinander und deuteten mit ihren Fingern …

Was war da bloß? Gotlib drängte sich durch die Menge ins Innere des Kreises.

In der Mitte lag, mit ihren riesigen, ledrigen Flügeln zuckend, eine widerliche Kreatur. Unter dem zerquetschten, platten Schädel hatte sich eine Lache aus schwarzem Blut gebildet. Die grünen Augen mit ihren schmalen, horizontalen Pupillen blickten starr, aber die Lider senkten und hoben sich noch, und auch der Brustkorb des Wesens weitete sich hin und wieder mit einem tiefen Seufzer.

»Den hat Nikita abgeschossen«, teilte der Assistent mit und deutete mit dem Kopf auf einen der Wachleute – der offensichtlich gern mal einen zu viel im Tee hatte.

»Ich dachte erst, das is ’n Hörnchen«, stotterte Nikita und wischte sich die Hände an seinem Seemannshemd ab. »Na ja, so ’n Eichhörnchen halt.«

Der Professor näherte sich der Kreatur und drückte das Gummiende seines Stocks dagegen.

»Wo ist das hergekommen?«, fragte er.

»Aus dem Schacht.«

Das kam von einem der Arbeiter. Gotlib wandte sich nach der Stimme um.

»Und wie, mit Verlaub, ist es in den Schacht gekommen?«

»Es … war schon vorher da«, antwortete der Mann. »Wir haben es befreit.«

»Ausgeschlossen«, entgegnete der Professor bestimmt. »In einer Tiefe von drei Kilometern? Das ist unwissenschaftlich!«

Die Bestie zuckte zusammen, hob den Kopf und richtete ihre waagerechten, ziegenartigen Pupillen, die so gar nicht zu der widerwärtigen Fratze passen wollten, auf Gotlib. Das Maul öffnete sich, gespickt mit unzähligen rasiermesserscharfen Haifischzähnen, und die Kreatur … begann zu lachen.

Es war ein grässliches, unmögliches Geräusch: halb Pferdewiehern, halb Hammelblöken, und in einer so tiefen Tonlage, wie sie keine menschliche Kehle hätte erzeugen können. Als das Wesen ausgelacht hatte, kippte der Kopf wieder zurück, und es krepierte. Nur wenige Minuten später stieg die Sonne endgültig hinter dem Hügel auf. Als ihre Strahlen auf den Kadaver trafen, begann sich dieser qualmend aufzulösen.

»… unwissenschaftlich«, wiederholte Gotlib, während er durch seine angelaufene Brille auf die braune Pfütze starrte.

 

»Russland unterstützt Iran bei AKW-Bau«, verlautbarte die Nachrichtenzeile, die unten über den Bildschirm kroch. Der Sprecher bewegte die Lippen, doch die Fernseher waren stummgeschaltet.

Weiß der Teufel, was das schon wieder soll, dachte der Professor kopfschüttelnd. Lohnt sich das für uns? Für die paar Milliarden? Verstehen die nicht, dass der gesamte Nahe Osten draufgeht, wenn es dort knallt? Aber trotzdem danke für die Information. Lenkt mich wenigstens ein bisschen ab.

Besonders in diesen Minuten erzwungenen Nichtstuns, während er darauf wartete, dass sein Flug aufgerufen wurde, kam Michail Semjonowitsch kaum mit all den sorgenvollen Gedanken, die ihn in letzter Zeit heimsuchten, zurecht.

Dem Abflug aus dem verfluchten Irkutsker Flughafen sah er mit einiger Nervosität entgegen. Seit sie jenes seltsame Wesen entdeckt hatten, schien auf der Expedition ein merkwürdiger Fluch zu liegen: Der Wachmann war im Suff ertrunken; die Schachtarbeiter waren am Ende der nächsten Schicht in die Taiga abgehauen und dort spurlos verschwunden; einer der Geologen war über Nacht mondsüchtig geworden und plötzlich, schlafwandelnd und mit einem Beil bewaffnet, vor dem Zelt des Professors aufgetaucht.

Dass dies ein unheilvoller Ort war, hätte man aber schon früher erkennen können.

Zum Beispiel als sich herausstellte, dass sich genau an der Stelle, wo Gotlib seine Probebohrungen machen wollte, bereits ein alter Schacht befand. Wer diesen wann ausgehoben hatte, ließ sich nicht mehr feststellen, spätestens musste es aber zur Zeit des Sibirieneroberers Jermak gewesen sein, also irgendwann im 16. Jahrhundert. Im Schacht waren sie auf Knochen gestoßen – vollkommen ausgebleicht, aber zweifelsohne von Menschen.

Der Vorarbeiter, einer aus der lokalen Bevölkerung, bat den Professor daraufhin mit finsterer Miene um ein vertrauliches Gespräch. Darin warnte er ihn, dass man hier besser nicht bohren solle, wenn Gotlib aber darauf bestehe, so seien seine Leute nur zum doppelten Tarif dazu bereit. Der Professor handelte den Preis um siebzig Prozent herunter, und dem Vorarbeiter gelang es tatsächlich, seine abergläubischen Kollegen mit diesem Kompromiss umzustimmen. Vielleicht aber hätte Gotlib besser auf ihn hören sollen …

Dann war da die Geschichte mit dem geflügelten Wesen, für die sich einfach keine vernünftige Erklärung fand.

Und dann …

Und dann hing der Bohrer plötzlich über einem Abgrund. Einem riesigen, grenzenlosen Hohlraum. Man hätte es als eine Art Grotte bezeichnen können – wenn man außer Acht ließ, dass es in dieser Tiefe eigentlich keine Grotten geben konnte. Schon allein diese Entdeckung garantierte dem Professor gewissermaßen Unsterblichkeit.

Nur: Wie sollte er das jetzt beweisen – nachdem der Vorarbeiter mit einer Kiste Dynamit in den Schacht eingestiegen war und sich in einem Kilometer Tiefe in die Luft gejagt hatte?

Jetzt gab es da nichts mehr, was als Beweis hätte dienen können.

Ganz zu schweigen von der eigentlichen, wahrhaft erschütternden Entdeckung, die sie kurz darauf gemacht hatten. Der Professor, ein Atheist sowjetischer Prägung und – es ging ja gar nicht anders – Kosmopolit, hielt ein kleines Heiligenbild umklammert. Nein, das durfte er mit keiner Silbe erwähnen.

»Irkutsk-Moskau, Boardingkarten bereithalten!«, verkündete eine Wasserstoffblondine in konservativer Uniform pampig.

Gotlib presste verstohlen das Heiligenbild an seine Lippen. Es wäre ihm peinlich gewesen, hätten ihn seine Kollegen dabei ertappt, wie er eine Ikone küsste. Obwohl angeblich sogar Einstein gläubig gewesen war … Na und, sollten sie es doch sehen! In diesem speziellen Fall war es wirklich nicht verkehrt, sich vor dem Flug noch mal abzusichern.

Und was erwartete ihn in Moskau? Wo sollte er sich hinwenden, mit dieser dünnen Beweislage? Was waren all die Zeugenaussagen der Geologen noch wert, wenn die Hälfte des Teams in Zwangsjacken die Heimreise antrat? Das Einzige, was Gotlib jetzt noch vorweisen konnte, waren Audiodateien: Sie hatten nämlich Mikrofone an Echolote montiert und in den Abgrund hinabgelassen. Vorausgesetzt, dass die Dateien auf dem Heimflug nicht beschädigt wurden, verfügte er jetzt über Aufnahmen von grausigem – erschreckend menschenähnlichem – Geschrei, vermischt mit dem Brüllen irgendwelcher Ungeheuer.

Das war ein bisschen zu dürftig, um die gesamte Wissenschaft auf den Kopf zu stellen. Sicherlich nicht ausreichend, um Gotlibs Entdeckung zweifelsfrei zu untermauern.

Dabei hatte er doch die Unterwelt entdeckt!

 

»Opa, Telefon für dich!«, rief Alissa.

»Danke, Liebes, komme schon!«

Michail Semjonowitsch riss sich nur unwillig von seinem alten PC los. Er dachte einen Augenblick nach, dann druckte er die Seite aus, legte sie auf den Stapel und beschwerte diesen mit einem Bruchstein aus Selenit. Er hatte bereits ein ziemlich beeindruckendes Paket zusammen.

Es würde sein Kreuzzug gegen die Akademie der Wissenschaften werden. Die alten Sesselfurzer sollten auf dem Scheiterhaufen der Inquisition brennen! Und eine Inquisition war jetzt unvermeidlich. Aber dazu brauchte man ja nur die Stoßrichtung einer gewissen heute noch agierenden Organisation, die sich in Sachen Hexenjagd bestens auskannte, leicht zu verschieben.

Er musste nicht weit gehen: aus seinem Arbeitszimmer, vollgestopft mit Mineralienproben und vollgehängt mit Landkarten (in dem aber trotzdem noch genügend Platz war für ein rumänisches Doppelbett, Spanplatte in Nussbaumoptik) in das andere, das Wohnzimmer sozusagen (weil dort der Fernseher stand und ein aserbaidschanischer Teppich ausgelegt war, wenn auch ansonsten überall dieselben Mineralien und Landkarten herumlagen bzw. -hingen).

»Gotlib«, meldete er sich.

»Michail Semjonowitsch«, knisterte aus dem Hörer eine leblose Stimme. »Wir raten Ihnen, Ihre Arbeit unverzüglich einzustellen.«

»Was zum Teufel?«, entrüstete sich der Professor. »Wer spricht da?«

»Hier ist die Alexejew-Klinik für Psychiatrie«, raschelte es bedrohlich am anderen Ende der Leitung. »Einer Ihrer Kollegen ist derzeit bei uns in Behandlung …«

»Ihr macht mir keine Angst!«, brüllte Gotlib. »Hört ihr? Ihr macht mir keine Angst!«

Aus dem Hörer drang leises Lachen.

Alissa, die gerade, begleitet vom TV-Programm, aus den Bänden der Großen Sowjetischen Enzyklopädie von 1935 ein Haus für ihre Puppen baute, starrte ihren Opa erschrocken aus großen, blauen Augen an.

»Moskau wendet sich entschieden gegen die Verhängung von Sanktionen gegen Nordkorea«, tönte der Fernseher durch die Stille. »Das nordkoreanische Volk, so das russische Außenministerium in einer Erklärung, habe das uneingeschränkte Recht auf eine eigene, friedliche Nutzung der Kernkraft. Pjöngjang habe immer wieder deutlich gemacht, dass es sich dem Friedensprozess verpflichtet fühle, und habe sich als zuverlässiger, berechenbarer Partner erwiesen.«

Was soll das, dachte Gotlib genervt. Dass die jetzt auch noch hier weitermachen … Aber vor allem, wo unsere Leute schon wieder ihre Nase reinstecken! Wozu brauchen die das bloß?

»Michail Semjonowitsch«, brachte sich die Stimme in Erinnerung. »Sollten Sie auf die Idee kommen, mit Ihrem Manuskript irgendwohin zu gehen, lassen wir Sie sofort von einer Ambulanz abholen.«

»Sie können mich nicht einschüchtern!«, entgegnete Gotlib.

»Oh doch, können wir«, versicherte die Stimme.

Dann tutete es nur noch.

»Opa«, fragte Alissa und berührte sein Knie. »Geht’s dir gut?«

»Na ja … Nicht besonders.«

Gotlib war unfähig, sich aus dem Sessel vor dem Fernseher zu erheben.

»Im Leben der Rentnerin Nina Nikolajewna ist alles in Ordnung.« Die Kamera fuhr durch eine geräumige Dreizimmerwohnung. »Diesen Monat wird jedoch ihre Rente um sieben Komma drei Prozent erhöht. Es wird also alles noch viel besser!« Eine ältere Dame kam ins Bild. Straff und rosig saß sie in ihrer putzigen, gemütlichen Küche und genoss sichtlich ihren Tee.

»Opa«, sagte Alissa mit ernster Stimme. »Ich möchte dich was fragen. Warum ist im Fernseher immer alles so bunt? Warum geht es dort allen so gut? Gibt es das denn überhaupt?«

»In diesem Jahr werden die Mittel zur Unterstützung der Wissenschaft um siebzehn Prozent erhöht«, versprach die Glotze in diesem Moment. »Unser Korrespondent Iwan Petrow hat im Raumfahrt-Forschungszentrum der Stadt Koroljow vorbeigeschaut und sich die neuesten Technologien vorführen lassen. Die berühmte Gagarin-Zentrifuge wird hier zur Therapie von Wirbelsäulenleiden verwendet …«

»Das, liebe Alissotschka, hat damit zu tun«, antwortete Gotlib zerstreut, »dass der Fernseher ein Fenster ist, das in eine andere Welt führt. In das magische Land hinter den Spiegeln. Da sieht alles fast genauso aus wie hier, nur ist alles anders. Dort sind alle Menschen glücklich, und alles gelingt ihnen. Und alle haben genug Geld.«

»Das ist aber unwissenschaftlich.«

Alissa rümpfte die Nase, und der Professor seufzte.

»Eine andere Erklärung gibt es nicht.«

»Opa«, fuhr das Mädchen nach einer Weile fort, »kann man irgendwie in dein Land hinter den Spiegel gelangen? Nur für eine Minute?«

»Man muss dafür nur sehr, sehr fleißig lernen«, log Gotlib. »Also dann, mein Liebes, ich geh noch ein wenig arbeiten …«

»Inzwischen ist in Russland das weltweit größte Erdgasvorkommen entdeckt worden«, verkündete der Nachrichtensprecher. »Die Reserven des Gasfelds Sachalin-4 belaufen sich nach vorläufigen Schätzungen auf über 1,5 Billionen Kubikmeter. Wie das Unternehmen Gazprom mitteilte …«

Das ist es, dachte Gotlib finster. Hätte er doch von der Tektonik die Finger gelassen und wäre stattdessen von der geologischen Erkundung in den Erdgassektor gewechselt. Dann säße er jetzt nicht in dieser schäbigen Zweizimmerwohnung in Tschertanowo fest, sondern lebte in einer herrschaftlichen Villa an der Rubljowka und bekäme keine Anrufe aus der Klapsmühle, sondern von der Präsidialverwaltung – um ihm Orden zu verleihen für seine Verdienste um die Heimat. Auch unter Geologen soll es ja glückliche Menschen geben.

Doch für Michail Semjonowitsch war es jetzt zu spät, an diesen Türen anzuklopfen. Das Leben war vorbei, sämtliche Entscheidungen hatte er bereits vor Jahrzehnten getroffen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu kämpfen. Auf seinem Recht zu beharren. Es zu beweisen. Selbst wenn er keine Beweise hatte.

Alissa aber blieb noch lange bei ihren Puppen sitzen. Dann stand sie auf und ging zum Fernseher hinüber, um nachzusehen, was sich auf der anderen des Apparats befand. Vielleicht ja eine kleine Tür?

 

»Im Zuge eines einzigartigen, erstmals in dieser Form durchgeführten Tiefbohrexperiments stellte unser Forschungsteam fest, dass bei Perforation der Erdkruste in einer Tiefe von mehr als dreitausend Metern – entgegen allen bis dato angestellten Prognosen sowie der allgemein vorherrschenden Meinung – weder eine äußere noch eine mittlere noch eine innere Erdkruste aus metamorphem oder magmatischem Gestein zutage tritt. Stattdessen öffnen sich in der genannten Tiefe gigantische Hohlräume, die das Habitat einer überaus eigenartigen Fauna darstellen. Wir haben somit allen Grund anzunehmen, dass unser Team auf jenen Ort gestoßen ist, der in der Mythologie verschiedener Völker als ›Hölle‹ bezeichnet wird.«

Kein schlechter Einstieg, oder?

Dazu 130 Seiten Bericht vom Verlauf der Expedition, ein paar Fotos (von miserabler Qualität) sowie Audioaufnahmen und Gesteinsproben. Gotlib ließ noch einmal den Blick über das Ergebnis seiner Arbeit schweifen, dann packte er alles sorgfältig in seinen abgenutzten Aktenkoffer und blickte aus dem Fenster.

Direkt gegenüber dem Hauseingang parkte ein Intensivtransportwagen – ein nagelneues Importfahrzeug, beige lackiert und an den Seiten orange gestreift. Normalsterbliche wurden mit so einem Prachtstück nicht abgeholt, damit kutschierte man die Gerechten ins Paradies … oder in die entgegengesetzte Richtung.

Der Wagen galt doch nicht etwa ihm?

Der Professor dachte fieberhaft nach, dann rüttelte er Alissa wach (zum Glück war seine Frau gerade Brot kaufen, konnte also nicht dazwischenfunken), half seiner Enkelin beim Anziehen, packte ihr den Schulranzen auf den Rücken (sie kam demnächst in die Vorschule) und stopfte seinen Bericht mit den Fotos dort hinein. Die Gesteinsproben verteilte er auf seine Manteltaschen, zog sich seinen Schal bis über die Nase und trippelte mit dem schlaftrunkenen Mädchen die Treppe hinunter. Vielleicht konnte er ihnen so vorgaukeln, dass er das Mädchen in den Kindergarten brachte. Verzeih mir, kleine Alissa.

Er trat hinaus in die große weite Welt und peilte sofort die Haltestelle an.

Der ITW sprang mit aufblitzenden Scheinwerfern an und folgte ihm langsam.

Sie erreichten gerade noch ein Sammeltaxi, das eben losfahren wollte. Der Rettungswagen kroch ihnen im morgendlichen Stau hinterher. Seine Frontscheibe war blickdicht verdunkelt.

Sie erreichten die Metrostation, tauchten in die Menge ein, ließen sich mit der Menschenmasse durch den Fleischwolf beim Rolltreppenschacht drehen, drängten sich irgendwie zum Bahnsteig durch und bestiegen den erstbesten Zug. Hektisch sah sich Gotlib nach allen Seiten um. Die Gesichter der Fahrgäste waren wie immer, zugeknöpft, in sich versunken. Wie es aussah, waren sie entkommen. Fürs Erste war alles gut.

Jetzt nur noch die Akademie erreichen, zur vereinbarten Zeit den Vortrag halten, sich den Opponenten gegenüber irgendwie rausreden – danach konnte wegen ihm alles in Flammen aufgehen. Hauptsache, sie ließen ihn ans Rednerpult. Sollten sie ihn anschließend ruhig abholen und in die Alexejew-Klinik bringen. Oder gleich an einen noch aus Sowjetzeiten berüchtigten Ort: das Serbski-Institut für forensische Psychiatrie.

Plötzlich klingelte das Mobiltelefon in seiner Tasche. Seine Frau! Sie war sicher schon vom Einkauf zurück, hatte die Wohnung leer vorgefunden, er hatte ja nicht mal einen Zettel hinterlassen … War also besser, wenn man ihn ins Serbski-Institut steckte, da kam sie nicht an ihn ran. Andernfalls würde sie ihm wegen Alissa das Leben zur Hölle machen. Und das vollkommen zu Recht.

Aber wieso hatte er auf einmal in der U-Bahn Empfang, noch dazu auf dieser gottverlassenen Linie? Offenbar war es seiner Frau sehr dringend. Jemand anders konnte es nicht sein, denn nur sie kannte diese Nummer. Gotlib zog das Handy aus der Manteltasche.

Unbekannte Rufnummer.

»Natalja?«, schrie er ins Telefon und schirmte den Mund mit einer Hand gegen das laute Schlagen der Gleise ab.

»Michail Semjonowitsch.« Eine unbekannte, markige Baritonstimme übertönte die Kakofonie des U-Bahn-Waggons. »Entschuldigen Sie die Störung. Ich rufe im Auftrag von Gazprom an.«

»Von wem?«, fragte der Professor mit aufgerissenen Augen.

»Von Gazprom«, wiederholte der Fremde. »Wir würden Ihnen gern anbieten, für uns zu arbeiten.«

»Mir? Warum ausgerechnet mir?«

»Wir haben von Ihrem einzigartigen Tiefbohrexperiment gehört«, erläuterte der Anrufer bereitwillig. »Daher sind wir der Meinung, dass Sie uns als Berater wertvolle Dienste leisten könnten. Würde Sie so ein Angebot interessieren?«

»Ich …« Gotlib wechselte das Ohr – er glaubte, den brennend heißen Atem des Fremden zu spüren. »Ja, natürlich interessiert mich das!«

»Sagen Sie, Michail Semjonowitsch«, bat die Stimme schmeichelnd, »könnten Sie nicht bei uns im Büro vorbeikommen? Wir tagen hier gerade und diskutieren Ihre Kandidatur. Neben ein paar anderen. Aber wenn Sie, sagen wir, in einer halben bis einer Stunde hier eintreffen könnten, würden wir die anderen Anwärter gar nicht erst berücksichtigen …«

»Tut mir leid, ich kann jetzt nicht!«, schrie Gotlib. »Ich bin unterwegs zu einem wichtigen Vortrag.«

»Michail Semjonowitsch.« Die Stimme klang jetzt strenger. »Wir würden wirklich gern noch vor Ihrem Vortrag mit Ihnen reden. Habe ich Ihnen schon gesagt, wie viel ein Berater bei uns verdient? Das Gehalt beträgt in der Regel fünfzehntausend Dollar im Monat, ein Experte Ihres Kalibers allerdings …«

»Ich kann nicht«, sagte Gotlib bestimmt. »Erst der Vortrag, dann komme ich zu Ihnen. Anders geht es nicht.«

»Das glauben Sie«, entgegnete der Unbekannte.

Plötzlich erwachte der Professor wie aus einer Trance.

»Woher haben Sie eigentlich diese Nummer?«

»Von Ihrer Gemahlin, Michail Semjonowitsch«, antwortete der Mann hörbar grinsend. »Sie lässt Sie übrigens herzlich grüßen.«

Gotlib spürte, wie Eiseskälte sein Inneres erfasste. Warum zum Teufel ist der Empfang hier unten bloß so gut, fragte er sich erneut.

»Es ist ja unsere ureigene Interessens- und Einflusssphäre«, fuhr die Stimme fort, gleichsam als Antwort auf seine unausgesprochene Frage, aber dann auch wieder nicht. »Sie brauchen sich also nicht zu wundern, Michail Semjonowitsch. Wir sehen uns.«

Wollte ihn da jemand unter Druck setzen? In der Sowjetzeit, ja, damals hatten sie noch gewusst, wie man das macht!

Kommt nicht infrage, redete Gotlib sich zu. Erst der Vortrag, wie geplant, dann alles andere. Die Ehefrau retten, den Versuchungen widerstehen, gegen die Psychiater ankämpfen – all das konnte warten. Den Musen galt es ohne Hast zu dienen.

 

Er wusch sich mit kaltem Wasser in der schäbigen Toilette (die Mitglieder der Akademie nutzten diese auch als Raucherecke), nahm seine Enkelin an der Hand und machte sich auf in den Kampf.

Der Saal war halb leer.

»Da unten hat jemand einen Zettel ausgehängt, dass der Vortrag ausfällt!«

Professor Sinizyn, einer von Gotlibs wenigen Verbündeten in diesem Schlangennest, breitete die Arme aus.

»Das hätten die wohl gern«, kommentierte Gotlib finster. »Bitte passen Sie einstweilen auf das Mädchen auf, Pjotr Iwanytsch.«

Michail Semjonowitsch trat ans Rednerpult, blickte tapfer der vielköpfigen akademischen Hydra entgegen, legte störrisch den Kopf in den Nacken und begann.

»Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mein heutiger Vortrag entspricht nicht mehr ganz dem eigentlich angekündigten Thema. Was ich Ihnen heute berichten werde, ist noch revolutionärer als gedacht. Wie einige von Ihnen wahrscheinlich wissen, habe ich vor Kurzem eine Expedition ins Gebiet Irkutsk unternommen, zu der von mir vermuteten Bruchstelle, die der Beginn einer neuen tektonischen Plattengrenze sein könnte.«

Ein Flüstern erhob sich im Auditorium.

»Doch dann haben meine Mitarbeiter eine erstaunliche Entdeckung gemacht. Viele von ihnen haben dies mit ihrem Verstand bezahlt, manche sogar mit ihrem Leben. Im Zuge eines einzigartigen, erstmals in dieser Form durchgeführten Tiefbohrexperiments stellte unser Forschungsteam fest, dass bei Perforation der Erdkruste in einer Tiefe von mehr als dreitausend Metern …«

Seine Kehle fühlte sich trocken an. Im Saal herrschte gebanntes Schweigen.

»Liebe Kollegen … Freunde … Wir haben die Unterwelt entdeckt!«

Hinter dem dicken Glas seiner Kissinger-Brille kniff Gotlib die Augen zusammen. Einundzwanzig, zweiundzwanzig …

»Schande!«, brüllte jemand. Wahrscheinlich Akopjan.

»So was hören wir uns nicht länger an!«

Das war Schmeschkewitsch.

»Das ist eine Provokation!«

Lasutkin.

Gotlib holte tief Luft und rief: »Ich bitte Sie, hören Sie sich den Vortrag bis zum Ende an!«

»Dem gehört der Titel aberkannt!«

»Pseudowissenschaft!«

»Obskurantismus!«

»Werft ihn aus der Akademie!«

Die Ausrufe der Akademiemitglieder fühlten sich an wie die Schmutzklumpen, die damals, auf dem Weg zur Expedition, der vorausfahrende Lkw gegen die Windschutzscheibe des »Ziegenbocks« gespritzt hatte. Gotlib nahm die Brille ab (seine Sicht hatte sich verschlechtert, als hätten sie ihn tatsächlich angespuckt), rieb sie mit einem Taschentuch sauber, pflanzte sie wieder auf und beugte sich über sein Manuskript.

»Welche Beweise haben Sie?«

Das war Sinizyn, der ihm aus der ersten Reihe zu Hilfe eilte. Danke, alter Freund.

»Unser Team hatte umfangreiche Belege gesammelt. Da wir jedoch unseren Zielort übereilt verlassen mussten, sind fast alle Materialien verloren gegangen.«

»Und was ist mit Ihrem Schacht zur Hölle?«, hakte jemand aus der letzten Reihe nach.

»Zu unserem Bedauern ist der Schacht bei einer Explosion fast zur Gänze eingestürzt … Aber ich bin bereit, den Ort anzugeben, wo wir die Bohrung durchgeführt haben, und nötigenfalls auch eine neue Expedition zu leiten, eine Expedition der Akademie der Wissenschaften …«

»Sie Clown!«

Tomaschewski, ganz sicher.

Gotlib verstummte und hob die Augen. Im Saal waren nur noch drei Zuhörer zurückgeblieben.

»Haben Sie gehört? Hugo Chávez will Kolumbien den Krieg erklären«, flüsterte sein Freund Sinizyn dem komatösen Akademiemitglied Sidorow zu. Offenbar hatte man in der Hektik vergessen, diesen auf seiner Bahre aus dem Saal zu rollen. »Und dann angeblich sogar ganz Lateinamerika. Überall wird die bolivarische Staatsordnung eingeführt. Und wir verkaufen ihm zehn Frachter voll mit Kalaschnikows, dazu noch Hubschrauber. Fehlt nur noch, dass wir ihm U-Boote liefern. Mir will das einfach nicht in den Kopf: Wozu machen wir das? Doch nicht wegen des Geldes?«

Der arme Sidorow rollte nur mit den Augen. Mehr konnte er sowieso nicht bewegen.

Ein Desaster.

Moment. Wo war Alissa?

Gotlib ließ seinen Aktenkoffer stehen, rannte von der Bühne zu Sinizyn hinunter und schüttelte ihn heftig.

»Wo ist meine Enkelin? Wo ist Alissa?«

Sinizyn lächelte ihn selig an – als hätte man ihn soeben lobotomiert.

»Die ist vorhin von ihrem Vater abgeholt worden. Er wollte mit ihr ein Eis essen gehen, solange Opa noch mit dem Vortrag beschäftigt ist.«

»Sie Trottel! Alissas Vater ist in Australien!«

Keuchend rannte er auf den Gang hinaus. Zwei menschliche Umrisse – Alissas schmale, winzige Silhouette und ein finsterer, massiver, gleichsam aus Basalt gehauener Körper – entfernten sich gerade am anderen Ende.

 

Erst auf der Straße holte er sie ein. Der Hüne forderte das Mädchen gerade auf, in einer schwarzen Limousine Platz zu nehmen, die so lang und streng war wie das Leben eines Parteifunktionärs.

»Halt! Warten Sie!«, schrie Gotlib.

Der Basaltmann hielt höflich inne und ließ den Professor näher kommen.

»Wir wären ohne Sie doch gar nicht losgefahren, Michail Semjonowitsch«, sagte der Unbekannte mit bekannter Stimme. »Wollen Sie auch gleich einsteigen?«

Er sah rundum europäisch aus: blitzsauberer Anzug, hyperkorrekte Krawatte, das Gesicht harmlos. Oder besser: emotionslos. Und glatt, ohne Falten.

»Ich fahre nirgendwo …«, begann Gotlib, doch der andere unterbrach ihn besorgt:

»Die Kollegen wollten Ihnen also nicht glauben? Haben sie Sie ausgelacht?«

»Ist mir egal, ob man mir glaubt oder nicht!«, log der Professor. »Es geht mir nicht um Anerkennung, sondern um die Wahrheit!«

»Ich glaube Ihnen«, sagte der Mann ruhig. »Denn ich weiß, dass Sie recht haben. Die Unterwelt existiert, und ich bin bereit, Ihnen etwas darüber zu erzählen.«

»Aber Sie sind doch nicht …«

Gotlib umklammerte das Heiligenbild in seiner Manteltasche.

»Nein, natürlich nicht«, antwortete der Mann mit einem Lächeln. »Ich arbeite bei Gazprom. Ich war es auch, der Sie heute angerufen hat.«

Aus dem Innenraum des Wagens drang plötzlich fröhliches, vollkommen unangebrachtes Hundegebell. Ein überaus sympathischer schwarzer Pudel tollte dort im Fond herum und leckte mit seiner roten Zunge über Alissas Hand.

»Du bekommst von uns genauso ein Hündchen geschenkt«, sagte der Basaltmann lächelnd, was bei dem Mädchen entzücktes Kreischen hervorrief.

»Opa! Lass uns zu denen fahren!«

Die gut hundert Pfund schwere Tür schloss sich mit einem weichen Schmatzen, und die Limousine fuhr so sanft an, als schwebte sie über dem Boden.

»Sie haben in allem recht, Michail Semjonowitsch«, sagte der Mann. »Und zweifelsohne würden wir Ihnen diese großartige Entdeckung gönnen, nur leider gibt es einen klitzekleinen Haken an der Geschichte: Die Entdeckung ist schon lang vor Ihnen gemacht worden.«

»Was reden Sie da?«, empörte sich Gotlib. »Das ist doch völliger Unsinn! In diesem Fall hätten wir doch längst eine Art Kreuzzug angefangen, ein Armageddon hätten wir angerichtet mit modernen Waffen, in Schutt und Asche hätten wir sie gelegt mit unseren atomaren Sprengköpfen … Weiß doch sowieso niemand bei uns im Land, wohin mit der ganzen Kernenergie!«

»Also wirklich, Michail Semjonowitsch, was sind denn das für extreme Ansichten?«, entgegnete der Mann tadelnd. »Wir leben doch im 21. Jahrhundert. Im Zeitalter der Globalisierung und des freien Handels! Und Sie wollen mir was von Kreuzzügen erzählen. Das wäre doch reinste Barbarei …«

»Wie bitte?«

»Aber natürlich. Sie haben doch sicher in den Nachrichten von Sachalin-4 gehört? Anderthalb Billionen Kubikmeter neue Gasreserven … Da sieht man, wie sich unsere Partner bemühen, Ihre Seite des Vertrags zu erfüllen.«

Gotlib nahm die Brille ab.

»Was für ein Vertrag?«

»Ein Vertrag zur Direktlieferung von Erdgas aus der Unterwelt an die PAO Gazprom. Nun gut, auf dem Papier steht da natürlich ein anderer Name als juristische Person, aber ja, unser Partner ist tatsächlich ebenjener.«

Der Basaltmensch kraulte dem Pudel sanft das Fell.

»Warum ausgerechnet Gas?«, versuchte der Professor zu scherzen. »In der berühmten Oper heißt es doch ›Hell erglänzt der Höll’ Metall‹, wenn ich mich nicht irre?«

»Die gehen da unten eben auch mit der Zeit. Als wir Gold brauchten, haben sie uns mit Gold versorgt. Dann mit Öl. Und jetzt ist eben ein umweltfreundlicherer Energieträger in Mode, also liefern sie uns Gas. Alles, was das Erdinnere so hergibt … Gräbt man nämlich noch tiefer, so stellt sich heraus, dass es dort überhaupt keine Grenzen gibt. Das Wichtigste ist also, dass man sich handelseinig wird.«

Nach Schwefel roch es in dem Wagen nicht. Nur nach teurem französischem Parfum und ein bisschen nach Havanna-Zigarren. Wahrscheinlich ließ es sich der Fahrer manchmal gut gehen.

»Und wie sind Sie sich mit denen handelseinig geworden?«, wagte Gotlib nach einer langen Pause zu fragen.

»Haben Sie Ihre Seele verkauft?«

»Aber, Michail Semjonowitsch!« Der Mann schüttelte den Kopf. »Was denn für eine Seele? Gazprom ist doch ein staatseigener Konzern. Also hat die Regierung einfach bestimmte Verpflichtungen übernommen. Im Wesentlichen internationaler Natur. Sowie ein paar innenpolitische.«

»Mein Gott, warum bin ich nicht von selbst darauf gekommen! Wenn man nur ein bisschen nachdenkt, lässt sich unsere Geschichte ja gar nicht anders erklären … Welche Verpflichtungen sind das denn? Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, dass ich ›mein Gott‹ gesagt habe?«

»Ich bitte Sie. Dies ist ein multikonfessionelles Land«, antwortete der Mann beruhigend. »Was Ihre Frage betrifft: Es gibt eine gewisse Zahl an Projekten, die wir, wenn man so will, im Namen unserer Partner durchführen.« Erneut strich er dem Pudel übers Fell. »Die Zusammenarbeit mit dem Iran, mit Nordkorea, mit einigen arabischen Staaten … Im Energiebereich, mitunter auch in Sicherheitsfragen.«

»Aber das ist doch …« Gotlib stöhnte auf. »Was die vorhaben, wird also doch im Armageddon enden!«

Der Mann lächelte unverwandt.

»Denken Sie lieber an etwas Schönes.«

 

Der Wagen hielt vor einem hübschen, von Obstbäumen eingerahmten Landhaus. Entlang der Auffahrt zum Eingang drängten sich TV-Teams, die Kameras im Anschlag. Dort wartete auch schon die von Stylistinnen aufgemöbelte Gattin des Professors mit schmachtendem Blick.

»Wo sind wir? Wer sind all diese Leute?«, fragte Gotlib und reckte besorgt den Hals.

»Wir sind in Barwicha. Dies ist Ihr künftiges Zuhause. Und all die Reporter waren auf Sie, weil Sie soeben mit dem Staatspreis der Russischen Föderation ausgezeichnet worden sind.«

»Wofür denn?«, fragte Gotlib verwundert. »Wenn ich das richtig verstehe, darf ich von meiner Entdeckung niemandem etwas sagen?«

»Korrekt. In unserem Land werden täglich Entdeckungen gemacht, von denen niemand erfahren darf. Das ist also gar nicht weiter schlimm.« Der Mann klappte einen Ordner auf. »Hier hätte ich drei bahnbrechende wissenschaftliche Entdeckungen zur Auswahl, die eben erst freigegeben wurden. Suchen Sie sich eine aus und übernehmen Sie die Urheberschaft. Haben Sie gestern das mit der Gagarin-Zentrifuge in den Nachrichten gesehen? Erst vor Kurzem wurde die Geheimhaltung dazu aufgehoben – also bedienen Sie sich! Morgen werden Sie dann im Fernsehen gezeigt.«

»Hurra !«, rief Alissa freudestrahlend. »Wir kommen ins Land hinter den Spiegeln!«

»Für die Finanzierung Ihrer künftigen geologischen Forschungen stellt Gazprom natürlich ein Förderprogramm bereit«, ergänzte der Mann und streckte die Hand nach dem Türgriff aus.

Die Journalisten flogen auf den Wagen zu wie die Mücken in der Taiga auf einen Geologen, der mal kurz austreten will.

»Sagen Sie mal«, fragte Gotlib, »Gazprom finanziert nicht zufällig auch Forschungsprojekte im Bereich der Sternkunde?«

Der Mann lachte diskret.

»Nein, damit befassen wir uns nicht. Am Himmel gibt es für uns nichts zu holen.«

»Sehr gut.«

Michail Semjonowitsch nickte zufrieden und öffnete die Wagentür.

 

Er nahm seine Enkelin fest an der Hand und bahnte sich entschlossen den Weg durch die dicht gedrängte Reporterschar, fort von der Villa. Auch seine Ehefrau gabelte er an geeigneter Stelle auf.

»Und das Land hinter den Spiegeln?«, schluchzte Alissa. »Und mein Hündchen?«

»Wir kaufen dir ’ne Katze«, entgegnete der Professor knapp.

»Professor Gotlib!«

Ein Korrespondent des Wichtigsten Kanals stellte sich ihm in den Weg.

»Verraten Sie uns Ihre Pläne für die Zukunft! Mit sechsundsiebzig macht man zwar eigentlich keine großen Sprünge mehr – aber wer weiß?«

»Ich wechsle von der Geologie zur Astronomie«, gab Gotlib Auskunft. »Mir scheint, am Himmel gibt es noch so manches zu entdecken. Sagen Sie, wo ist hier die nächste Metrostation?«

 

Dmitry Glukhovsky: Geschichten aus der Heimat • Erzählungen • Aus dem Russischen von David Drevs, Christiane Pöhlmann und Franziska Zwerg • Wilhelm Heyne Verlag, München 2022 • ca. 460 Seiten • Hardcover • 24,– (im Shop vorbestellen)

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.