16. Dezember 2019 10 Likes

Hoffnung

Zu Weihnachten: über eine Frage, die sich jeder von uns um der Zukunft willen stellen sollte

Lesezeit: 7 min.

Es war kalt in München in den Adventswochen, umso seltsamer erschien mir dieser ältere Mann in offenen Sommerschuhen und abgerissener Jogginghose, der neben mir den Bürgersteig entlang schlurfte und leise vor sich hinmurmelte. Er war kaum zu verstehen, es ging offenbar auch um etwas sehr Persönliches, doch ab und an hob er seine Stimme und rief: „Was ist der Maßstab?“ Wieder Murmeln und nach einer Weile wieder: „Was ist der Maßstab?“

In Städten trifft man oft auf Menschen, die einen etwas verwirrten Eindruck machen, und es steht uns nicht zu, uns ein Urteil über sie zu bilden. Was wissen wir schon von ihnen? Was ist ihnen widerfahren? Welche Schläge mussten sie einstecken? Das Leben – jedes Leben – ist sehr fragil, manchmal braucht es nur einen Verlust, eine Krankheit oder das Ende einer Illusion, um seiner gewohnten Welt verloren zu gehen. Nein, ich habe mir kein Urteil über diesen Mann gebildet, der im Winter mit offenen Sommerschuhen neben mir den Bürgersteig entlang schlurfte. Aber seine Frage „Was ist der Maßstab?“ hat mich seither nicht losgelassen. Denn er schien sie uns allen zuzurufen. Und sie geht uns auch alle an.

Was ist der Maßstab für unser Sein und Handeln in der Welt? Woran messen wir, wie wir uns gegenüber anderen Menschen, Freunden, der Familie, der Gesellschaft verhalten? Wie wir mit den Tieren und all dem umgehen, was um uns herum ist und womit wir, ob wir wollen oder nicht, verbunden sind? Das ist eine ziemlich komplizierte Frage, denn jeder von uns baut sich – manchmal bewusst, meistens unbewusst – sein ganz eigenes Navigationssystem: aus lehrreichen Erfahrungen, tradierten Weisheiten, sozialen Normen, gesetzten Regeln, religiösen Dogmen oder säkularen Moralformeln. Eines jedoch haben all diese Navigationssysteme gemeinsam: Sie basieren auf Fiktionen, auf Geschichten, die wir uns immer wieder erzählen, um die Welt zu sortieren und unsere Rolle darin zu verstehen. Einige dieser Geschichten bleiben einfach nur Geschichten. Aus manchen werden Gesetze. Und aus anderen kulturelle Kontexte.

Weihnachten zum Beispiel. Ich bin kein religiöser Mensch, also tue ich mir schwer damit, aus der christlichen Urgeschichte eine Verhaltensregel oder gar ein Lebensprinzip abzuleiten. Aber die späteren Geschichten, ob von Charles Dickens, Frank Capra oder Truman Capote, die das, was wir Weihnachten nennen, ja erst erfanden, haben mir durchaus einen Maßstab für mein Verhalten gegeben (was die Weigerung einschließt, in Weihnachten eine frivole Aufforderung zum Konsum zu sehen).

Navigationssysteme, die auf Geschichten basieren, haben die Eigenschaft, dass sie sich verändern können – indem sie neue Geschichten inkorporieren und so neue Praktiken etablieren. Das klingt wie eine ätherische Metasichtweise, wie die neuerdings zum Klischee geronnene Parole „Wir brauchen ein neues Narrativ“, ist aber tatsächlich einer der grundlegenden Faktoren menschlichen Handelns. Wenn man nämlich die Genese großer moralischer Fortschritte in der Menschheitsgeschichte genauer betrachtet, erkennt man, dass es, im Gegensatz zu naturwissenschaftlichen Fortschritten, nicht neues Wissen war, das eine veränderte Praxis etablierte. Die jeweiligen Argumente waren lange bekannt und wurden mit aller Vehemenz und in universeller Verständlichkeit vorgebracht. So war sich beispielsweise zur Zeit der Sklaverei jeder darüber im Klaren, dass den Sklaven die ihnen zustehende Menschenwürde verwehrt wurde. Die Menschen zur Zeit des atlantischen Sklavenhandels wurden also nicht von neuen, bahnbrechenden Erkenntnissen überzeugt, sondern sie haben – manchmal bewusst, meistens unbewusst – damit begonnen, sich eine neue, bessere Geschichte von sich selbst zu erzählen. Und zwar eine ganz konkrete: dass wir, wenn wir anderen Anerkennung zukommen lassen, auch von anderen anerkannt werden. Diese Geschichte führte zu einer veränderten Praxis, und die veränderte Praxis führte zu einem neuen moralischen Verständnis – zu einer moralischen Zeitenwende.

Heute, am Ende des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts, sind viele Menschen (ich bin einer von ihnen) der Meinung, dass es erneut einer solchen Zeitenwende, eines großen moralischen Fortschritts bedarf, um den ökologischen Kollaps zu vermeiden, auf den wir weitgehend ungebremst zurasen. Denn wie in früheren Zeiten hilft uns das Wissen ganz offensichtlich nicht weiter. Schließlich wissen wir, dass durch unsere Wirtschaftsweise jeden Tag an die dreihundert Tierarten aussterben und wir so das planetare Netz des Lebens, dessen Teil wir sind, immer mehr auflösen. Und wir wissen auch, dass wir jeden Tag in der Atmosphäre eine Energiemenge freisetzen, die einer halben Millionen Atombomben entspricht, und damit das Klimasystem, das unsere Zivilisation überhaupt erst ermöglicht, zum Kippen bringen. All das ist seit Langem bekannt und wird mit aller Vehemenz und in universeller Verständlichkeit vorgebracht. Ebenso wie alle Methoden und Techniken bekannt sind, die uns helfen würden, eine globale Katastrophe zu vermeiden (lokale Katastrophen ereignen sich ja bereits). Aber es gelingt uns offenbar nicht, uns eine neue, bessere Geschichte von uns selbst zu erzählen und damit eine neue, bessere Praxis zu etablieren.

Das hat bekanntlich damit zu tun, dass dieses „Wir“, das ich hier ständig verwende, gar nicht existiert. Dass es zwar ein Problem globalen Ausmaßes gibt, aber kein global handlungsfähiges Subjekt. Wenn man sich ein Bild davon machen will, was im 21. Jahrhundert „Menschheit“ ist, muss man sich nur die Ergebnisse der gerade zu Ende gegangenen Klimakonferenz in Madrid ansehen: ein klägliches Geschacher, bei dem die einzelnen Staaten und die hinter ihnen stehenden Wirtschaftslobbyisten das Beste für sich herausholen.

Nur: Das war auch schon zu früheren Zeiten so. Auch früher waren wirtschaftliche Interessen wirksam und wurden politische Verhinderungsstrategien initiiert, und zu keiner Zeit bedeutete „wir“ alle Menschen. Es muss also noch einen anderen, tieferen Grund dafür geben, dass es uns nicht gelingt, zu einer neuen Geschichte zu kommen. Und den gibt es tatsächlich: Wir haben keinen Maßstab für unser Handeln.

Während es nämlich bei früheren Veränderungsprozessen um das Verhältnis zwischen Menschen und Menschen vor einem als stabil wahrgenommen planetaren Hintergrund ging, geht es nun um das Verhältnis zwischen Menschen und diesem Hintergrund selbst, den wir distanziert „Umwelt“ oder „Natur“ nennen, der aber nichts weniger als die Grundlage des Lebens und alles andere als stabil ist. Und für dieses Verhältnis haben wir keinen Maßstab, weil wir in den vergangenen zweihundert Jahren soziale Probleme regelmäßig dadurch gelöst haben, dass wir uns immer mehr Natur angeeignet und in unsere Verwertungsmaschinerie eingespeist haben, dass wir bei jedem Zyklus technischer Innovationen menschliche Arbeitskraft durch mehr Ressourcenverbrauch ersetzt haben. Diese im 19. Jahrhundert etablierte und im 20. Jahrhundert exzessiv angewandte Praxis kommt nun sichtlich an ihr Ende, aber sie hat ihre eigene, auf obszöne Weise kohärente Geschichte etabliert, aus der wir uns nur schwer befreien können.

Nur so ist zu verstehen, dass wir in der Zerstörung der natürlichen Welt ein „Thema“ von vielen sehen, die gerade Konjunktur haben, obwohl es eigentlich die Schlüsselfrage unserer Zeit ist. Nur so ist zu verstehen, dass Vorschläge, wie menschliches Handeln der Tatsache gerecht werden kann, dass wir eine Lebensform von vielen auf einem endlichen Planeten sind, als „radikal“ diffamiert werden, obwohl eigentlich der zivilisatorische Normalfall das Radikale ist – was gibt es Radikaleres, als jeden Morgen aufzustehen und dazu beizutragen, dass die Arktis schmilzt? Und nur so ist zu verstehen, dass unsere Erwartung, „die Menschheit“ werde es schon schaffen, auf blümeranten Ideen einer magischen Technik gründet, mit der wir wahlweise die Ozeane aufmischen, die Sonne dimmen oder die Atmosphäre düngen, obwohl jede dieser Maßnahmen, sollte es sie überhaupt je geben, dazu geeignet ist, das Netz des Lebens auf der Erde endgültig zu zerreißen.

Dass die meisten von uns diese Absurditäten nicht als Absurditäten wahrnehmen, ist nur zu verstehen, weil wir keinen Maßstab für unser Sein und Tun am Ende des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts haben. Und so drängt sich angesichts des Ausmaßes und der Dringlichkeit unserer Situation die Frage auf, ob wir überhaupt mit einer Herausforderung dieser Art umgehen können.

Diese Frage kann ich nicht beantworten, und ich erwarte auch nicht, dass Sie diese Frage beantworten können; es überfordert uns eigentlich schon, sie zu stellen. Aber die Frage „Was ist der Maßstab?“, die kürzlich ein etwas verwirrter älterer Mann auf der Straße mir und der Welt zurief, ist eine Frage, die Sie sich stellen können. Ja, die wir uns alle stellen sollten, wenn uns die Zukunft irgendetwas bedeutet.

Was also ist Ihr Maßstab, Herr Mamczak?

Ich bin, wie gesagt, kein religiöser Mensch. Mein moralisches Koordinatensystem basiert nicht auf Predigten und Prophezeiungen, sondern auf dem Denken von Immanuel Kant, Hannah Arendt und Hans Jonas, den Texten von John Berger und Fernando Pessoa, den Gedichten von Jan Skácel. Aber es gibt da einen Satz von Franz von Assisi – nach allem, was wir wissen, ein so gläubiger Mann, dass er den meisten Gläubigen bis heute nicht geheuer ist –, der für mich den Kern eines Maßstabs und damit den Kern einer neuen Geschichte von uns selbst markiert. Als es einmal darum ging, ein Feuer zu entzünden, sagte Franz von Assisi, man solle den Baum nur auf einer bestimmten Höhe absägen, „damit er noch Hoffnung haben kann“.

Der Baum soll Hoffnung haben. Nicht der Mensch, nicht die Menschheit. Ein sehr seltsamer Satz – ein verwirrter älterer Mann könnte ihn gut vor sich hinmurmeln. Ein radikaler Satz – man stelle sich vor, jemand würde ihn in einer Talkshow zum Thema „Klima“ äußern. Ein versponnener Satz – wunderbar dafür geeignet, als „pseudoromantisch“ oder „gegenaufklärerisch“ abgetan zu werden.

Und doch … Und doch ist es das Wesen einer neuen Geschichte, dass sie der etablierten Denk- und Handlungsweise der Zeit, die sie hervorbringt, zuwiderläuft. Schließlich haben sich immer erst im Rückblick die Menschen der Zukunft gefragt: Was haben wir uns da gedacht? Wie konnten wir das nur tun? Erst für die Menschen der Zukunft könnte also ganz selbstverständlich sein, was uns als abwegig erscheint: dass außerhalb von uns etwas existiert, das so wie wir Hoffnung benötigt.

Ich wünsche Ihnen schöne Weihnachten.

 

Sascha Mamczaks Buch „Die Zukunft - Eine Einführung“ ist im Shop erhältlich. Alle Kolumnen von Sascha Mamczak finden Sie hier.

 

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