25. April 2022

Die Nebelhörner der Gelassenheit

Oder: Was tun, wenn die Welt davonzurasen scheint?

Lesezeit: 3 min.

Draußen herrscht schönstes Micky-Maus-Wetter; die Sonne giggelt und kichert vom Himmel, als wollte sie sagen: „Ihr werdet schon sehen! Los, meine Jammerhasen und zahllosen Follower, bügelt euch die Sorgenfalten aus dem Gesicht, die Zukunft ist schon verschickt, bald klingelt es an eurer Tür und das Klimapaket liegt auf der Schwelle, packt aus! Diese Zukunft wird euch Herz und Hirn wärmen wie seit Äonen nicht mehr. Seid ihr nicht diese Spezies, die vor 30.000 Jahren plus minus diese ausdrucksstarken Szenen an die Höhlenwände gepinselt hat? Kehrt heim, kehrt heim, setzt eure unterbrochene Arbeit fort!“

Das neue Jahr, sapristi, legt ein unglaubliches Tempo vor: Weihnachten und die Heiligen Drei Könige zischten nur so vorbei, auch Karneval ist schon gehabt, erneut pappnasenfrei, ebenso - jedenfalls wenn man den Nachrichten trauen will - sind die so genannten Olympischen Spiele im fernen, geheimnisvollen Land des Lächelns feuerlich eröffnet und hastunichtgesehen wieder abgepfiffen worden, ohne dass es irgendwer bemerkt hätte. Ich jedenfalls nicht.

Dabei soll sich im Windschatten der chinesischen Mauer durchaus Außergewöhnliches zugetragen haben: Dem sympathischen Langläufer Remi Lindholm aus Finnland sei, wie er der finnischen Zeitung Iltalethi erklärte, beim Ski-Marathon in Zhangjiakou aufgrund der eisigen Temperaturen dortselbst der Penis eingefroren sein. Zeitweise seien bei den Wettbewerben bis zu minus zwanzig Grad Celsius gemessen worden. Man wundert sich: Hatte Lindholm keinen der bewährten mit Birkenspänen gefüllten Penismuffs aus Otternhaut angelegt? Haben ihn die Chinesen später wenigstens mit einem Hochleistungsersatzpenis aus der Penismanufaktur Shenzen mit Gesichtserkennungsautomatik und Künstlicher Intelligenz entschädigt? Leider habe ich das zu diesem Thema zweifellos ausgestrahlte ZDF-Spezial verpasst, sonst wüsste ich mehr. Aber ich gehe davon aus. Und ZDF-Spezials schaue ich schon lange nicht mehr.

Von Penis wäre es im Alphabet wie im Konversationslexikon nicht weit zu Präsident. Wie wäre es mit Penisdent als Titel für einen lupenreinen Diktator? Ach, dass wieder einmal jene, die wir für unzeitgemäße Rotzlöffel und Schulhofschläger gehalten haben, für fett gewordene Eierdiebe und ordinär-overdressed Lumpengesindel, sich nun als Schlächter und Massenmörder entpuppen, die über genau jene Leichen gehen, ach was: stolzieren, die sie selbst durch Feuer und Bombardement geschaffen haben!

Zurück zum Sport. Die deutsche Meisterschaft ist entschieden; Bayern München wird eine Meisterschale in den blauweißkarierten Himmel recken und sich kollektiv ein Kräuterlikörchen gönnen, der Rest Fußballdeutschlands wird in ein sportives Gähnen verfallen von walartigen Ausmaßen. Glückwunsch! Dennoch sollten wir kurz über Meisterschaft reden, denn es gibt ja nicht nur eine fußballerisch-deutsche solche, sondern auch die der Maler und Maurer, Brezelbäcker und Konditoren, Schneider und Schuster, Klempner und Kälteanlagenbauer, die allesamt ihr Meisterstück abgeliefert haben und einander zünftige Meisterbriefe schreiben, des Abends um 19:35 Uhr, wenn Frau Luna kontaktscheu ins Zimmer lächelt und die Spinnenmännchen auf Brautschau gehen - oder auch sonst.

Manchmal ist es, als wäre ein dichter Nebel über die Welt gekommen. Alles Grau in Grau.

Sollte es, frage ich mich, in Zukunft nicht noch ganz andere Meister geben und Meisterbetriebe? Wo bleiben die Meister der Besonnenheit und Selbstbeherrschung, der Ataraxie, Seelenruhe, guten Laune, Unerschütterlichkeit, der Muße, des honorablen Dolcefarniente und der Gelassenheit?

Ratlos blättern wir in den Gelben Seiten.

Meine Schwester und deren Tochter haben eine Kreuzfahrt angetreten. Gestartet sind sie von St. Miami aus, der krokodilumschwärmten Stadt in Florida. Ihr Schiffchen fährt von dort aus an Kuba vorbei nach Haiti, Puerto Rico, Antigua und Barbados, das kennt man ja: Rohrzucker, Rum und Piraten. Von hier aus versuchte Gerald Bull in den 1960er-Jahren mit seinen HARP-Kanonen Satelliten ins Weltall zu schießen; von hier aus starteten Nike-Apache- und Nike-Cajun-Höhenforschungsraketen.

„Wie ist das Wetter?“, frage ich via WhattsApp.

„Dichter Nebel“, antwortet meine Schwester.

„Piratenwetter“, schreibe ich.

„Exakt“, antwortet meine Schwester. „Stehen an der Reling und füttern die Haie und Rochen mit den Resten vom Büffet! Manchmal hört man ein Tuten.“

Und ich denke: Das müssen die Nebelhörner der Gelassenheit sein. Es gibt sie also doch.

 

Hartmut Kasper ist promovierter Germanist, proliferanter Fantast und seines Zeichens profilierter Kolumnist. Alle Kolumnen von Hartmut Kasper finden Sie hier.

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