2. November 2020

In eignen Dimensionen

Wie der Virus doch noch durch einen Zauber verschwand

Lesezeit: 6 min.

Seit Wochen, ja seit Monaten bittet mich die Redaktion von diezukunft.de: Schreiben Sie doch mal was über den Virus! Die Pandemie! Aber bitte etwas Optimistisches, sodass unsere Leser wieder mit Zuversicht in die Zukunft schauen können. Ist das denn so schwer? Nun, ganz leicht war es nicht, aber hier also mein optimistischer Beitrag zur Pandemie:

Frau Wamsler war eine tüchtige Frau, die mit allen Beinen fest im Leben stand. Sie hatte braune Augen, eine Vorliebe für Espresso und es manchmal im Rücken, so etwas kommt mit der Zeit. Bangigkeit vor dem Alltag, Schreckhaftigkeit im Allgemeinen und die Furcht vor bevorstehenden Weltuntergängen im Besonderen gehörten nicht zu ihren Neigungen.

Sie war, was Winnetou ein Bleichgesicht ohne gespaltene Zunge genannt hätte oder der Apostel Paul ein Weib ohne Falsch: gutmütig, verlässlich, eine Art Mensch gewordener Bausparvertrag und einmal verheiratet. Aber ihr Mann, ein Sportlehrer, hatte anno 1960 mit einer Schülerin, die ihr flammendrotes Haar wie eine Fahne schwenkte, und ihren üppigen Busen auch, vor dem Kapitalismus in Richtung Deutsche Demokratische Republik Reißaus genommen, um dort den Sozialismus aufzubauen, ein Vorhaben mit, wie man heute weiß, überschaubarem Erfolg. Frau Wamsler klagte nicht, sie war kein sehr politischer Mensch. Und der Obrigkeit eine andere Haltung entgegenzubringen als die der stillen Genießerin wäre ihr nie in den Sinn gekommen.

Deswegen, als die Plage über die Welt kam, die das Jahr 2020 so sehr beunruhigte, und der Präsident der USA verkündete, eben diese Plage werde eines Tages plötzlich verschwunden sein wie durch Zauber, spätestens aber bis Ostern, nahm sie diese Entwarnung mit einem Aufatmen zur Kenntnis – ein Aufatmen ohne Maske damals noch, nebenbei bemerkt. Doch die Ostertage kamen und gingen auch wieder, der Virus aber blieb. Sei es, dass er nicht katholisch genug war und deswegen auf Ostern nichts gab oder sich aus politischen Gründen gegen die Anordnungen republikanischer Präsidenten taub stellte – an der Tatsache seiner wenn auch unsichtbaren Gegenwart war jedenfalls nicht zu zweifeln.

Eines Tages und nicht lang nach Himmelfahrt – auch diese Gelegenheit, sich von der Welt zu verabschieden, hatte der Virus ungenutzt verstreichen lassen – schlenderte Frau Wamsler, zwei Zwölferpackungen luxuriösesten Toilettenpapiers unter den Armen, denn ein wenig Luxus braucht der Mensch, zumal in verfinsterten Tagen, schlenderte also von einem Einkaufsgang heim, als sie an jenem alten Laden vorüberkam, der sich kurz hinter der Kreuzung Von-Neumann-Straße und Erwin-Schrödinger-Gasse in Crange (einem Stadtteil von Wanne-Eickel mit alten, niedrigen Fachwerkhäusern nah der Schleuse) befand und in dessen Schaufenster sich verlockende Nähmaschinen von Pfaff und Singer wie Badenixen am Ostseestrand räkelten, umgeben von opulenten Haufen bunter Wollknäuel.

Nicht zum ersten Mal überhaupt, aber zum ersten Mal bewusst las Frau Wamsler das Firmenschild: „Strick- und Schneidereibedarf A. Holtheuer – Wollen, Garne, Zwirne & Zaubersprüche en gros & en détail“

Das „und“ war beide Male als Kaufmanns-Und geschrieben, wohl um die kaufmännische Unbestechlichkeit des Angebots zu unterstreichen. Den Lesern aber, die hier fragend die Augenbrauen heben, sei gesagt: Das „A.“ stand für „Aloisia“, und das ist ein schöner Name, und weiß der Kuckuck, warum er auf dem Schild nicht ausgeschrieben wurde. Vielleicht aus Platzmangel?

Das Schild jedenfalls ging Frau Wamsler nicht aus dem Sinn. Zumal am Abend nicht, wenn sie die Tagesschau schaute und der Virus fett und klebrig aus dem Hintergrund ins Wohnzimmer glotzte, als wäre das sein gutes Recht. Zwirne und Zaubersprüche?, wiederholte sie in Gedanken. Ein Scherzartikelladen vielleicht? Stinkbomben, Pupskissen und Pappnasen? Wie passt das zu Wolle, Nadel, Nähmaschine? Also richtete Frau Wamsler es ein paar Tage später so ein, dass ihre Wege sie wieder, und zwar wie aus purem Zufall, an Holtheuers Bedarfsgeschäft vorüber führte.

Diesmal trat sie ein.

Aloisia Holtheuer saß hinter einem Tisch und strickte. Sie strickte mit einer Rundnadel und hörte nicht auf zu stricken, als sie Frau Wamsler mit jenem warmen Lächeln begrüßte, das andere Ladenbetreiber für Stammkunden vorbehielten, teils aus echter und mit der Zeit gewachsener Neigung, teils aus kaufmännischem Kalkül.

Sie wünschen?

Ja, was wünschte sie denn?

Es brauchte nicht lang, bis Frau Holtheuer einen Blick hinter die Fassade der vorgeblich an Popelinzwirn und Knöpfen interessierten Kundin erhaschte – denn der Laden führte auch Knöpfe, und wenn wir die Zeit hätten, würde ich diese Knöpfe oder wenigstens einige von ihnen ausführlich beschreiben, denn es waren wirklich schöne Knöpfe aus Holz oder Harz darunter, kupferne Knöpfe mit Nieten und solche aus Perlmutt, aus Hirschhorn und Metall und sogar solche aus geschliffenem Glas. Nein, Knöpfe waren nicht das, was Frau Wamsler wollte. Frau Holtheuer wusste es, hatte es sofort gewusst, und nur aus Höflichkeit hatte sie ein wenig zugewartet und ein paar Knöpfe auf den Tisch gelegt, aber jetzt packte sie entschieden das Strickzeug zur Seite, holte der Himmel mochte wissen von wo eine kleine Meerschaumpfeife hervor, steckte sich das Pfeifchen in den Mund, paffte – hat jemand gesehen, wer ihr Feuer gab? – und sprach: Nein, Knöpfe sind nicht das, was Sie wollen. Oder?

In der Tat. Nichts gegen Knöpfe, aber Frau Wamlser wollte etwas anderes. Sie wollte, dass der Virus verschwand. Also zog Frau Holtheuer einen alten, hölzernen Karteikarten hervor, hob den knarrenden Deckel ab, blies den ehrlich erworbenen Staub von den Karten und begann zu blättern.

Was hätten wir denn da?

Hier, murmelte Frau Holtheuer, habe sie einen besonders schönen Zauber im Angebot. Sie las vor: „Alle Elefanten/haben dicke Tanten,/die selber Elefanten sind –/wenn sie nicht Mutanten sind.“ Es sei dies ein außerordentlich wirksamer Zauber, made in Uganda, aus einer auch dort nicht in aller Munde geführten, eher seltenen afrikanischen Sprache übersetzt, und werde gerne von Zoodirektoren genommen, wenn zum Beispiel in deren Verantwortungsbereich eine Elefantenkuh trächtig geworden sei und man aus medizinischen Gründen glaubte, einer schweren Geburt, ja Missgeburt vorbeugen zu sollen.

Frau Wamsler verkniff sich die Frage, ob dieser Zauber häufig nachgefragt werde. Aber wissen wollte sie schon: Ob der auch gegen Viren …?

Viren? Ach ja, wie hatte sie das vergessen können: der Virus! Frau Holtheuer sortierte die Karte sorgfältig zurück und blätterte weiter. Es roch recht angenehm nach dem Knaster, das sie rauchte, nach Vanille nämlich und einem süßen Irgendwas, so dass Frau Wamsler warm ums Herz wurde.

Ha, dies vielleicht, freute sich Frau Holtheuer und schwenkte triumphierend ein nächstes Kärtchen: ein Liebeszauber! Der, wäre er bekannt, Tinder und Parship vom Markt fegen würden im Hui. Sie trug vor: „Im Karwendel wohnt der Karwendelwurm,/der erobert mir dein Herz gewiss im Sturm./Von allen Würmern ist der schönste Wurm/der Karwendelwurm, der Karwendelwurm.“

Frau Holtheuer beugte sich leicht vor, nahm die Pfeife aus dem Mund und raunte verschwörerisch: der Karwendel sei ja eine Gebirgsgruppe der Nördlichen Kalkalpen, wenn sie verstehe. Und dazu zwinkerte sie verschwörerisch.

Ob denn, wollte Frau Wamlser wissen, der Zauber wirke?

Hundert pro, sagte Frau Holtheuer. Jedenfalls, wenn man beim Aufsagen dem Objekt seiner Begierde einen noch lebenden Karwendelwurm in ein Getränk mische, in den Tee zum Beispiel, in eine Kräuterlimonade oder einen Humpen Bier, und ihn so verabreiche.

Worauf Frau Wamsler schlagartig begriff, warum es in Deutschland, jedenfalls soweit man es von den Gipfeln des Karwendelgebirges aus einsehen konnte, so wenig Liebe unter den Menschen gab. Gourmets einmal ausgenommen, die alles, auch eine Wurmspeise, einmal ausprobieren wollten.

Wieder begann Frau Holtheuer zu wühlen. Wieder fand sie etwas: „Es leben die Zitronen/in eignen Dimensionen,/die meisten davon sauer,/andre kennt man nicht genauer.“ Wozu genau dieser Zauber diene, wusste Frau Holtheuer selbst nicht; es sei ein Import aus der Karibik gewesen, preiswert und im Dutzend billiger. Und ja, sie habe diesen Spruch tatsächlich zwei oder drei Mal verkauft, allein ob er seine Wirkung getan und vor allem welche denn – keine Ahnung. Die Kunden seien nie wieder gekommen, bei Kunden, die solche Ware kauften, womöglich ein Zeichen von Zufriedenheit.

Was soll ich sagen? Es dauerte noch ein Weilchen, dann entschied sich Frau Wamsler für einen Zauberspruch und kaufte, ob aus Gründen der Tarnung, der Selbstachtung oder aus echtem Interesse, zusätzlich ein Sternchen mit fein geripptem Popelinzwirn.

Welchen Zauberspruch? Es würde mich schon reizen, dies zu verraten, aber dann ist die Sache bald publik, man kennt das ja, die Pharmaindustrie wandelt ihn lächerlich geringfügig ab, lässt ihn sich patentieren und verdient sich damit eine goldene Nase, goldene Ohrläppchen und wer weiß nicht noch alles. Das Geschäft einer Frau Holtheuer aber leidet. Überhaupt geht es ja dem Mittelstand nicht gut.

Der Virus ist immerhin bald darauf verschwunden. Wie durch Zauber.

 

Hartmut Kasper ist promovierter Germanist, proliferanter Fantast und seines Zeichens profilierter Kolumnist. Alle Kolumnen von Hartmut Kasper finden Sie hier.

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