Der Klarträumer
Zum Tod von Wolfgang Jeschke, Science-Fiction-Herausgeber und Ausnahmeschriftsteller
Ich kannte ihn, bevor ich ihn kennenlernte. Kennengelernt habe ich Wolfgang Jeschke im Januar 1998, als ich mich im Münchner Heyne-Verlag zu einem Gespräch mit ihm einfand, genauer gesagt: zu einem Bewerbungsgespräch für die Stelle eines Lektors im Science-Fiction-Lektorat. Ein Gespräch, das mich in ziemliche Nervosität versetzte – denn schon damals galt Wolfgang Jeschke unter Science-Fiction-Kennern als legendärer Herausgeber. Aber er machte mir gleich in seiner herzlich-knarzigen Art, die mir in den kommenden Jahren so ans Herz wachsen sollte, klar, dass er keineswegs vorhatte, mit mir ein Bewerbungsgespräch zu führen. Er hatte die Bewerbung längst angenommen. Es gibt wahrscheinlich nur wenige solcher Tage im Leben.
Und doch: Ich kannte ihn schon. Ich kannte Wolfgang Jeschke durch die Science-Fiction-Romane, die er seit den 1970ern Monat für Monat herausgab und die mit ihren markant schwarzen Rücken meine Regale beherrschten. Ich kannte ihn durch die Science-Fiction-Erzählungsbände, die er regelmäßig zusammenstellte und die mir Ideen zugänglich machten, von denen ich gar nicht glaubte, dass man sie denken konnte. Und ich kannte ihn vor allem durch die Romane und Erzählungen, die er selbst schrieb und die mich in andere Welten katapultierten. Keine Fantasy-Welten wohlgemerkt, keine Welten irgendwo in einer fernen Galaxis bei den grünen Männchen, sondern Welten, die mir diejenige, in der wir zu Atem kommen, erst verständlich machten. Denn die Welt, in der wir zu Atem kommen, ist ein sehr seltsamer Ort. Wir können sie nicht erklären, aber wir können sie zu verstehen lernen: mit Worten, die zu Geschichten werden; mit Geschichten, die zu Welten werden.
In Kommentaren zu Wolfgangs Laufbahn als Autor und Herausgeber habe ich immer wieder gelesen, dass der eine, der Autor, im Schatten des anderen, des Herausgebers, stand. Ich habe das nie so empfunden, und ich glaube, Wolfgang auch nicht. Er genoss es, die wilde Kreativität seiner aus- und inländischen Kolleginnen und Kollegen – jenen so dynamischen wie erratischen Austausch von Ideen, der die Science-Fiction seit jeher prägt – als Verlagsmensch zu begleiten und zu fördern und sich als Erzähler davon inspirieren zu lassen. Hinzu kam, dass er kein Schriftsteller war, den sein Ehrgeiz dazu trieb, jedes Jahr oder noch öfter ein Buch auf den Markt zu werfen. Er war kein Schriftsteller, der sich wichtig machte, und keiner, der wichtig gemacht werden wollte; es gab für ihn nichts Schlimmeres, als wenn ihn ein Journalist oder ein Fan aufforderte, eine Aussage über „die Zukunft“ zu treffen (manche SF-Autoren lieben es ja, auf diese Art gebauchpinselt zu werden). Wolfgang blickte nicht in die Zukunft, er blickte in Zukünfte: schreckliche, hoffnungsvolle, erkenntnisreiche, geheimnisvolle – und immer welche, die die Schrecken, Hoffnungen, Erkenntnisse und Geheimnisse der Gegenwart aufnahmen und, wie in einem Jahrmarktspiegel, brachen. Natürlich wollte er viele Leser erreichen – welcher Schriftsteller will das nicht? –, und er hätte wahrlich mehr Leser verdient gehabt, aber er wollte sie mit dem erreichen, was ihm wichtig war – und wenn ihm das gelang, dann war es ihm egal, ob es hundert oder hunderttausend Leser waren.
Ich kannte Wolfgang Jeschke, bevor ich ihn kennenlernte, weil ich seine Worte und Geschichten und Welten kannte. Wolfgang, Jahrgang 1936, hat noch Dinge gesehen, die uns heute wie ein Alptraum erscheinen. Und er hat Dinge gesehen, die uns heute wie ein Traum erscheinen. Und indem er all diese Alpträume und Träume zu Welten gemacht hat, hat er unsere Welt luzider und konkreter zugleich gemacht. Nur wirklich talentierte Science-Fiction-Schriftsteller können das. Wirklich talentierte Science-Fiction-Schriftsteller träumen mit offenen Augen. Es ist eine einzigartige Kunst und ein einzigartiges Handwerk. Wolfgang Jeschke gehörte zu den ganz wenigen, die diese Kunst und dieses Handwerk perfekt beherrschten.
Mit Wolfgang Jeschkes Tod haben seine Frau Rosi und sein Sohn Julian einen Ehemann und einen Vater verloren. Die deutsche Verlagsbranche hat einen großen Lektor und Herausgeber verloren. Die deutsche Literatur hat einen Ausnahmeschriftsteller verloren. Und ich habe einen Freund und ein Vorbild verloren. Aber in diesem Moment, in dem ich das hier schreibe, denke ich: Du bist doch immer noch da, Wolfgang. All die Bücher mit den schwarzen Rücken, die du herausgegeben hast, stehen immer noch in meinen Regalen. Und all die Romane und Erzählungen, die du geschrieben hast, liegen überall in meinem Zimmer herum: „Der letzte Tag der Schöpfung“ liegt neben „Osiris Land“, „Das Cusanus-Spiel“ neben „Midas“, „Meamones Auge“ neben „Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan“. All deine Worte und Geschichten und Welten, all das, was du geschaffen hast – es ist immer noch da. Und es wird immer da sein.
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