Der unschuldige Killer
Die fatale Moralkonstruktion in Orson Scott Cards »Enders Spiel« – Ein Essay von John Kessel
»Ein Buch enthält immer moralische Leitlinien, ob der Autor sie nun absichtlich eingebaut hat oder nicht. Am wenigsten Wirkung zeigen die bewusst eingebauten moralischen Leitlinien in der Literatur. Zum einen, weil sie nicht die wahren Überzeugungen des Erzählers widerspiegeln, sondern nur das, was er für seine Überzeugungen hält, oder das, wovon er seines Erachtens überzeugt sein sollte, oder das, wovon ihn andere überzeugt haben. Wenn man aber schreibt, ohne dabei mit Absicht moralische Lehren zum Ausdruck zu bringen, dann sind die aufscheinenden moralischen Werte diejenigen, die man in seinem Leben tatsächlich befolgt. Die Überzeugungen, bei denen man nicht einmal darauf käme, sie infrage zu stellen, derer man sich nicht einmal bewusst ist – die kommen zum Ausdruck. Und das verrät sehr viel mehr Wahres über die eigenen Überzeugungen als bewusste moralische Konstruktionen.« Orson Scott Card1
Im Laufe der Jahre habe ich vielen Freunden erzählt, dass es, wenn ich in der siebten Klasse Zugriff auf eine Atombombe gehabt hätte, heute einen großen Krater in New York gäbe, in dessen Zentrum die ehemalige West Seneca Junior High School läge.
Hätte es damals schon Orson Scott Cards Roman »Enders Spiel« gegeben, wäre ich vielleicht einer seiner größten Anhänger gewesen. Die Geschichte hätte mich in ihren Bann geschlagen. Der Unschuldige, der trotz und vielleicht sogar aufgrund seiner Unschuld verfolgt wird; der Junge mit den überlegenen Fähigkeiten, der keine Anerkennung findet; die Erwachsenen, die ihn nicht beschützen können; die gemeinen Kerle, die ihn schikanieren, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. So stellte sich mir die Welt in der siebten Klasse dar. Offenbar hat diese Geschichte auch heute noch für viele einen großen Reiz: »Enders Spiel« ist wahrscheinlich der beliebteste Science-Fiction-Roman, der seit den Achtzigern erschienen ist.
Mit seiner Darstellung von Ender Wiggins Kindheit und Ausbildung in »Enders Spiel« erzählt Orson Scott Card eine erschütternde Misshandlungsgeschichte. Enders Eltern und sein älterer Bruder, die Offiziere, die die Militärschule befehligen, und die anderen Kinder, die an ihr ausgebildet werden, ignorieren entweder, wie Ender misshandelt wird, oder sind selbst Mittäter.
Durch seine grausame Ausbildung wird Ender zum Meister der Gewaltanwendung gegen seine Feinde, und diese Fähigkeit lässt ihn letztlich zum Retter der menschlichen Spezies werden. Der Roman weist immer wieder darauf hin, dass Ender moralisch eine weiße Weste hat, und obwohl er letztlich die Schuld für die Ausrottung der außerirdischen Krabbler auf sich nimmt, handelt es sich dabei um einen Akt der Großmut. Er wird als Sündenbock für die Taten anderer dargestellt. Wir sollen glauben, dass die von Ender angerichtete Zerstörung nicht aus seinen Absichten folgt; das gilt nur für die Opfer, die er für andere bringt. Card vertritt in diesem Zusammenhang die Position, dass die Moralität einer Handlung einzig und allein von den Intentionen des Handelnden abhängt.
Das Ergebnis ist eine Figur, die eine gesamte Spezies auslöscht und dabei trotzdem von Grund auf unschuldig bleibt. Ziel dieses Textes ist es, die Methoden zu untersuchen, mit denen Card diese Geschichte eines schuldfreien Genozids konstruiert, auf einige diesem Szenario innewohnenden Widersprüche hinzuweisen und die intentionalistische Moral, die in »Enders Spiel« und dem Nachfolgeband »Sprecher für die Toten« zum Ausdruck kommt, infrage zu stellen.
Der Held als Opfer
»Die Verachtung und Verfolgung des schwachen Kindes sowie die Unterdrückung des Lebendigen, Kreativen, Emotionalen im Kind und im eigenen Selbst durchziehen so viele Bereiche unseres Lebens, dass sie uns kaum mehr auffallen. Mit verschiedenen Intensitäten und unter verschiedenen Sanktionen, aber fast überall findet sich die Tendenz, das Kindliche, d. h. das schwache, hilflose, abhängige Wesen so schnell wie möglich in sich loszuwerden, um endlich das große, selbstständige, tüchtige Wesen zu werden, das Achtung verdient.« Alice Miller: Am Anfang war Erziehung2
Orson Scott Card wird oft dafür gelobt, das zu schreiben, was der verstorbene John Gardner als »Literatur der Moral« bezeichnete, und »Enders Spiel« und seine Fortsetzungen werden immer wieder als herausragende Beispiele für Cards Erörterung moralischer Themen genannt. Die ursprüngliche Fassung von »Enders Spiel« war Cards erste veröffentlichte SF-Kurzgeschichte und erschien im August 1977 in Analog. Die Geschichte belegte bei der Hugo-Preisverleihung 1978 den zweiten Platz, und sie war auch der Hauptgrund dafür, dass Card im selben Jahr mit dem Campbell-Award für den Besten Neuen Autor ausgezeichnet wurde.3 Die Romanfassung erschien 1985 und gewann den Hugo- und den Nebula-Award in ihrer Kategorie. »Sprecher für die Toten« gelang 1986 das Gleiche, und bis heute ist Card der einzige Autor, der in zwei aufeinanderfolgenden Jahren sowohl den Hugo- als auch den Nebula-Award für den besten Roman gewonnen hat. Laut seiner eigenen Aussage handelt »Enders Spiel« von »einem Kind, unserem ultimativen Bild der Verwundbarkeit, das nahezu unvorstellbaren Belastungen ausgesetzt wird. Erst, als er seine Ambitionen aufgab, erzielte er den ultimativen Sieg; und dann wandelte er sich zu einer beinahe tragischen Figur, als deutlich wurde, dass sein Sieg ihn überflüssig machte und er aufgrund seiner Ausbildung als Kind für jede andere Lebensweise ungeeignet war.«4 Trotz seiner Beschäftigung mit Themen der Moral scheint Card sich in dieser Zusammenfassung seines Romans weniger für eine Infragestellung von Enders Moralität zu interessieren als dafür, Mitgefühl für ihn zu erzeugen.
Die offenkundigste Methode, durch die Card Mitgefühl für Ender erzeugt, besteht darin, ihn unbarmherzig und unverdientermaßen drangsalieren zu lassen. Schon auf der ersten Seite des Romans lügt ein Erwachsener Ender über einen schmerzhaften Vorgang an: Der Arzt, der den chirurgisch eingepflanzten Überwachungsmonitor entfernt, den Ender während seiner Evaluationszeit bei der Ausbildungsbehörde getragen hat, verspricht ihm, dass dieser Vorgang »kein bisschen wehtun« wird.5 In Wirklichkeit handelt es sich um eine Tortur.
Wenn Ender gerade einmal nicht von Autoritätspersonen belogen wird, schikaniert man ihn. Die Hauptursache des gegen Ender gerichteten Hasses besteht darin, dass er praktisch allen anderen Figuren des Romans überlegen ist – er ist intelligenter, kreativer, aufmerksamer, denkt logischer, hat tiefere psychologische Einblicke in seine Mitmenschen, ist moralisch aufrechter und im Ernstfall auch der bessere Kämpfer, obwohl er weder eine besondere Ausbildung dazu erhalten hat noch von besonders kräftiger Statur ist. Im ersten Kapitel, noch am selben Tag, an dem man Enders Monitor entfernt hat, wird er von dem Schulhofrowdy Stilson attackiert. Im Alter von sechs Jahren, bei der ersten von mehreren körperlichen Auseinandersetzungen, gelingt es Ender, Stilson absolut kampfunfähig zu machen.
Enders Familie stellt keine Zuflucht vor den Attacken dar. Sein älterer Bruder Peter quält Ender mit einer Hingabe, die in keinem Verhältnis zu irgendwelchen rationalen Beweggründen steht, was Enders Eltern überhaupt nicht aufzufallen scheint. Mehrfach droht Peter damit, Ender zu töten. Er wirkt wie das Paradebeispiel eines Psychopathen: Valentine, die Schwester der beiden, erzählt, dass er Eichhörnchen quält, indem er sie am Boden aufspießt und bei lebendigem Leibe häutet, um ihnen beim Sterben zuzusehen.6 Das Einzige, was ihn daran hindert, Ender und Valentine zu töten, ist die Gefahr, erwischt zu werden.
Doch aus Gründen, die nie ganz deutlich werden, erzählt Ender seinen Eltern nichts von alledem; er lernt früh, seine Angst und seinen Schmerz zu verbergen. »Es war das Lügengesicht, das er Vater und Mutter zeigte, wenn Peter grausam zu ihm gewesen war und er nicht wagte, es sich anmerken zu lassen.«7
In der wirklichen Welt ist die Ursache solcher Verschwiegenheit oft entweder Angst vor Vergeltungsmaßnahmen des Misshandelnden oder Scham – das Kind fürchtet, dass es in irgendeiner Weise für das ihm zugefügte Leid verantwortlich ist oder es sogar verdient. Interessanterweise wird bei der einzigen Gelegenheit, bei der Enders Vater seinen Sohn zur Rede stellt und fragt, warum er keine Erwachsenen um Hilfe bittet, wenn man ihn schikaniert, das Gespräch unterbrochen, bevor Ender etwas erwidern kann. Die Frage bleibt unbeantwortet.8
Wo sind Enders Eltern oder Lehrer, wenn er handgreiflich attackiert wird? Die Antwort auf diese Frage offenbart eine zweite Technik Cards, um Mitgefühl zu erzeugen: Erwachsene und Autoritätspersonen sind in »Enders Spiel« nie zur Stelle, wenn es darum geht, jemanden zu beschützen.
Im Falle von Peters Nachstellungen können wir die Schlussfolgerung ziehen, dass seine und Enders Eltern schlicht und einfach unaufmerksam sind (um von der Möglichkeit abzusehen, dass sie von den Misshandlungen wissen, sie aber gutheißen oder sich nicht darum scheren). Im Falle der Befehlshaber Graff und Anderson an der Kampfschule haben wir es mit Autoritätsfiguren zu tun, die ihren Drang, Ender zu helfen, bewusst unterdrücken, weil sie ihm beibringen müssen, jeder Herausforderung allein zu begegnen. »Freunde kann er haben«, sagt Graff zu einem relativ frühen Zeitpunkt in Enders Ausbildung, »Eltern sind es, die er nicht haben kann.«9 In diesem Zusammenhang ist mit »Eltern« jeder Erwachsene mit Autorität gemeint, der das Kind schützen könnte. Anstatt Ender zu helfen, verschlimmern die Erwachsenen seine Lage meistens nur noch. Wie Graff erklärt: »Ender Wiggin muss glauben, dass, ganz gleich, was geschieht, kein Erwachsener jemals eingreifen wird, um ihm auf irgendeine Weise zu helfen.«10
Die extreme Situation, die Card konstruiert, um Enders Isolation und Missbrauch zu ermöglichen, garantiert seinem Protagonisten unser Mitgefühl. Nachdem Ender durch einen Trick dazu gebracht wird, sich an der Kampfschule einzuschreiben (man belügt ihn und trennt ihn von seiner einzigen Beschützerin, Valentine), trägt Graff bewusst zu seiner fortgesetzten Schikanierung bei. An Bord der Fähre zu der Schule in der Umlaufbahn hebt Graff Ender vor allen anderen lobend hervor, nur um die Ablehnung der anderen Rekruten zu provozieren. Noch bevor sie die Schule erreichen, ist Ender dazu gezwungen, Bernard, einem seiner Peiniger, den Arm zu brechen. Wohin er sich auch wendet, sieht Ender sich mit Feindseligkeit, Verachtung und sogar tätlichen Angriffen konfrontiert. Die Folge ist eine eskalierende Reihe von Herausforderungen und gewalttätigen Reaktionen Enders. Diese Ereignisse folgen dabei immer demselben Muster:
• Andere hassen Ender für seine Fähigkeiten, seine Ehrlichkeit, seine Intelligenz und seine Überlegenheit – eigentlich einfach dafür, dass er nun mal der ist, der er ist.
• Die anderen schikanieren Ender. Sie drohen damit, ihn umzubringen.
• Ender kann entweder keine Autoritätspersonen um Hilfe bitten oder entscheidet sich dagegen.
• Selbst wenn Autoritätspersonen von den Schikanen wissen, greifen sie nicht ein. In den meisten Fällen manipulieren sie die Situation so, dass sich Enders Lage verschlimmert.
• Für eine Weile kann Ender der Konfrontation durch Schläue und psychologischen Scharfsinn aus dem Weg gehen, aber schließlich ist er dazu gezwungen, sich gegen seinen Willen einem Feind zu stellen, der fest entschlossen ist, ihn zu vernichten.
• Weil ihm keine andere Wahl bleibt, reagiert Ender mit heftiger Gewalt, wobei er sich seines Peinigers schnell und normalerweise mit tödlichem Ausgang entledigt. Ender übt diese Gewalt unpersönlich aus, gelassen, leidenschaftslos und oft ebenso sehr zum Vorteil anderer (die nicht begreifen oder sich nicht eingestehen, dass Ender für sie tötet) wie für sich selbst. Zuschauer sind von seiner Kampfkraft und scheinbaren Skrupellosigkeit beeindruckt.
• Ender erfährt nicht, dass er seinen Gegner getötet hat.
• Ender bereut seine Gewaltanwendung zutiefst. Nach jedem solchen Vorfall stellt er seine Beweggründe und seinen Charakter infrage.
• Letztlich wird uns immer versichert, dass Ender ein guter Mensch ist.
Als Mechanismus zur Erzeugung von Mitgefühl ist dieses Szenario geradezu brutal wirkungsvoll. Alle genannten Punkte finden sich in dem dramatischen Kampf wieder, der sich unmittelbar vor Enders Abschluss ereignet, als der gegnerische Kadettenkommandant Bonzo11 Madrid und seine Mitläufer Ender in der Dusche überfallen. Diese Szene ist ein hervorragendes anschauliches Beispiel dafür, wie Card die Sympathien der Leser lenkt, und ich möchte sie und die Wirkung einzelner Elemente dieser Szene hier eingehend untersuchen.
Graff und die Offiziere der Militärschule wissen seit einiger Zeit, dass Bonzo Ender töten will; sie lassen Bonzos Attacke zu, heißen sie sogar gut und zeichnen sie mit mehreren Kameras auf. Sie könnten sie verhindern, tun es aber nicht. Das führt natürlich dazu, dass wir umso mehr Mitgefühl mit Ender haben, allerdings sollen wir auch Sympathie für die Offiziere haben. Sie handeln nicht etwa so, weil sie wollen, dass Ender zu Schaden kommt, sie möchten eigentlich überhaupt nicht, dass irgendjemand zu Schaden kommt, aber sie tun es trotzdem, weil sie es tun müssen, um Ender zum Retter der menschlichen Spezies auszubilden.
Card erweitert die Situation noch um eine ganze Reihe von Umständen, die uns für Ender einnehmen sollen: Enders Feinde überraschen ihn in einem besonders verwundbaren Moment, nackt und allein in der Dusche. Ender ist kleiner und jünger als sein Gegner, und Dink, der einzige Junge, der auf Enders Seite steht, kann nicht eingreifen. Ender will nicht kämpfen, aber da die einzige Alternative darin bestünde, sich einfach umbringen zu lassen, tut er es. Und er kämpft nicht nur um seiner selbst willen – wir erfahren vielmehr, dass das Schicksal der Erde von seinem Überleben abhängt. Wenn Ender stirbt, stirbt die letzte Hoffnung der Menschheit mit ihm, sodass Selbstverteidigung für ihn zu einem letztlich selbstlosen Akt wird.
Bonzo und die anderen Jungen stehen stellvertretend für alle Schikanen, die Ender bis zu diesem Zeitpunkt des Romans erlitten hat. Zu Bonzos Bande gehört auch Enders Feind Bernard, und gedanklich schließt Ender seine früheren Peiniger ein, als er denkt: »Alles, was der Szene noch fehlte, war auch Stilsons und Peters Anwesenheit.«12 Diese Feinde sind grausam, und im Gegensatz zu Ender genießen sie die Aussicht darauf, jemanden zu verstümmeln oder zu töten, selbst wenn sie einen unfairen Vorteil haben. Die Darstellung dieser Jungen ist beinahe so melodramatisch wie die mancher Schurken in alten Stummfilmen: »Viele lächelten, das herablassende Lächeln des Jägers angesichts seiner in die Enge getriebenen Beute.«13 Bonzo freut sich schon darauf, Ender zu töten:
»Aufhören, Bonzo!«, rief Dink. »Tu ihm nichts!«
»Warum nicht?«, fragte Bonzo, und zum ersten Mal lächelte er. Ah, dachte Ender, es gefällt ihm, wenn jemand erkennt, dass er derjenige ist, der die Kontrolle hat, dass er Macht besitzt.14
Bonzo ist keiner Vernunft zugänglich. Als Dink darauf hinweist, dass ihr eigentlicher Feind die Krabbler sind und dass Enders Tod die Menschheit vielleicht zum Untergang verurteilen würde, überlegt er es sich nicht etwa anders, sondern wird nur noch wütender. Ender denkt: »Du hast mich mit diesen Worten umgebracht, Dink. Bonzo will nicht hören, dass ich die Welt retten könnte.«15 Enders Feinden ist die Menschheit egal, sie denken nur an ihre eigene Rache.
Auch für Gnadengesuche bleibt Bonzo taub. Als Ender Bonzo anfleht, ihm nichts zu tun, zeigt dieser sich nur umso entschlossener. »Anderen Jungen hätte es vielleicht gereicht, dass Ender sich unterwarf. Für Bonzo war es nur ein Zeichen für den sicheren Sieg.«16
Trotz der verzweifelten Umstände analysiert Ender ruhig Bonzos Charakter und bringt ihn dazu, sich ihm im fairen Zweikampf zu stellen. Sobald der Kampf beginnt, verprügelt Ender seinen Gegner mühelos nach Strich und Faden, ohne dabei auch nur einen Kratzer abzubekommen. Wenn es darauf ankommt, ist der beeindruckende Gegner Bonzo dumm und unfähig, oder seine Wut macht ihn dumm und unfähig. Bis jetzt hat Ender sich Bonzo nur im geistigen Wettstreit als weit überlegen erwiesen; jetzt zeigt sich, dass er es auch im körperlichen Kampf ist. Doch selbst als klar ist, dass Ender bereits gewonnen hat, fügt er Bonzo weitere Verletzungen zu, um sicherzustellen, dass dieser ihn nicht wieder angreifen wird.
Wie viele Szenen unmittelbarer Gewalt in diesem Buch und anderen Büchern von Card wird der Kampf schmerzhaft eindringlich beschrieben. Er endet damit, dass Ender Bonzo zwischen die Beine tritt, »hart und sicher«.17 Obwohl es ihm zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar ist, hat Ender Bonzo getötet. Aber damit der Leser nicht bestürzt über Enders Entscheidung ist, den Kampf bis zu Bonzos Tod fortzusetzen (ein Verhalten, das Außenstehende als rachsüchtig, unverhältnismäßig oder bösartig empfinden könnten), beharrt der Erzähler darauf, dass Ender aus absolut vernünftigen Gründen so handelt und nicht aus dem persönlichen Bedürfnis heraus zurückzuschlagen. »Die einzige Möglichkeit, ein für alle Mal Schluss zu machen, bestand darin, Bonzo so sehr wehzutun, dass seine Angst stärker wurde als sein Hass.«18
Aus dieser Situation leitet Ender verallgemeinernd ab, dass der einzige vernünftige Weg, für Sicherheit in der Welt zu sorgen, in der Bereitschaft besteht, jederzeit außerordentliche Schmerzen zu verursachen. Man kann sich auf keine Autorität, kein Gesetz, keinen Verbündeten und kein Gesellschaftssystem verlassen. »Die Macht, Schmerzen zu verursachen, ist die einzige Macht, die zählt; die Macht zu töten und zu vernichten. Wenn du nicht töten kannst, dann bist du immer das Opfer derjenigen, die es können, und nichts und niemand wird dich jemals retten.«19
Trotz dieser martialischen Philosophie versichert der Erzähler uns anschließend einmal mehr, dass Ender in seinem Herzen Pazifist ist. Als Dink rechtfertigt, wie Ender Bonzo zusammengeschlagen hat (Bonzo wollte Ender töten, Bonzo war ein Unruhestifter, er war stärker und größer), bricht Ender weinend zusammen. »Ich wollte ihm nicht wehtun!«, beteuert er. »Warum hat er mich bloß nicht in Ruhe gelassen!«20
Erst viel später erfahren wir, dass Bonzo nicht bloß verletzt, sondern tot ist. Gleichzeitig erfahren wir (mit fast 300 Seiten Verspätung), dass Ender auch Stilson in einem ganz ähnlichen Kampf getötet hat, als er sechs war. Die Offiziere haben Ender diese Todesfälle verheimlicht. Allerdings hat dadurch auch der Leser nichts von ihnen erfahren, weshalb die Folgen von Enders Gewalttaten als von seinen Handlungen losgelöst erscheinen und es unwahrscheinlicher wird, dass man Ender in dem Moment verurteilt, in dem er sie begeht. Wie um Ender noch zusätzlich von unserem Urteil abzuschirmen, versichert uns Graff ein paar Zeilen, nachdem wir von Bonzos und Stilsons Tod erfahren: »Ender Wiggin ist kein Killer. Er gewinnt bloß … nachhaltig.«21
Graffs Einschätzung der Tode von Bonzo und Stilson stellt klar, wie Card einen Killer definiert. Anscheinend kann jemand Hunderte, Tausende, sogar Milliarden töten, ohne ein »Killer« zu sein (Ender »tötet« letztlich eine ganze Spezies). Ein Killer ist jemand, der entweder von Wut oder von Eigennutz angetrieben wird. Um ein Killer zu sein, muss man die Absicht haben, jemanden zu töten. Und selbst wenn man die Absicht zu töten hat, ist man trotzdem unschuldig, wenn man es aus einem übergeordneten Grund heraus tut, »selbstlos«, ohne persönliche Beweggründe. Und wenn man wegen dem, was man zu tun gezwungen war, ein schlechtes Gewissen hat.
In ihrem Artikel »Schwuler Sex und Tod in der Science Fiction des Orson Scott Card«22 zeigt Kate Bonin, wie mit Bonzos Tod Enders letztliche Vernichtung der Krabbler vorweggenommen wird. Die Geschichte des Kriegs gegen die Krabbler folgt dem Muster des Kampfs gegen Bonzo: Tatsächlich vergleicht Ender kurz vor der letzten Schlacht, in der er die Krabbler auslöscht, seine Konfrontation mit ihnen explizit mit dem unfairen Kampf in der Dusche. Wenn man bedenkt, wie oft dieses Szenario eines ungerechtfertigten Angriffs und einer brutalen Erwiderung sich nicht nur in »Enders Spiel«, sondern auch in Cards anderen Geschichten und Romanen wiederholt, darf man vermuten, dass es viel mit seiner Vision moralischen Handelns zu tun hat.
Der unschuldige Killer
Diese Tötungen durch einen Helden, zu dessen sympathischer Darstellung Card einen solchen Aufwand betreibt, weisen darauf hin, dass er die fundamentale Prämisse seiner moralischen Vision der denkbar härtesten Prüfung unterziehen will. Diese Prämisse lautet, dass es von den Motiven des Handelnden abhängt, ob eine Tat richtig oder falsch ist und nicht von der Tat selbst oder ihren Auswirkungen.
Nicht nur an dieser Stelle setzt Card sich für eine Moral ein, die auf der Grundlage von Intentionen fußt. Immer wieder werden wir bei der Lektüre von »Enders Spiel« dazu angehalten, das Handeln einer Figur nicht anhand seiner Auswirkungen (selbst wenn diese tödlich sind) zu beurteilen, sondern anhand der Beweggründe der handelnden Person. Ender drückt es in »Sprecher für die Toten« folgendermaßen aus: »Der einzige Lehrsatz der Sprecher für die Toten lautet, dass Gut und Böse einzig und allein bezüglich menschlicher Beweggründe existieren und niemals bezüglich einer Handlung.«23
Obwohl dieser Lehrsatz in »Enders Spiel« nicht kodifiziert wird, ist er dort überall präsent. Und indem er diese moralische Prämisse in Situationen, in denen ein Mord oder sogar ein Genozid verübt wird, auf die Probe stellt, scheint Card den Leser zu ihrer Ablehnung herauszufordern – als wollte er sagen, dass eine Moral der Intentionalität, wenn sie dieser Prüfung standhält, jeder Prüfung standhält. Aber während er einerseits diese schwierigen Beispiele wählt, gibt Card sich andererseits große Mühe, die Leser dazu anzuhalten, dass sie Ender nicht auf Grundlage seiner gewalttätigen Vergeltungsmaßnahmen gegen seine Feinde verurteilen. Immer wieder wird uns ohne jeden ironischen Unterton versichert, dass Ender ein guter Mensch ist. Kurz nach Enders Rekrutierung (und kurz nachdem er Stilson getötet hat) sagt Graff zu Anderson: »Er ist rein. In seinem Herzen ist er gut.«24 Später versichert Graff: »Er hat innere Größe. Eine geistige Statur.«25 Ender selbst protestiert: »Ich wollte niemanden umbringen! … Sie haben mich niemals gefragt!«26
In einer langen Szene zwischen Graff und Valentine erklärt Valentine verzweifelt: »Ender ist nicht wie Peter!«
»Nun, vielleicht bin ich wie Peter, aber Ender nicht, er ist keineswegs so, das habe ich ihm immer gesagt, wenn er weinte, ich habe ihm das viele Mal gesagt: Du bist nicht wie Peter, dir macht es nie Freude, anderen Menschen wehzutun, du bist freundlich und gut und nicht im Geringsten so wie Peter!«
»Und es stimmt.«
»Ganz recht, verdammt, es stimmt. Es stimmt.«27
Die Ursache von Valentines Verzweiflung und der Grund dafür, dass Graff sie zu diesem Thema ausfragt, ist ihr gemeinsames Wissen darum, dass Ender Taten begangen hat, die ebenso brutal wie die von Peter sind – genaugenommen sogar brutaler. Der Unterschied zwischen Peter und Ender liegt nicht in dem, was sie tun, sondern in dem, was sie sind. Peter macht es Spaß, Menschen zu verletzen; Ender ist es ein Graus. Enders ist »sanftmütig« und »gut«, selbst wenn sein Handeln diese Charakterisierung Lügen straft.
Auch andere Figuren in »Enders Spiel« sind zu Handlungen gezwungen, die sie als unmoralisch betrachten und die ihrem Charakter zuwiderlaufen, um die Welt vor den Krabblern zu retten. Graff, der Enders brutale Ausbildung orchestriert, behauptet steif und fest: »Ich bin sein Freund«28, obwohl er es in keiner Weise unter Beweis stellt und tatsächlich sogar viel unternimmt, was einen neutralen Beobachter darauf schließen ließe, dass er Ender zerstören will. Und was Enders menschliche Güte betrifft, beharrt der Autor darauf, dass diese Charakterqualität nicht durch Handeln unter Beweis gestellt werden muss. »Ich glaube eigentlich nicht, dass ›die Straße zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert ist‹«, erklärte Card 2002 in einem Interview.29 »Gute Menschen, die versuchen, Gutes zu tun, finden normalerweise irgendeine Möglichkeit, das auch hinzubekommen. Was mir Sorgen macht, sind schlechte Menschen, die versuchen, Gutes zu tun. Sie sind nicht gut darin, sie haben kein Gefühl dafür, und sie sind dazu bereit, auf dem Weg eine Menge Schaden anzurichten.« Diese Aussage bedeutet nichts weniger, als dass es Menschen gibt, die gut sind, noch bevor sie handeln, und das andere schlecht sind, noch bevor sie handeln, und dass das Gut- oder Schlechtsein in ihrem Handeln zum Ausdruck kommt. Die »schlechten« Menschen können nichts Gutes tun, und die »guten« Menschen können nichts Schlechtes tun.
So erkennen wir später, dass Ender, als er zum Kadettenkommandanten ernannt wird und sein unfairer und willkürlich grausamer Umgang mit dem ihm untergeordneten Kadetten Bean an Enders eigene Behandlung durch Graff erinnert, nichts Falsches tut. Genau wie Graff es bei Ender getan hat, bringt Ender die anderen Kadetten dazu, Bean abzulehnen, damit Bean gezwungen ist, seine Überlegenheit unter Beweis zu stellen. »Das war die einzige Möglichkeit, wie er Respekt und Freundschaft gewinnen konnte«30, sagt Ender zu sich selbst (allerdings nicht zu Bean). »Ich tue dir weh, um dich in jeder Hinsicht zu einem besseren Soldaten zu machen … Außerdem mache ich dich unglücklich.«31 Wie Graff beharrt auch Ender darauf, dass er (insgeheim) Beans Freund ist.
Immer und immer wieder stehen diesen beispielhaften »guten« Menschen, deren Grausamkeiten gerechtfertigt oder sogar Freundschaftsdienste an ihren Opfern sind, die »schlechten« Menschen gegenüber, deren grausamer Umgang mit anderen im Gegensatz zu Graffs und Enders Tun aus bösartigen Beweggründen herrührt: Peter, Stilson, Bernard, Bonzo. Nie gibt man uns Anlass zu der Frage, ob sie vielleicht auch gute Gründe für ihr Handeln haben (was auch schwer vorstellbar wäre). Bernard ist von der ersten Zeile an ein Sadist. Stilson ist ein Grobian. Peter ist ein Psychopath. Bonzo wird von Neid und Hass verzehrt.
Card gibt sich also in »Enders Spiel« größte Mühe, eine Situation zu erzeugen, in der es uns nicht gestattet ist, die Moralität irgendeiner seiner als gut definierten Figuren anhand ihrer Taten zu beurteilen. Die gleiche zerstörerische Tat, aufgrund derer ein schlechter Mensch verurteilt werden kann, fällt nicht auf den Handelnden zurück, wenn es sich bei ihm um einen guten Menschen handelt, und kann sogar als Zeichen seiner besonderen Tugend aufgefasst werden.
Der Lehrsatz, dass die Moralität einer Handlung einzig und allein von den Beweggründen des Handelnden abhängt, beruht auf einer nicht zu unterschätzenden Grundannahme: nämlich auf der, dass die Guten sich immer über ihre Beweggründe im Klaren sind und niemals etwas aus selbstsüchtigen Gründen tun, während sie sich einbilden, aus Tugendhaftigkeit zu handeln. Ender durchschaut seine eigenen Motive und die der anderen absolut. Er hat nie den Verdacht, dass er vielleicht etwas anderes tut als das, was er zu tun meint, und tatsächlich macht er es sich in »Sprecher für die Toten« zur Lebensaufgabe, unfehlbare moralische Urteile über andere zu fällen. Als Stryka, eine der Studentinnen auf Trondheim, der von den Sprechern vertretenen intentionalistischen Moral widerspricht, tut Ender ihren Einwand ab.
»Xenozid ist Xenozid«, sagte Stryka. »Nur weil Ender nicht wusste, dass die Krabbler Ramen [das heißt Menschen] waren, sind sie nicht weniger tot.«
Strykas unversöhnliche Haltung ließ Andrew aufseufzen. Es war Mode unter den Calvinisten32 auf Reykjavik, den menschlichen Beweggründen keinerlei Gewicht bei dem Urteil darüber beizumessen, ob eine Tat gut oder böse war … Andrew verübelte es ihr nicht – er verstand ihre Beweggründe dafür, eine solche Haltung einzunehmen.33
Die Möglichkeit, dass Stryka einen legitimen Grund für ihren Einwand gegen Enders Verhalten hat, kommt überhaupt nicht in Betracht – die von ihr geäußerten Bedenken sind nur eine »Mode«. Eine Seite weiter erkennt Ender als ihre eigentliche (ihr selbst unbekannte) Motivation die Angst vor dem Fremden. In diesem Fall sind aber nicht die von Ender ausgelöschten Außerirdischen das Fremde, sondern Ender ist es selbst. Dass Stryka sich am Genozid an den Krabblern stört, ließe sich als Ausdruck ihrer Sorge um das im Prinzip ebenfalls menschliche »Fremde« interpretieren, doch stattdessen wird es als Beispiel dafür dargestellt, wie der »Fremde« zum Sündenbock gemacht wird – doch in diesem Fall wird der Fremde vom Ausgelöschten zum Auslöschenden umdefiniert. Das ist ein sehr geschickter Schachzug: Die Aufmerksamkeit derjenigen Leser, denen es darum geht, das »Fremde« zu verstehen, wird auf die Sorge um den Mörder der Außerirdischen gelenkt, wodurch die Verurteilung eines Genozids mit einem Mal als Ausdruck von Ressentiment und Kleingeistigkeit erscheint. Ender ist nicht der Täter, sondern das missverstandene Opfer der von ihren Ängsten und Vorurteilen gelenkten anderen.
Dieses Verwirrspiel bestimmt alle Ender-Romane. In der ausgedehnten Endsequenz von »Enders Spiel« und in der gesamten Handlung von »Sprecher für die Toten« wird Ender im Zusammenhang mit der Auslöschung der Krabbler als Opfer dargestellt und nicht als Täter. Card gründet einen Großteil der Geschichte des letzteren Romans auf der Ironie, dass dieser denkbar moralischste aller Menschen (Gründer einer neuen Religion des gegenseitigen Verständnisses) von weniger moralischen Personen für böse gehalten wird. Tatsächlich funktioniert das Motiv von Enders Ruf als »der Xenozid« in »Sprecher für die Toten« nur, wenn er sich nicht wirklich des Genozids schuldig gemacht hat.
Der schuldfreie Genozid
Wie bereits angedeutet, unterzieht dieses Thema des Genozids die intentionalistische Moral ihrer ultimativen Prüfung. Vielleicht können wir Ender dafür vergeben, dass er Stilson und Bonzo getötet hat, aber können wir ihm die Auslöschung einer gesamten Spezies intelligenter Wesen verzeihen? Die Frage wurde bereits in einem Essay von Elaine Radford gestellt, das 1987 im Fantasy Review erschien.34 Radfords Essay enthält viele Aussagen, denen ich nicht zustimme, und vergreift sich streckenweise im Ton, aber es rührt an mehrere Themen, die auch für mein Unbehagen an Cards Büchern zentral sind.
Radford mutmaßt, dass Card »Enders Spiel« als Apologie für Adolf Hitler verfasst hat. Sie weist auf gewisse Parallelen zwischen Enders und Hitlers Lebensgeschichte hin – sie waren beide dritte Kinder, hatten beide erst im Alter von 37 Jahren zum ersten Mal Sex, standen beide ihren älteren Schwestern nahe, wurden beide von Erwachsenen missbraucht und beide verübten Völkermord.
Card wies diese Vermutung in derselben Ausgabe des Fantasy Review von sich.35 Er erklärte, dass ihm keine der biografischen Informationen über Hitler, die Radford erwähnt, bekannt gewesen seien. Bei derartigen Parallelen handele es sich um »triviale Zufälle«. Er erklärte darüber hinaus, dass er Ender als moralisches Gegenteil von Hitler entworfen habe: Hitler habe gewusst, was er tat, Ender habe es nicht gewusst. Hitler habe die Auslöschung von Lebewesen beabsichtigt; Ender nicht. Hitler habe keine moralischen Bedenken verspürt; Ender fühle sich schuldig und verbringe den Rest seines Lebens damit, Buße für die Auslöschung der Krabbler zu tun.
Ich möchte an dieser Stelle unmissverständlich klarstellen, dass ich nicht glaube, Orson Scott Card habe »Enders Spiel« als Hitler-Apologie geschrieben. Ich halte die von Radford entdeckten biografischen Ähnlichkeiten nicht für ein Indiz dafür, dass Card tatsächlich eine Parallele zu Hitler herstellen wollte – mit Ausnahme der Parallele, dass Ender ebenfalls einen Genozid begeht. Wie Card betrachte ich die übrigen Ähnlichkeiten als Zufälle.
Doch obwohl Card sich große Mühe gibt, darauf hinzuweisen, wie sorgfältig er Ender als Hitlers moralischen Gegenpol angelegt hat, gibt er zu, dass er mit Absicht das Thema des Genozids verwendet hat:
Im weitesten Sinne dürfte jedem Leser von »Enders Spiel« und »Sprecher für die Toten« klar sein, dass ich durchaus eine entscheidende Parallele zwischen historischen Ungeheuern wie Hitler, Stalin und Amin und meiner Figur Ender ziehe: Die Öffentlichkeit sieht sie als verabscheuungswürdige Massenmörder. Trotz ihres vergleichbaren öffentlichen Images zielen aber alle anderen Bestandteile von Enders Geschichte darauf ab zu zeigen, dass dieses Image in seinem Fall nicht der Wirklichkeit entspricht – er ist nicht wie Hitler oder Stalin, ganz im Gegensatz zu Radfords Behauptungen. Ich versuche ganz und gar nicht, Ender zu benutzen, um Sympathien für Hitler zu wecken, sondern ich verwende den Kontrast zu Hitler, Stalin und anderen Völkermördern, um die Figur des Ender Wiggins zu erhellen.36
Die Menschen in »Enders Spiel« wären niemals darauf gekommen, dass sie eine andere Spezies auslöschten; sie glaubten vielmehr, dass sie die kriegerischen Kapazitäten eines Eindringlings zerstörten. Der Genozid war die Folge davon, dass ihnen nicht klar war, welche Wirkung der Tod der Krabbler-Königin auf die Krabbler haben würde.37
Glaubt Radford wirklich, ich würde behaupten, dass die Beinahe-Auslöschung der europäischen Juden durch Hitler ein Unfall war? Dass er und seine Handlanger nicht wussten, dass all die Juden in ihren Todeslagern ums Leben kommen könnten? Aber wenn ich Enders Verbrechen der Absicht nach so deutlich von Hitlers bewusstem Genozid unterscheide, wie kommt sie dann darauf, dass ich Enders Geschichte als Hitler-Apologie gemeint habe?38
Diese Textabschnitte stecken voller Verschleierungsversuche. Erstens verbirgt die Wortwahl »dass sie die kriegerischen Kapazitäten eines Eindringlings zerstörten« geschickt, was tatsächlich in dem Roman geschieht: Die Krabbler verfügen deshalb über keine kriegerischen Kapazitäten mehr, weil sie ausgelöscht sind. Das als Zerstörung ihrer kriegerischen Kapazitäten zu bezeichnen, ist etwa so, als würde man das Köpfen eines Menschen als »Zerstörung seiner Fähigkeit zu pfeifen« charakterisieren.
Zweitens ist es unvorstellbar, dass die Befehlshabenden nicht zumindest geahnt haben sollen, dass der Tod der Königin den ihrer gesamten Art zur Folge haben würde; im Kampf agieren die Krabbler immer als Einheit, als würden sie von einem einzigen Verstand gesteuert, und bei Mazer Rackhams berühmtem Sieg vor Jahrzehnten legte die Zerstörung eines einzigen Schiffs die gesamte Krabbler-Flotte lahm. Rackham erklärt Ender vor der letzten Schlacht ausführlich die Natur des Gruppenbewusstseins der Krabbler, und Ender bringt dieses Wissen bei seinen strategischen Planungen zum Einsatz. Es gibt nur einen Grund, warum die Befehlshabenden nichts von den Folgen ihres Tuns hätten wissen sollen, und der besteht darin, dass Card dadurch behaupten kann, der Genozid sei letztlich ein Unfall gewesen.
Drittens ist selbst das Argument über die Krabbler-Königin ein Ausweichmanöver. Ender tötet nicht einfach die Königin: Er pulverisiert die Heimatwelt der Krabbler. Das »M.D.-Feld« ist eine Waffe, die die Materie im Bereich einer sich ausbreitenden Blase zerstört. Ender weiß genau, was es tut, genau wie seine Befehlshaber. Als er das M.D.-Feld aktiviert, bleibt von dem Planeten der Krabbler nichts als »eine Kugel aus hellem, nach außen wirbelndem Staub … wo die gewaltige Feindflotte und der Planet, den sie schützte, gewesen waren, gab es nichts Bedeutungsvolles mehr.«39 Auch wenn die Krabbler kein Gruppenbewusstsein hätten, wäre die Zerstörung ihres Planeten immer noch ein Akt der Auslöschung.
Viertens beharrt Card in den zitierten Textstellen darauf, dass der Unterschied zwischen Hitlers Genozid und dem Enders darin besteht, dass Ender den seinen versehentlich verübt habe. Ender glaubt, an einer Simulation teilzunehmen, während Hitler wusste, dass es die Gaskammern wirklich gab. Dieses SF-Element (Krieg per Fernsteuerung) dient als weiteres Ausweichmanöver bezüglich der Moralität von Enders Handeln; in Wirklichkeit begeht niemand versehentlich einen Völkermord. Es handelt sich um eine weitere Parallele zwischen dem Krieg gegen die Krabbler und den Kampfszenen, in denen Ender Stilson und Bonzo tötet. Alle drei Ereignisse sind von Card gegen jede Wahrscheinlichkeit so konstruiert, dass Ender nicht bewusst wird, dass er seine Gegner tötet. Doch ob Enders simulierte Schlachten nun Übungszwecken dienen oder real sind, es bleibt der letztendliche Zweck jeder Übung, ein vergleichbares Zerstörungswerk in Wirklichkeit anzurichten. Ender und seine Befehlshaber steuern auf diese Schlacht zu und wissen das auch; dass Ender dabei überlistet wird, hat nur zur Folge, dass sie sich früher ereignet.
Fünftens impliziert Card, dass Enders erfolgreiche Vernichtung der Krabbler die Menschheit geschockt hätte. Doch die Offiziere schätzen Ender von Anfang an dafür, dass er, wenn er es muss, zu extremer Gewalt greift und nachhaltig dafür sorgt, dass sein Feind sich nicht wieder sammeln und erneut angreifen kann. Ender zerstört Bonzos und Stilsons »kriegerische Kapazitäten«, indem er sie tötet. Die Befehlshaber betrachten den Umstand, dass Ender seine Gegner getötet hat, nicht als unglückliche Überreaktion, sondern als wertvolle Charaktereigenschaft. Sie brauchen jemanden, der so weit geht, sie machen eine solche Person aus Ender, und sie rechtfertigen sein Tun. Der Umstand, dass Ender den Krieg durch die völlige Vernichtung des Feindes gewinnt, kann also schwerlich als unbeabsichtigte Folge aufgefasst werden. Und als die Heimatwelt der Krabbler ausgelöscht wird, sind die Menschen im Stabszimmer nicht entsetzt, sondern erleichtert, sogar überglücklich, und danken Gott für ihre Rettung.40
Niemand bezichtigt Graff oder einen der anderen Befehlshaber des Völkermords. Als das Gericht Graff nach dem Krieg wegen »Kindesmisshandlung, fahrlässige[r] Tötung«41 in seiner Funktion als Leiter der Militärschule anklagt, wird er aufgrund einer Rechtfertigung, die an die Nürnberger Prozesse erinnert, freigesprochen: »Ich sagte, ich hätte getan, was ich für die Erhaltung der menschlichen Spezies für notwendig hielt.«42 Als Bonzos Tod durch Ender bei dem Verfahren zur Sprache kommt, streiten »die Psychologen und Rechtsanwälte darüber …, ob Mord oder eine Tötung in Notwehr vorlag … Während der gesamten Verhandlung war es in Wirklichkeit Ender, der unter Beschuss stand. Die Anklage war zu schlau, ihn direkt zu attackieren, aber es gab Versuche, ihn krank, pervertiert, in verbrecherischer Weise verrückt erscheinen zu lassen.«43 Der einzige denkbare Sinn dieser letzten Aussage besteht darin, uns zu versichern, dass Ender nicht krank, pervertiert oder verrückt ist. Die Anklagen gegen Graff und indirekt auch gegen Ender sind fehlgeleitet und ungerechtfertigt.
Obwohl aus dem Buch also hervorgeht, dass die Auslöschung der Krabbler mindestens ein Kriegsverbrechen ist, will Card uns davon überzeugen, dass Graff und Ender unschuldig sind. Jede Schuldzuweisung an ihre Adresse ist ungerecht.
Der einsame Retter
Aber Moment mal. Obwohl man ihn unmittelbar nach dem Krieg gegen die Krabbler als Helden empfängt und er vor Gericht freigesprochen wird, wird Ender nicht nach einiger Zeit letztlich doch als Massenmörder hingestellt? Trotz Mazer Rackhams Zusicherung, dass Ender keine Schuld trifft (nach der Schlacht sagt Mazer: »Wir haben mit dir gezielt. Wir sind verantwortlich. Wenn etwas falsch war, haben wir es getan.«44), wird er als »der Xenozid« in die Geschichte eingehen. Weist das nicht darauf hin, dass Ender Cards Meinung nach etwas Falsches getan hat?
Und macht Ender sich nicht sogar selbst größere Vorwürfe, als die anderen es tun? Nachdem er Stilson brutal zusammengeschlagen hat und nach praktisch jeder Gewalthandlung, die er verübt, beschuldigt er sich selbst, ein ebensolcher Sadist wie Peter zu sein. Als Ender sich einer Expedition anschließt, die die neu erschlossenen Welten jenseits des Sonnensystems besiedeln soll, ist ihm das Lob der anderen Kolonisten zutiefst unbehaglich. Er will nicht hören, »wie jung er doch sei, es bräche ihnen das Herz, und sie würden ihm keine Vorwürfe für irgendeinen seiner Morde machen, weil es nicht seine Schuld sei, schließlich sei er doch nur ein Kind …«45 Ender blickt in den Spiegel und sieht »Augen, die sich angesichts einer Milliarde Morde grämten«.46 »All seine Verbrechen lasteten schwer auf ihm, die Tode von Stilson und Bonzo nicht schwerer und nicht leichter als die übrigen.«47 Er fliegt zu den Koloniewelten, um seine Schuld an den Krabblern »zurückzuzahlen, indem ich sehe, was ich aus ihrer Vergangenheit lernen kann«.48 Letztlich findet er eine Krabbler-Königin im Winterschlaf und bringt ihren Kokon auf eine andere Welt, um dort die Krabbler wiederauferstehen zu lassen.
Aber anstatt Enders moralischen Charakter ernsthaft zu untergraben, sollen seine Selbstanklagen lediglich jeden Ansatz zu der Vermutung zerstreuen, dass Ender irgendwelche anderen Beweggründe als pure Notwendigkeit für seine scheinbar übertriebene Gewalt hatte. Ein sich selbst geißelnder Unschuldiger erklärt uns, dass er nie irgendwelche persönliche Befriedigung daraus gezogen habe, anderen Schaden zuzufügen, und was ein Außenstehender für einen Racheakt halten könnte, ist nach Auskunft des Autors höchstpersönlich reine Selbstverteidigung. Darüber hinaus haben wir festgestellt, dass Card die Handlung so konstruiert hat, dass Ender schuldlos töten kann und auch nachdrücklich für eine entsprechende Ethik eintritt. Gemäß der intentionalistischen Moral, die, wie wir in »Sprecher für die Toten« erfahren, der »einzige Lehrsatz« von Enders neuer Religion ist, hat er sich nicht des Genozids schuldig gemacht. Wir, die wir Zeuge davon waren, wie Ender praktisch von Geburt an misshandelt wurde, und die wir mit angesehen haben, wie schmerzvoll jeder einzelne Abschnitt seiner Ausbildung für ihn war, müssen nun beobachten, wie er die Schuld für die Auslöschung der Krabbler allein auf sich nimmt.
Card hat in verschiedenen Interviews über seine Neigung zu Geschichten über Personen gesprochen, die sich für die Gemeinschaft opfern. Seinen eigenen Worten zufolge fühlt er sich immer wieder zu diesem Thema hingezogen. Um die Gewaltdarstellungen in seinen Büchern zu rechtfertigen, sagte Card beispielsweise 1990 gegenüber Publishers Weekly: »In jedem dieser Fälle handelte es sich bei den erlittenen Grausamkeiten um freiwillige erbrachte Opfer. Die Person, die gequält wurde, litt um der Gemeinschaft willen.«49 Diese Aussage erscheint mir verblüffend entlarvend. Mit »die Person, die gequält wurde« bezieht sich Card nicht auf Stilson, Bonzo oder die Krabbler, die vielleicht geopfert werden, deren Opfer aber mit Sicherheit nicht »freiwillig« sind. Ihre Tode sind es nicht, was Cards Interesse weckt. Nein, laut Card ist die Person, die in diesen Situationen gefoltert wird, Ender, und obwohl er jede Schlacht überlebt, ist er derjenige, der das Opfer bringt. In jeder Situation, in der Ender Gewalt gegen jemanden ausübt, ist es immer er, für den Mitgefühl geweckt werden soll, und niemals derjenige, gegen den die Gewalt ausgeübt wird. Es ist Ender, der das freiwillige Opfer bringt, und das Opfer ist in diesem Fall der emotionale Preis, den er dafür zahlen muss, einen anderen körperlich zu vernichten. Das ganze Gewicht dieser Textstellen liegt auf dem Preis, den der Vernichtende entrichten muss, und nicht auf dem, den der Vernichtete bezahlt. »Mir tut es mehr weh als dir« könnte das Motto von »Enders Spiel« lauten.
Wenn Schuld oder Unschuld also einzig und allein von den Absichten des Handelnden bestimmt wird und die Toten aufgrund eines Missverständnisses tot sind, oder weil sie sich ihre Vernichtung selbst zuzuschreiben haben, und wenn das wahre Opfer im Leid des Tötenden besteht und nicht im Leid der Getöteten – dann sind Enders Schuldgefühle unbegründet. Aber trotz des Umstands, dass er im Grunde genommen unschuldig ist, nimmt er »die Sünden der Welt« auf sich und erträgt die Schmach, die eigentlich denjenigen gebührt, die ihn bei ihrem Genozid zum Werkzeug gemacht haben. Er ist der Killer als Sündenbock. Der Völkermörder als Erretter. Hitler als Jesus Christus, unser Erlöser.
Die Anspielung auf Jesus mache ich nicht leichtfertig. Die Christusfigur taucht, genau wie die Figur Hitlers, in »Enders Spiel« kurz auf, und die Assoziationen, die sie wachruft, sind entlarvend. Als Enders Freund Alai darauf hinweist, dass »Salaam«, sein gewohnheitsmäßiger Gruß gegenüber Ender, »Friede sei mit dir« bedeutet, kommt Ender sofort ein Bild dazu in den Sinn. Er erinnert sich, wie seine Mutter Jesus nach der Heiligen Schrift zitiert hat:
»Denke nicht, dass ich gekommen bin, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Ender hatte sich vorgestellt, wie seine Mutter Peter den Schrecklichen mit einem blutigen Rapier durchbohrte, und die Worte waren zusammen mit dem Bild in seinem Geist geblieben.«50
Das Wort »Frieden« erinnert Ender nicht an den Fürsten des Friedens, nicht an den Jesus, der auch die andere Wange hinhält, nicht an den Jesus, der seinen Apostel zurückhielt, als dieser den Soldaten angreifen wollte, der Jesus auf dem Ölberg festnehmen wollte. Die Worte »Friede sei mit dir« rufen in ihm stattdessen ein Bild mörderischer Rache an seinem persönlichen Peiniger auf: der Erlöser als rechtschaffener Richter.
Dass Ender am Ende des ersten Romans und in »Sprecher für die Toten« die Schuld für die Auslöschung der Krabbler auf sich nimmt, stellt also in keiner Weise eine Zurückweisung seiner früheren Gewalthandlungen dar, die nach wie vor als gerechtfertigt dargestellt werden; es zeigt vielmehr die »innere Größe«, für die ihn Graff zuvor gelobt hat. Ender löscht eine außerirdische Spezies aus, wird als Retter der Menschheit gefeiert, und seine Schuldgefühle und seine Buße für Sünden, die er nicht begangen hat, werden ihm auch noch zugute gehalten. Erst opfert er sich emotional, um die Menschheit mit Leib und Leben zu retten, und nach dem Tod der Krabbler opfert er sich moralisch, damit die anderen sich unschuldig vorkommen können. Er geht als Ungeheuer in die Geschichte ein. Doch in Wirklichkeit ist das Ungeheuer ein Erlöser.
Weil er sein Leben für die anderen geopfert hat, kennt Ender nur wenig Freude im Leben. Er zieht Befriedigung aus seinem Einsatz für andere, obwohl seine Arbeit meist nicht erkannt, oder wenn doch, nicht gewürdigt wird. Sein Zorn und seine Entfremdung schlummern tief unter der Oberfläche.
Warum ist »Enders Spiel« so beliebt?
»Enders Kindheit basiert, wenn auch nur sehr locker, auf meiner eigenen. Seine Beziehung zu Peter und Valentine basiert nicht auf meiner wirklichen Beziehung zu meinem älteren Bruder und meiner Schwester, sondern darauf, wie ich diese Beziehungen wahrgenommen habe, als ich in Enders Alter war. Enders neue Sicht auf Peter später im Leben zeichnet die Gefühle nach, die ich empfand, als ich als Teenager selbst eine neue Sicht auf meinen Bruder gewann und begriff, dass ich mit meiner kindlichen Wahrnehmung von ihm hoffnungslos falsch lag.« Orson Scott Card51
»Was geschieht mit den zahlreichen Menschen, an denen die Anstrengungen der Erzieher erfolgreich waren? Es ist undenkbar, dass sie als Kinder ihre echten Gefühle leben und entwickeln konnten, denn zu diesen Gefühlen hätten doch auch der verbotene Zorn und die ohnmächtige Wut gehören müssen – ganz besonders, wenn diese Kinder geschlagen, gedemütigt, belogen und hintergangen wurden. Was geschieht nun mit diesem ungelebten, weil verbotenen Zorn? Er löst sich leider nicht auf, sondern verwandelt sich mit der Zeit in einen mehr oder weniger bewussten Hass gegen das eigene Selbst oder gegen andere Ersatzpersonen, der sich verschiedene, für den Erwachsenen bereits erlaubte und gut angepasste Wege der Entladung sucht.« Alice Miller: Am Anfang war Erziehung52
Auch mehrere Jahrzehnte nach seiner Erstveröffentlichung verkauft sich »Enders Spiel« allein in den USA noch immer hundert- bis zweihunderttausendmal pro Jahr.53 Ich habe gehört, wie Studenten darüber reden. Bei jungen Lesern erfreut es sich enormer Beliebtheit. Es trifft den Massengeschmack. Im letzten Semester hat einer meiner eifrigsten Studenten, ein gläubiger Christ, »Enders Spiel« angepriesen, und ein anderer, ein Zyniker und ganz und gar kein Christ, pflichtete ihm mit den Worten »wirklich ein tolles Buch« bei.
Ich möchte die Vermutung äußern, dass die von mir im Text aufgeführten Ausweichmanöver und ihre Übereinstimmung mit der Psychologie der Adoleszenz eine Erklärung für die breite Beliebtheit dieses Romans sind. Die Psychologin Alice Miller hat die Mechanismen der Misshandlung, die in der »normalen« Kindeserziehung weit verbreitet sind, untersucht und erklärt, wie misshandelte Kinder ihre Erlebnisse zum Teil ihrer Psyche machen, um sie dann Jahre oder Jahrzehnte später auszuagieren. Miller erklärt, wie Kinder Misshandlungen oft rechtfertigen oder sogar deren Missbrauchscharakter leugnen. Ich habe es verdient, sagen sie, ich musste gesellschaftsfähig gemacht werden, meine Eltern haben mich trotzdem geliebt, sie hatten einen guten Grund dafür, sie haben es zu meinem eigenen Besten getan. In extremen Fällen reden die Misshandelten sich ein, dass ihre Misshandlung ein Zeichen von Liebe war.
Weil die Misshandler also insgeheim ihre Freunde waren, darf sich die Wut nicht auf sie richten. Der unterdrückte Zorn wird stattdessen verschoben abreagiert. Losgelöst von ihrer eigentlichen Ursache verschaffen sich die Gefühle der Wut, Hilflosigkeit, Verzweiflung, Sehnsucht, der Angst und des Schmerzes in zerstörerischen Handlungen gegen andere oder gegen sich selbst Ausdruck.
Wenn das misshandelte Kind älter ist und die Macht hat, seine unterdrückte Wut auszuagieren, kann es sich nicht mit dem Gegenstand seiner Wut identifizieren. Über verurteilte Kindesmisshandler stellt Alice Miller beispielsweise fest: »Ganz selbstverständlich haben sie ihren Kindern das gleiche Leid zugefügt, das ihnen angetan wurde.«54 Trotzdem kommt es dem Misshandelnden vor, als würde er misshandelt, als würde er das Opfer bringen, und die Auswirkungen seiner Handlungen auf andere sind seinen eigenen Gefühlen nachgeordnet.
Ich befürchte, dass das den Reiz von »Enders Spiel« ausmacht: Das Buch folgt genau diesem Szenario und spricht das Kind von jedem Gedanken daran frei, dass seine Reaktionen auf eine solche Behandlung fragwürdig sein könnten. Es bietet Rache ohne Schuldgefühle. Wenn man sich als Kind jemals nicht geliebt gefühlt hat, wenn man jemals in irgendeiner Weise befürchtet hat, auch nur einen Teil der Misshandlungen zu verdienen, die man erfahren hat, dann sagt einem Enders Geschichte, dass dem nicht so ist. Es teilt einem mit: Im Innersten bist du gut. Du hast eine besondere Gabe und bist besser als alle anderen. Dass man dich schlecht behandelt, ist ein Hinweis auf deine Begabung. Du bist moralisch überlegen. Dein Tag wird kommen, und dann kannst du die anderen hart bestrafen, ohne dir dabei etwas zuschulden kommen zu lassen. Du bist der Held.
Ender verliert keinen einzigen Kampf, selbst wenn sich alle Umstände gegen ihn verschworen haben. Und wenn er letztlich einsam durchs Universum zieht und Mitgefühl an die Undankbaren verteilt55, die ihn für böse halten, dann kann er sich im Selbstmitleid suhlen und gleichzeitig wissen, dass ihn das erst recht zum Erlöser der Menschheit macht.
Himmel, wie ich dieses Buch als Siebtklässler geliebt hätte! Es ist fast so gut, als hätte man eine Atombombe.
Das Problem ist, dass die Moral dieses misshandelten Siebtklässlers verkrüppelt ist. Es ist gut, dass ich damals keinen Zugriff auf eine Atombombe hatte. Es ist gut, dass ich meine persönlichen Rachefantasien im Erwachsenenalter nicht zu einer allumfassenden Ethik ausgebaut habe. Die Schikanen, die ich erleiden musste und die mir damals unerträglich erschienen, waren zweifellos ebenso real wie falsch. Aber das machte mich nicht zum Mittelpunkt des Universums. Mein Gefühl, im Recht zu sein, das mir jede Gewalt als Mittel angemessen erscheinen ließ, war völlig übertrieben, und ich hätte niemals eine ernsthafte Moral entwickeln können, wenn ich mich nicht von ihm gelöst hätte. Ich musste mich von der Vorstellung verabschieden, das Opfer in einem kosmischen moralischen Lehrstück zu sein, nicht etwa, um die Misshandlungen dadurch zu rechtfertigen – ich verdiente es nicht, gequält zu werden –, sondern um nicht selbst ebenso zu handeln. Ich musste lernen, nicht zu verdrängen und stattdessen zurückzuschlagen.
Wir sehen die Auswirkungen verschobener, selbstgerechter Wut überall um uns herum, in Form von Gewalt und verbrämt als moralisches Handeln oder sogar als Akt des Mitgefühls. Ender darf seine Feinde attackieren und behält dabei trotzdem eine weiße Weste. Nie ist etwas seine Schuld. Stilson liegt bereits geschlagen am Boden, und obwohl Ender weiter auf sein Gesicht eintritt, bis er tot ist, bleibt er immer noch der Gute. Ender rammt Bonzo Knochensplitter ins Gehirn und tritt dem Sterbenden in die Eier, und trotzdem geht es dabei nur um das von Ender erlittene Leid. Für einen Heranwachsenden voller Wut und Selbstmitleid, der sich misshandelt fühlt (und welcher Heranwachsende empfindet nicht so?), gibt es kaum ein reizvolleres Szenario. Wir alle wollen Ender sein. Wie Elaine Radford es ausdrückt: »Wir alle möchten daran glauben, dass unser Leid uns zu etwas Besonderem macht – insbesondere, wenn uns das einen gerechten Grund gibt, unsere Feinde zu zerstören.«56
Doch das ist eine Lüge. Niemand ist so besonders; niemand ist so unschuldig. Und wenn ich den Eindruck hätte, dass die Romane Cards das wirklich verstünden, dann hätte ich diesen Essay nicht geschrieben.
Nachtrag
Mehrere Personen haben Einwände gegen diesen Artikel erhoben mit der Begründung, dass Intentionen sehr wohl eine Rolle spielen, wenn wir den Grad der Schuld eines Handelnden bemessen wollen. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, dass ich die Absichten einer Person für irrelevant zur Beurteilung der Moralität ihrer Handlung finde. Es ist ganz normal, bei der Bildung solcher Urteile auch die Intentionen zu berücksichtigen. Das tue ich auch. Nur nach den Ergebnissen zu urteilen wäre kaltherzig und starr.
Was mich an den Aussagen Orson Scott Cards und an »Enders Spiel« stört, ist, dass es ihm zufolge bei einer solchen Beurteilung nur auf die Absichten ankommt. Das weise ich zurück. Zu behaupten, dass man gute Absichten hatte oder der Zweck die fragwürdigen Mittel heilige, ist die klassische Rechtfertigung für abscheuliche Taten. Das lässt sich beispielsweise nur zu deutlich an der Begründung der Bush-Regierung für den Krieg im Irak sehen. Es hieß, dass Saddam Hussein über Massenvernichtungswaffen verfüge und Verbindungen zu Terroristen habe, dass wir dort der Demokratie Vorschub leisten wollten, und so weiter. Millionen Menschen wussten bereits damals, dass diese Rechtfertigungen entweder nicht hinreichend oder schlicht erlogen waren.
Card richtet die Dinge so ein, dass Ender ein ehrlicher, misshandelter Unschuldiger ist, und zinkt die Karten, um uns davon zu überzeugen, dass er nie etwas Falsches tut. Ich sehe den ganzen Sinn und Zweck des Kniffs mit dem »Krieg per Fernsteuerung« im Roman als Mittel, um diese Idee plausibel zu machen. Aber in der echten Welt verübt niemand versehentlich einen Völkermord. Wir sehen die unmoralischen Folgen einer solchen Denkweise an den von der Geschichte aufgetürmten Leichenbergen, für die immer wieder Anführer verantwortlich sind, die uns erzählen, dass sie uns nur vor dem Bösen beschützen wollten.
Ich bin nicht bereit, solche Behauptungen hinzunehmen.
John Kessel ist Dozent für Amerikanische Literatur an der North Carolina State University und Autor fantastischer Storys und Romane.
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Jakob Schmidt.
Dieser Essay ist im SCIENCE FICTION JAHR 2014 (im Shop) erschienen.
Anmerkungen
1 Zitiert nach: Scott Nicholson: »Card’s Game: An Interview with Orson Scott Card« (1998) ^
2 Alice Miller, Am Anfang war Erziehung (Frankfurt am Main, Suhrkamp 1982), S. 76/77 ^
3 Siehe: Orson Scott Card: »Notes on Ender’s Game«, in: Ben Bova (Hrsg.), The Best of the Nebulas (New York: Tom Doherty Associations 1989), S. 32 ^
5 Orson Scott Card, Enders Spiel (München, Heyne 2013), (im Shop), S. 6 ^
6 Ebd, S. 210. Zu den ungeklärten Fragen des Romans gehört die, warum die Familie einen Psychopathen wie Peter hervorgebracht hat. Das Buch lässt keinerlei Erklärung für sein Verhalten erahnen. Mag sein, dass Card einfach die Überzeugung vertritt, dass manche Menschen »schlecht geboren« sind; ich finde zumindest keine deutlichen Hinweis auf die Quelle von Peters unmotivierter Bosheit. Seltsamerweise erklärt Card in seiner »Erwiderung« auf Elaine Radford, dass Peter nicht so böse sei, wie er zu Beginn des Buches erscheine, und dass Ender eine verzerrte Wahrnehmung von ihm habe. Angesichts von Valentines Eichhörnchen-Geschichte und der zahlreichen Beispiele für Peters sadistisches Verhalten in der Geschichte halte ich diese Interpretation für nur schwer nachvollziehbar. ^
11 Für eine amerikanische Leserschaft aus der Reagan-Ära, in der der Roman veröffentlicht wurde, dürfte die naheliegende Assoziation zu diesem Namen wohl der Schimpanse aus der Komödie Bedtime for Bonzo sein, in der Ronald Reagan mitspielte. ^
22 Kate Bonin: »Gay Sex and Death in the Science Fiction of Orson Scott Card«, New York Review of Science Fiction, 172, 15, 4 (Dezember 2002), S. 17–21 ^
23 Orson Scott Card: Speaker for the Dead, S. 39. (Da die deutsche Übersetzung nicht vorlag, wird hier und im Folgenden nach dem englischen Original zitiert – Anm. d. Übers.) ^
29 »Orson Scott Card: Casting Shadows« (Interview), in: Locus 503, 49, 6 (September 2003), Seiten 7/8, 71/72, auf S. 71 ^
30 Diese Aussage ist ein Beispiel für das, was die Psychologin Alice Miller als »schwarze Pädagogik« bezeichnet, den Einsatz von Zwangsmitteln, um den Kindern Schwäche und Abhängigkeit auszutreiben, damit sie zu Erwachsenen werden und sich Respekt verdienen. Dieser Vorgang führt zu der Schlussfolgerung, dass man sich den Respekt von Menschen dann verdient hat, wenn sie einen fürchten, und dass man dann ihre Freundschaft errungen hat, wenn sie sich einem unterordnen. ^
32 Es ist eigenartig, dass Card diese Beurteilung der Moralität einer Handlung auf Grundlage der Handlung selbst und nicht der dahinterstehenden Absicht als »calvinistisch« beschreibt, da eine der Grundannahmen des Calvinismus in der Überzeugung besteht, dass die Taten der Menschen für ihre Erlösung nicht von Belang sind. Gute Taten können einen Calvinisten nicht retten, wenn er nicht zu den Erwählten gehört, genauso wenig, wie es Cards »schlechten« Menschen gelingen kann, etwas Gutes zu tun. ^
33 Speaker for the Dead, S. 39 ^
34 Elaine Radford: »Ender and Hitler: Sympathy for the Superman«, in: Fantasy Review 102 (1987), S. 7–11 ^
35 Orson Scott Card: »Response«, in: Fantasy Review 102 (1987), S. 13/14, 49–52 ^
49 Grace-Anne A. DeCandido und Keith R. A. DeCandido: »Publisher’s Weekly interview Orson Scott Card«, in Publishers Weekly, 30. November 1990 ^
53 Angaben nach einem persönlichen Gespräch mit einem Mitarbeiter von Tom Doherty Associates, dem amerikanischen Verleger von »Enders Spiel«, im Jahre 2001. ^
54 Alice Miller, Wege des Lebens: Sieben Geschichten (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998), S. 7/8 ^
55 Das »Mitgefühl«, dem Ender sein Leben in »Sprecher für die Toten« widmet, lässt sich durchaus nicht etwa als Buße für seine Schuld oder Trost für andere lesen, sondern lediglich als ein weiteres Beispiel für verschobene Feindseligkeit. Als Sprecher will Ender vorgeblich in einer Weise vom Leben der Verstorbenen berichten, die Mitgefühl für die Dahingeschiedenen erregt. Als er aber beispielsweise in Kapitel 15 vom Leben von Marcos Ribeira erzählt, versichert er seinen Zuhörern zwar, dass die Gemeinde, die Marcos in die Entfremdung und Grausamkeit gegen seine Frau getrieben hat, »keine Schuld trifft«, tadelt die Lebenden jedoch im Zuge seiner Verteidigung des Toten gleichzeitig für ihre abgestumpfte moralische Blindheit. Angeblich besteht Enders Rolle nicht darin zu richten; stattdessen gibt er sein unfehlbares moralisches Urteil nach unten weiter. Die eine Gewissheit, die Enders Ansprachen vermitteln, ist, dass Ender in seinen gottgleichen Fähigkeiten als moralischer Richter allen überlegen ist. ^
56 Radford: »Ender and Hitler«, S. 11 ^
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