29. Juli 2022

„The bullet which struck me in Medan in ‘45“

Verblüffende Einsichten: Ein Bildband würdigt den Nachlass von Brian W. Aldiss

Lesezeit: 5 min.

Wer stirbt, hinterlässt etwas. Als Brian W. Aldiss am Morgen nach seinem 92. Geburtstag nicht mehr aufwachte, verlor das Haus in Oxford, in dem er jahrzehntelang gelebt hatte, nicht nur seinen Bewohner, sondern auch sein gestalterisches Zentrum. Was blieb, waren all die Objekte, die der Autor aufbewahrt und arrangiert hatte: Bücher, Fotos und Kunstwerke, Tagebücher und Aufzeichnungen, aber ebenso Dinge des täglichen Bedarfs. Seine Tochter Wendy Aldiss hat alles, was sich in diesem Haus befand, auf nicht weniger als 9.000 Fotos dokumentiert. Ihr Bildband „My Father’s Things“ zeigt eine Auswahl daraus – und macht damit einen ungeheuer vielseitigen Menschen sichtbar, den man speziell in Deutschland nur als SF-Autoren kennt.

Der Brite Brian W. Aldiss (1925–2017) hatte ein langes Leben, das von kulturellen Umwälzungen wie dem Kalten Krieg, dem Wettlauf zum Mond, den „Swinging Sixties“ und dem Erstarken konservativer Kräfte in den 1980er Jahren geprägt wurde. Literarisch war er früh erfolgreich: Bereits 1958 als bester Nachwuchsautor mit dem Hugo ausgezeichnet, erhielt er diesen Preis 1962 für sein Meisterwerk The Long Afternoon of Earth (Der lange Nachmittag der Erde; im Shop). Es folgten Dystopien wie The Dark Light Years (Die dunklen Lichtjahre, im Shop) und Greybeard (1964; dt. Graubart, im Shop); anschließend wurden wichtige experimentelle Arbeiten im Umfeld des britischen Magazins New Worlds veröffentlicht. Aldiss‘ nachfolgende Bücher waren wieder bodenständiger, blieben aber originell; so etwa die Mary-Shelley-Hommage Frankenstein Unbound (1973; dt. Der entfesselte Frankenstein, im Shop). Die umfangreiche Helliconia-Trilogie (1982–1985; im Shop) hingegen fasste als Abenteuersaga noch einmal die Möglichkeiten traditioneller SF zusammen. Parallel hierzu hat Aldiss rund 300 Kurzgeschichten veröffentlicht und sich immer wieder theoretisch mit dem Genre auseinandergesetzt, etwa in seiner mit David Wingrove verfassten SF-Historie Trillion Year Spree (1986; dt. Der Milliarden-Jahre-Traum).

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Entsprechend wundert es nicht, wenn man es im Nachlass des Schriftstellers vor allem mit Büchern zu tun bekommt, etwa den wunderschön gewidmeten Erstausgaben für seine zweite Ehefrau Margaret, die Aldiss mit grafischen Elementen angereichert hat. Dann gibt es die Belegexemplare, denen ein eigenes Zimmer vorbehalten war und unter denen man auch solche aus Deutschland findet – etwa die alte Lichtenberg-Ausgabe von Tod im Staub (im Shop). Und natürlich hat Aldiss selber gesammelt, etwa die Bücher von Kollegen wie P.K. Dick, Harlan Ellison (im Shop) oder Frederik Pohl (im Shop). Doch seine Interessen waren vielgestaltig, und so gibt es auch Literatur aus dem 19. Jahrhundert in seinen Beständen, Bücher über Gartenbau („My dad had ‚green fingers‘“, kommentiert Wendy) oder über Kunst. Es ist auffällig, dass sich Aldiss nicht nur innerhalb der SF souverän bewegte, sondern im Bereich der Kultur insgesamt; er führte gewissermaßen ein Leben zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Schließlich hat er keineswegs nur Genrebeiträge abgeliefert. Zu seinem Portfolio gehören etwa mehrere Gedichtbände, der 2010 vorgelegte Generationenroman Walcot (den er für sein Hauptwerk hielt) und der Reisebericht Cities and Stones (1966), der seiner Begeisterung für Jugoslawien geschuldet war.

Aldiss‘ kreative Vielseitigkeit spiegelt sich auch in seiner Hinterlassenschaft wider – er hat die unterschiedlichsten Dinge aufbewahrt. Zum Beispiel seine Preise (darunter die Laßwitz-Urkunde für Helliconia Frühling), Presseartikel über sein Werk, Anstecker von zahlreichen Conbesuchen sowie Zeitungsseiten zu relevanten Ereignissen wie etwa der ersten Mondlandung. Und vieles, vieles mehr. Auch Aldiss‘ eigene Kunstwerke (teils mit SF-Bezug, teils abstrakt) sind immer wieder in den Band eingestreut. Man merkt, wie sich hier ein Leben in voller Breite auffächert und ist irritiert, wenn etwas ins Bild ragt, das man nicht erwartet hätte; eine Luftdruckpistole beispielsweise (Wendy: „One of three I discovered in various places“) oder eine kleine rote Schachtel, die eine Gewehrkugel enthält und von Aldiss mit „The bullet which struck me in Medan in ‘45“ beschriftet wurde.

Über Begebenheiten wie diese wüsste man natürlich gern mehr, aber Wendy Aldiss ist diskret. (Die Hintergründe zur Militärzeit ihres Vaters lassen sich in seiner 1998 veröffentlichten Autobiografie The Twinkling of an Eye, or My Life as an Englishman nachlesen.) Ihr Buch enthält nur einige wenige und bewusst knapp gehaltene Anmerkungen, womit das Private ausdrücklich gewahrt bleibt. Es sind die Dinge, die etwas zu erzählen haben, und zwar auch dann, wenn sie verschwiegen bleiben. Natürlich wäre es möglich gewesen, etwa die zahlreich enthaltenen Familienschnappschüsse zu kommentieren, aber der Erkenntnisgewinn wäre überschaubar gewesen. Es genügt einstweilen zu sehen, dass Bestände wie diese überhaupt existieren.

Dies gilt insbesondere für den letzten Teil von My Father’s Things, der ganz banalen Haushaltsutensilien gewidmet ist – Werkzeugen, Kleidungsstücken und Geschirr. Ob Bügelbrett, Wärmflasche oder Weinvorrat: Hier erhalten sie ein letztes Mal Aufmerksamkeit, präsentieren sich in ihrer zweckgebundenen Gestalt und lassen den Alltag zu Wort kommen. Denn so außergewöhnlich Aldiss als Kreativer war, so vertraut wirkt es jenseits der ungeheuren Büchermengen, wie er als Mensch gelebt hat – selbst Schriftsteller brauchen Mottenkugeln. Das betrifft auch sein Lebensende, das mit Medikamenten, seniorengerechtem Sanitärbedarf und ärztlichen Verschreibungen dokumentiert wird. Dem detaillierten Betreuungsplan aus der Woche seines Todes kann man entnehmen, wie hinfällig der Autor am Ende seines Lebens gewesen sein muss. Obwohl wie immer nüchtern präsentiert („My Dad died in the very early hours of Saturday 19th“), geht einem die Tatsache nahe.

Wendy Aldiss entstammt der ersten Ehe ihres Vaters und wurde 1959 in Oxford geboren; sie hat Fotografie studiert und sich an zahlreichen Ausstellungen beteiligt. Der wunderschön gestaltete und aufwendig hergestellte Band My Father’s Things enthält zwar auch Aufnahmen der Räumlichkeiten, ist aber in erster Linie den Objekten gewidmet, die meist klar und präzise vor neutralem Hintergrund vorgestellt werden. Schon aufgrund der Fülle an Materialien lässt sich das Ergebnis mit Gewinn betrachten; insbesondere natürlich dann, wenn man ein Faible für Relikte aus dem SF-Umfeld hat. (Das Vorwort stammt übrigens von Christopher Priest, Autor des Klassikers Inversion (im Shop).) Doch das Buch leistet noch mehr, als das Arbeits- und Lebensumfeld eines herausragenden und hochproduktiven Schriftstellers abzutasten. Zum einen präsentiert es eine Biografie aus dem 20. Jahrhundert mit allem, was zu dieser gehört; darunter auch jene Gegenstände, die aufgrund ihrer vorgeblichen Nichtigkeit meistens nicht aufbewahrt werden. Daher ist My Father’s Things auch eine Meditation über das, was an materiellen Artefakten nachbleibt und angesichts einer rapide fortschreitenden Digitalisierung überhaupt nachbleiben kann: E-Books lassen sich nicht ausstellen. So sehr die handhabbaren Dinge bei Wendy Aldiss noch einmal Raum erhalten – es dürfte klar sein, dass sich ihre Anzahl in Zukunft verringern wird. Ebendies zu zeigen, ist eines der zentralen Anliegen des Buchs.

Wendy Aldiss: My Father’s ThingsPannoval Press 2020 • 256 Seiten • $ 35 sign. $ 40 Bezug über den Verlag

Alle Bilder © Wendy Aldiss

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