3. Oktober 2021

„Der lange Nachmittag der Erde“ von Brian W. Aldiss in zeitgemäßer Neuübersetzung

Klappschnapper, Driftstifte und Mordweiden

Lesezeit: 4 min.

Zwei Milliarden Jahre in der Zukunft: Die Erde wendet der aufgeblähten Sonne immer dieselbe Seite zu. Unter ihren sengenden Strahlen wuchert eine monströse Vegetation, die jedes tierische Leben fast zum Erlöschen gebracht hat. Die wenigen Menschen – fünfmal kleiner als heute und von grüner Haut bedeckt – sind in einen vorzivilisatorischen Zustand zurückgefallen und können jederzeit zur Beute der Pflanzen werden, während über ihnen die Querer ihre Bahn ziehen, gigantische spinnenartige Lebewesen, deren Netze die Erde mit dem zum Stillstand gekommenen Mond verbinden. Kein Zweifel: Der lange Nachmittag der Erde“ von Brian W. Aldiss (im Shop) kann als eine der eindrücklichsten Visionen der SF gelten. Nun ist der Klassiker endlich wieder erschienen: in ungekürzter Neuübersetzung durch Frank Böhmert, mit Vorbemerkungen von Neil Gaiman und einem Nachwort des Verfassers.

Der Roman erzählt die Geschichte von Gren, einem der wenigen „Mannkinder“ in der Gruppe um Lily-Yo. Ständig in Gefahr, von Klappschnappern, Driftstiften und Mordweiden massakriert zu werden, leben die letzten Menschen als Sammler in matriarchal geführten Verbänden, bei denen Männer aufgrund ihrer Seltenheit als kostbar gelten – obwohl ihr schwieriges Wesen eigentlich gegen diesen Sonderstatus spricht. Allerdings stellen sie auch die „Seelen“ her, kleine hölzerne Puppen, die stellvertretend bestattet werden, wenn jemand vom Grün verschluckt wurde. Gren weiß um seine Besonderheit und plant, aus ihr Kapital zu schlagen – als die Gruppe von Lily-Yo verlassen wird, versucht er, sich an deren Spitze zu stellen, obwohl dieser Platz allein einer Frau zukommt. Schlimmer noch: Er wird kurz darauf von der Morchel befallen, einem pilzartigen Symbionten, der erheblich intelligenter ist als er und nicht nur gedanklich mit ihm verschmilzt, sondern auch sein Handeln beeinflusst. Und dies keineswegs zum Besseren, denn die Morchel hat ihre eigenen Ziele. Aber sie holt aus Grens Gedächtnis Bilder herauf, die dieser nie zuvor gesehen hat – und die zeigen, was seit der Herrschaft der Menschen wirklich mit der Welt passiert ist.

Im Jahr 1961 veröffentlichte Brian W. Aldiss im Magazine of Fantasy and Science Fiction fünf Erzählungen, für die er als Gesamtserie im Folgejahr den Hugo erhielt und die dann unter dem Titel Hothouse zusammengefasst wurden; in den USA erschien die Buchausgabe als The Long Afternoon of Earth. Auf den ersten Blick wirkt der Roman, als wäre er für ein jugendliches Publikum konzipiert – mit kindhaften Figuren in feindlicher Umwelt, in der sich exotische Abenteuer erleben lassen. Doch der Eindruck täuscht. Obwohl die Pflanzen mit ihren lautmalerisch-bunten Bezeichnungen wie Drippellippe, Haukraut und Mampfstrumpf harmlos anmuten, erweisen sie sich als enge Verwandte etwa jener Kreaturen, die Jim Woodring durch seinen Frank-Kosmos kriechen lässt, oder der bizarren Wesen in den Dschungelbildern von Max Ernst. Sehr treffend sind auch die Visualisierungen, die der Brite Bob Fowke für das Projekt Alien Landscapes (1979; dt. Unter fremden Sonnen) von Robert Holdstock und Malcolm Edwards gezeichnet hat. Kindgerecht ist hier gar nichts.

Tatsächlich handelt es sich bei Der lange Nachmittag der Erde um einen überraschend radikalen Text, der eine Reihe von überkommenen Gewissheiten in bester satirischer Tradition ins Gegenteil verkehrt. Zwar hat sich die Provokation, die Führung der Gruppen Frauen zu übertragen, seit der Erstveröffentlichung abgeschliffen; doch die Pflanzenwelt ist nicht von jener Harmlosigkeit, mit der sie für gewöhnlich in Verbindung gebracht wird. Sie verhält sich sogar ausgesprochen aggressiv, wobei der Mensch nur ein mögliches Beuteobjekt unter vielen ist – die Spitze der Nahrungskette nimmt er schon sehr lange nicht mehr ein. Und auch auf seine Intelligenz braucht er sich keineswegs etwas einzubilden, denn diese geht – wie der Roman in einer bösen Pointe ausführt – seit dem Beginn der Evolution auf die Morchel zurück. Entsprechend machen die nur grob umrissenen Figuren keine nennenswerten Entwicklungen durch, sondern verharren weitgehend auf der Stelle. Dem folgt die stark episodische Struktur des Buchs, die fortwährend ähnliche Situationen um Gefahr, Kampf und Flucht kaleidoskopartig variiert, ohne dass sich hierdurch grundsätzlich etwas ändern würde. Zwar ist Der lange Nachmittag der Erde auf seine Weise ein Reiseroman, aber einer, bei dem die Ziele fortwährend wechseln und damit nicht nur austauschbar, sondern inexistent sind.

Was bleibt, ist eine schillernde Welt, in der keineswegs Errungenschaften wie Kunst oder Wissenschaft das letzte Wort haben, sondern „der Vorgang des Kompostierens“, wie Neil Gaiman in seinem lesenswerten Vorwort ausführt. Die Zivilisation existiert nicht mehr, stattdessen herrscht ein Kampf aller gegen alle, der bestenfalls kurzfristige Allianzen zulässt. Geburt und Tod sind in dieser „verkehrt“ wirkenden, aber erstaunlich hellsichtig konzipierten Welt nur belanglose Details eines ewigwährenden Werdens und Vergehens, bei dem Anfang und Ende austauschbar erscheinen. Ein kultureller Überbau – wie das Bestattungsritual um die hölzernen Seelen – ist allenfalls rudimentär entwickelt und genau betrachtet überflüssig: Am Schluss, wenn sich abzeichnet, dass die Pflanzen vor dem drohenden Kollaps der irdischen Sonne in den Weltraum ausweichen wollen, wird deutlich, dass es allein der Überlebenswille ist, der zählt.

Dieses drastische Fazit dürfte allerdings weit eher existenzialistisches Bekenntnis als politische Handlungsaufforderung sein. Die entwickelte Aldiss in seinen nachfolgenden Dystopien, wobei insbesondere Greybeard (1964; dt. Graubart, im Shop) einige auffällige Parallelen aufweist: Erneut zeigt sich die Menschheit stark dezimiert, während die geschundenen Umwelt wieder zu Kräften kommt und in Form wilder Tiere sogar Bedrohungspotenzial entwickelt. Doch während Graubart ein ernstes und warnendes Buch ist, hat Der lange Nachmittag der Erde auch leichte und sogar komische Seiten, etwa in der Gestalt einer fliegenden Werbemaschine, die Gren zufällig reaktiviert und die in den unpassendsten Momenten Parteiparolen von sich gibt. Es mag ja schlimm um die Menschheit stehen, aber das ist noch lange kein Grund, den Humor zu verlieren.

Brian W. Aldiss: Der lange Nachmittag der Erde • Roman • Aus dem Englischen von Frank Böhmert • Heyne, München 2021 • 431 S. • E-Book • € 9,99 • im Shop

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