27. November 2018

Die Eiszeit hat nie aufgehört

Eine Leseprobe aus Jasper Ffordes neuem Kultroman „Eiswelt“

Lesezeit: 17 min.

Überwintern kann anstrengend und gefährlich sein. Das wissen die Figuren aus Jasper Ffordes brandneuem Roman „Eiswelt“ (im Shop) nur allzu gut. Eine der wichtigsten Regeln bevor man in den Winterschlaf geht, ist daher, sich ausreichend Körperfett anzueignen. Wie das am besten geht zeigt uns Hauptfigur Charlie Worthing in einer ersten Leseprobe.

 

Fat Thursday

»… Die Länge der Zeitspanne, die Menschen in der Hibernation verbringen, hat sich leicht verändert, hauptsächlich aufgrund von klimatischen Veränderungen und Fortschritten in der Landwirtschaft. Der ›Standardwinter‹ wurde 1775 eingeführt und auf acht Wochen vor und acht Wochen nach der Wintersonnenwende festgelegt. Vom Schlummeranfang bis zum Frühlingserwachen begeben sich 99,99 Prozent der Bevölkerung in den dunklen Abgrund des Schlafes …«

DIE MENSCHLICHE HIBERKULTUR, MORRIS DESMOND

 

 

Fat Thursday hatte sich schon seit langer Zeit als der erste Tag konzentrierten Vollfressens etabliert: Es war der Punkt, an dem man begann, sich mit den neusten Methoden zum Thema »Der schnelle Weg zum Fettansatz« zu beschäftigen und gute Vorsätze zur Vermeidung jeglicher Körperfett reduzierender Aktivität zu fassen. Während man tags zuvor noch hinter einem knapp verpassten Bus herlaufen konnte, ohne dass man schief angesehen wurde, galt ein solches Verhalten tags darauf bereits als Energieverschwendung, die man als beinahe kriminell verantwortungslos betrachtete. In den zwei Monaten bis Schlummeranfang war jede Kalorie gewissermaßen heilig, und man kämpfte um den Erhalt eines jeden Gramms Körpergewicht. Der Frühling wartete nur auf jene, die mit ihren Fettreserven haushalten konnten.

Skinny Pete fiel in Schlaf, war nur Haut und Knochen                                           Skinny Pete fiel in Schlaf, starb nach ein paar Wochen

Bei meinem Job als Stellvertretende Hausverwaltung unterstand ich der generell wohlwollenden Schwester Zygotia, die mit Hingabe delegierte, was wiederum bedeutete, dass die gesamten Feierlichkeiten zum Fat Thursday mehr oder weniger meiner Verantwortung oblagen. Und obwohl ich dadurch mehr Kritik zu fürchten hatte als normalerweise, bot es doch eine willkommene Abwechslung von der alltäglichen Langeweile, die bei der hauswirtschaftlichen Leitung des Geburts- und Erziehungspools St. Granata (Inoffizielles Motto: »Mit uns stimmt die Quote – auch ohne Ihren Beitrag.«) ansonsten auf mich wartete. Im Grunde mussten für den Fat Thursday nur drei Dinge beachtet werden: Man brauchte genug zu essen sowie genügend Stühle und musste aufpassen, dass Schwester Placentia nicht den Gin in die Finger bekam.

Megan Hughes traf als Erste ein. Sie hatte zwölf Jahre im Pool verbracht, bevor ein reiches Paar aus Bangor sie ausgewählt hatte. Nach meinen letzten Informationen hatte sie einen Mann geheiratet, der eine große Nummer beim Mrs.-Nesbit-Konzern war, der eine florierende Kette von Tearooms im traditionellen Stil betrieb, während sie selbst inzwischen zu den Förderern von St. Granata zählte: Wir verdienten gutes Geld damit, Ausgleichskinder gegen Bezahlung Leuten wie Megan zuzuschreiben, für die diese ganze Baby-Geschichte unerträglich nach Bauernhof roch. (Ausgesetzte Kinder galten als Umgehung einer Schwangerschaft, nicht als Vermeidung – ein kleiner, rechtlich aber entscheidender Unterschied.) Es war reine Ironie, dass ausgerechnet sie Karriere bei ABwurF gemacht hatte – dem Amt für Bevölkerungswachstum und rigorose Fruchtbarkeit –, indem sie dafür sorgte, dass andere Frauen ihrer Fortpflanzungspflicht verantwortungsbewusst genügten. Es war schon einige Jahre her, dass Megan und ich uns das letzte Mal gesehen hatten, aber immer, wenn wir das taten, erzählte sie mir, wie sehr sie mich bewundert hatte, als wir aufwuchsen, und dass ich großen Einfluss auf sie gehabt habe.

»Matschbirne!«, rief sie auf spöttisch-aufgeregte Art, »du siehst echt großartig aus.«

»Danke, aber ich heiße jetzt nur noch Charlie.«

»’tschuldigung. Charlie.« Sie hielt kurz inne und dachte nach. »Ich denke immer an dich und das St. Granata.«

»Jetzt auch?«

»Ja. Und«, sie beugte sich etwas näher zu mir, »weißt du was?«

Na bitte.

»Was denn?«

»Ich habe dich echt bewundert, als wir aufgewachsen sind. Wie du immer gelächelt hast, obwohl du unglücklich warst. Du hattest Rieseneinfluss auf mich.«

»Ich war nicht unglücklich.«

»Du hast aber unglücklich ausgesehen.«

»Manchmal trügt der Schein.«

»Das ist wohl wahr«, sagte sie, »aber ich meine es ernst: Du warst auf eine tragische Weise inspirierend, so wie der Versager der Familie, der aber trotzdem immer versucht hat, das Beste aus allem zu machen.«

»Du bist wirklich zu freundlich«, sagte ich, denn schließlich war ich an Megans Art schon lange gewöhnt, »aber es könnte auch schlimmer sein: Ich hätte ohne Takt oder Mitgefühl auf die Welt kommen und hohl, egozentrisch und grässlich bevormundend werden können.«

»Das ist wohl auch wahr«, sagte sie grinsend und legte mir die Hand auf den Arm. »Wir haben ja so ein Glück, du und ich. Hab ich dir erzählt, dass ich bei ABwurF befördert worden bin? Vierunddreißigtausend plus Dienstwagen und Pension.«

»Na, das freut mich aber«, sagte ich.

Sie strahlte.

»Du bist so nett. Aber jetzt muss ich mich beeilen. Bis bald, Matschbirne.«

»Charlie.«

»Richtig. Charlie. Ein Rieseneinfluss.«

Damit marschierte sie den Flur hinunter. Es wäre leicht gewesen, sie von Grund auf zu verabscheuen, aber tatsächlich empfand ich gar nichts für sie.

 

Lucy Knapp war die nächste wichtige Person, die zur Tür hereinkam. Wir hatten uns achtzehn Jahre lang jeden Tag gesehen, bis sie aufs HiberTech Training College wechselte. Im Pool kamen und gingen Freundschaften wie die Gezeiten, aber Lucy und ich waren uns immer nahe gewesen. In den sechs Jahren seit ihrem Auszug hatten wir uns mindestens einmal im Monat gesprochen.

»Hey«, sagte ich, und dann stießen wir mit den Fäusten aneinander, eine über der anderen. Ein geheimes Begrüßungsritual, das wir schon seit einer Ewigkeit so praktizierten.

Lucy und ich waren dafür verantwortlich, dass am Gesicht von St. Somnia im Fries über unseren Köpfen immer noch ein bisschen Bananentoffee klebte, das Überbleibsel einer herrlichen Essensschlacht anno 1996. Ebenso deutlich sah man auch die Delle im Putz, wo Donna Trinket, die unbedingt den Erdgeschoss-Rundenrekord auf Roller Skates hatte brechen wollen, mit richtig viel Schwung zu Fall gekommen war, weil irgendwer aus der Küche Spaghettiringe in Tomatensoße auf dem Boden ausgekippt hatte.

»Stimmt es, dass du zur Prudential-Winter-Überlebensvorsorge gehst?«, fragte sie mit einem Unterton, in dem ich freundliche Verachtung mitschwingen hörte.

»Ich würde alles tun, um aus diesem Loch rauszukommen«, antwortete ich. »Und es ist schließlich auch nicht so, dass ich dann nur Hibernations-Schutz mit optionaler Neueinstufung und obligatorischer Transplantationserstattung verkaufen kann, sondern auch Lebens-, Zahnersatz-, Feuer- und KFZ-Versicherungen, von Frostschäden gar nicht zu reden. Was hältst du davon?«

»Ich kann mich vor Gleichgültigkeit kaum halten.«

»Geht mir auch so, aber ich sag nur: Morphenox.«

Zwar würde ich die ersten zehn Jahre bei der Prudential nur den Mindestlohn bekommen, aber dennoch war es die Sache wert. Nicht der Arbeit wegen, die war so fad wie Schmelzwasser, aber es gab einen anderen Bonus: Die Versicherung würde meinen Anspruch auf Morphenox vom St. Granata ohne Unterbrechung transferieren. Ich würde also im wahrsten Sinn des Wortes ruhig schlafen können. Trotz strenger vertraglicher Verpflichtungen und des Mangels an Flexibilität, die der Job mit sich brachte, war das eine Karriereentscheidung gewesen, über die ich nicht lange hatte nachdenken müssen. Ich würde endlich hier rauskommen, aber sämtliche pharmazeutische Privilegien mitnehmen können.

 

»Hey«, sagte ich, »hast du gehört, dass Ed Dweezle den Nacht-Fandango getanzt hat?« (Slangausdruck für »zum Nachtwandler werden«. Die Wandler selbst bezeichnete man gern als Spreu, Leergut, Ausgeknipste oder Hirntote. Wiedergänger war die wohl höflichste Bezeichnung, aber praktisch gesehen befanden sie sich eher in einem »pseudobewussten und mobilen vegetativen Zustand«.)

»Ja«, antwortete Lucy. »Hab ich.«

Dweezle hatte immer schon Probleme gehabt, sein Gewicht zu halten. Oft hatten wir ihm etwas von unserem Essen zugesteckt, damit er zurechtkam. Ich weiß nicht, wie er es geschafft hatte, drei Winter allein zu überstehen, nachdem er nicht mehr im St. Granata lebte, aber es hatte vermutlich eine Stange Geld gekostet. In seinem vierten Winter war er zu leichtgewichtig in die Hib gegangen, wenn auch randvoll mit Morphenox, und drei Wochen vor Frühlingserwachen waren ihm die Ressourcen ausgegangen. Nach seiner Nachtwandlung hatte man ihn zunächst umgewidmet und irgendwo oben im Norden als Straßenkehrer eingesetzt, und acht Monate später war er ausgeschlachtet worden.

»Nützlich bis über den Tod hinaus«, sagte Lucy, »wie das Unternehmen in seinem Slogan immer verkündet.«

Mit besagtem Unternehmen meinte sie HiberTech, das Morphenox herstellte, geeignete Nachtwandler umwidmete und dann ihr Transplantationspotential kontrollierte. Ihre Nachtwandler-Politik entsprach stark – manche sagten sogar: perfekt – dem Modell der Vertikalen Integration. Ein anderer Slogan lautete: Außer dem Gähnen ist alles von Nutzen.™

Ich ging mit Lucy aus der Lobby in den Großen Saal.

»Mir ist bei diesen Pool-Wiedersehenstreffen nicht ganz wohl«, sagte sie. »Insgesamt war es eine ganz gute Erfahrung, aber ich mochte ja nicht jeden hier.«

»Es gab halt immer ein paar Idioten dazwischen«, stimmte ich ihr zu.

»Arschlöcher und Heilige halt.«

Wir mischten uns unter die anderen Pooler und begrüßten sie mit Handschlag, Umarmung oder Nicken, je nach ihrem Platz auf der genau festgelegten Respekt- und Zuneigungsskala. Williams, Walter, Keilly, Neal, der andere Walter, der andere Williams und McMullen, die darauf einigermaßen weit oben standen, waren alle da. Kurz überlegte ich, ob ich etwas zu Gary Findlay sagen solle, aber er hatte mich kaum gesehen, als er sich auch schon von mir abwandte unter dem Vorwand, sich noch ein Bier aus der Kühlbox holen zu wollen. Seit unserem zwölften Lebensjahr hatten wir kein Wort mehr miteinander gewechselt, seit dem Tag, als er aufhörte, mich herumzuschubsen – nachdem ich ihm ein Ohr abgebissen hatte. (Falls es jemanden interessiert: Es schmeckte salzig und löste sich erstaunlich leicht vom Kopf.)

Ältere Ehemalige, die ich nicht kannte, standen neben jenen, die aktuell hier großgezogen wurden, und denen, die aus meiner Zeit noch übrig waren. Zwischen allen Poolkindern bestand ein gewisses Band, wie in einer Familie. Davon abgesehen waren viele von uns aufgrund der Einsatzfreude der Schwesternschaft tatsächlich miteinander verwandt.

Lucy wollte die Oberen Schwestern begrüßen, die auf dem Podium saßen und wie sieben Herzoginnen Hof hielten. Sie kicherten albern über irgendeinen kleinen Witz; offenbar hatte sich die strenge Haltung, die sie sonst gewöhnlich zeigten, durch den dreifachen Angriff von besonderem Anlass, reichlichem Essen und (zumindest für jene von ihnen, die gerade nicht schwanger waren) dem billigsten Sherry, der für Geld zu haben war, ein wenig verflüchtigt.

»Sieh da, unsere liebe Lucy Knapp«, säuselte Schwester Placentia, als wir näher traten, und sie umarmte Lucy, während sie mich ignorierte wie ein Möbelstück, das an seiner gewohnten Stelle stand. »Erzähl doch mal, was es Neues gibt.«

Lucy berichtete höflich, dass sie bei HiberTech inzwischen das Express-Ausbildungsprogramm zum Manager absolvierte. Ich stand stumm daneben. Trotz der hin und wieder etwas unberechenbaren Betreuung und Erziehungsweise waren die meisten Schwestern einigermaßen in Ordnung. Ohne sie wäre ich gar nichts gewesen – selbst weniger beeinträchtigte Kinder als mich ließ man gewöhnlich untergewichtig in ihren ersten Winter gehen. Es gab schlimmere Pools als diesen.

»Faszinierend, meine Liebe«, bemerkte Schwester Placentia, nachdem Lucy einen kurzen Überblick über ihre aktuellen Tätigkeiten gegeben hatte. »Besteht vielleicht die Möglichkeit, dass du uns einen Edward als Küchenhelfer organisieren kannst?«

»Das verbesserte Modell, das im nächsten Jahr erscheinen soll, könnte dazu vielleicht taugen«, antwortete Lucy zurückhaltend. »Ich werde dann mal schauen, was sich machen lässt.«

Edward oder Jane waren die Standardnamen, die umgewidmete Nachtwandler erhielten. Sobald ihre kannibalistischen Tendenzen ausgemerzt und die zerfaserten Überreste ihres Verstands wieder einigermaßen verdrahtet worden waren, konnten sie einfache Aufgaben übernehmen. Allerdings, wie manche meinten, nur so einfache, dass sie im Haushalt gar nicht sinnvoll einzusetzen seien. Das St. Granata in Port Talbot hatte einen Edward, der abwaschen konnte (Allerdings nur Teller, Untertassen, Töpfe, Pfannen und Besteck. Tassen, Krüge und Becher stellten eine zu hohe Anforderung dar.), aber meist wurden sie für ausschließlich repetitive Aufgaben eingesetzt, beispielsweise zum Türenöffnen, Wasserpumpen oder Gräbenausheben. Ich hatte von einem gehört, der in der Lage war, einen Gabelstapler zu fahren, und angeblich gab es einen Nachtwandler, der Zahlenreihen addierte, aber ich wusste nicht, ob das stimmte.

»Wie sieht’s aus, Matsch?« Die Stimme erklang so unvermittelt an meinem Ohr, dass ich zusammenzuckte. Es war Schwester Zygotia, die ich besonders gern mochte, obwohl oder vielleicht gerade weil sie recht exzentrisch war. Sie hegte eine Vorliebe für Erdnussbutter und Anchovis, pflegte über den Winter ihre Schlafzimmertür zuzunageln, »um sich vor umherziehendem Wintervolk zu schützen«, und bestand darauf, dass Pudding nach dem Zufallsprinzip mit Currypulver versetzt werden musste, um uns, wie sie sagte, »besser auf die unvermeidlichen Enttäuschungen des Lebens vorzubereiten«.

»Geht so«, sagte ich. »Der Haushalt für das nächste Jahr ist zwar recht knapp, aber wir sollten zurechtkommen, solange die Ausgleichszahlungen nicht gesenkt werden und wir nur einmal in der Woche Fleisch auf den Tisch bringen.«

»Gut, gut«, sagte sie geistesabwesend, dann legte sie mir die Hand auf die Schulter und bugsierte mich in eine Ecke. »Hör mal, ich will zwar nicht die Überbringerin schlechter Nachrichten sein, aber mir bleibt nichts anderes übrig. Mutter Fallopia hat von deiner Bewerbung bei der Prudential erfahren, und, nun ja, sie hat mit dem dortigen Personalbeamten gesprochen. Deine Bewerbung wurde … annulliert.«

Die Nachricht überraschte mich zwar zugegebenermaßen nicht wirklich, aber es war dennoch kein gutes Gefühl. Frustration hat einen ganz eigenen Geruch, wie heißer Toffee. Ich sah Schwester Zygotia an, die mir versicherte, es täte ihr wirklich leid, und ich sagte, dass es schon in Ordnung sei, ja, wirklich, und dann war ich froh, dass man mich bat, dabei zu helfen, Schwester Contractia wieder zur Ordnung zu rufen, die ihre Aufgaben als Türsteherin etwas enthusiastischer versah, als man insgesamt für nötig hielt. Schwester Contractia hatte viel übrig für eine gute Schlägerei, und daher dauerte es zehn Minuten, um sie zu besänftigen und die Platzwunde über ihrem Auge zu versorgen. Als ich zurückkam, erzählte Lucy Knapp gerade allen von ihrer ersten Überwinterung bei HiberTech, und dass sie tatsächlich schon einmal eine Wintersonnenwende erlebt hatte. Sie zeigte allen den Messingstern, der an ihrer Bluse steckte, um es zu beweisen.

»Hast du durch den Schlafmangel eine Narkose bekommen?«, fragte ich und schob meinen Frust ganz hinten in mein Bewusstsein, wo er auf gute und alteingesessene Gesellschaft stieß.

»Sobald man seinen Schlafzyklus auf den Spätsommer umgestellt hat, geht’s«, sagte Lucy, »aber die erste Saison kann schon ganz schön hart sein. Das einzig Gute war: Während man sich eigentlich den Arsch abfriert, gefressen oder als Hauspersonal zwangsrekrutiert wird, kann man immerhin davon halluzinieren, dass man auf der Gower-Halbinsel sitzt, einen Falschen Banana Daiquiri (Ein Löffel Nesquik Banane und zu gleichen Teilen Rum und Robinson’s Barleywater Lemon) schlürft und vom Worm’s Head Bar & Grill aus den Sonnenuntergang beobachtet.«

Lucy war nicht die einzige Person aus dem Pool, die inzwischen überwinterte, sondern nur die bisher letzte, die sich dazu entschlossen hatte. Ein Poolkamerad namens Billy DeFroid war drei Jahre zuvor in den Winterkonsuldienst eingetreten, und man hatte sich von ihm nur das Beste erzählt, bis er von einer Rotte Nachtwandler gefressen worden war, die sich in Llandeilo zusammengerottet hatten. Immerhin hatte er länger durchgehalten als die meisten anderen. Die durchschnittliche Lebenserwartung für einen Novizen für den ersten Winter »mit den Stiefeln im Schnee« lag bei nur sechs Wochen. Der Winter verzieh nicht den kleinsten Fehler, und kleine Winterwunderneulinge verbrachten ihre erste Saison am besten hinter verschlossenen Türen und kümmerten sich um Papierkram.

»Lucy«, bat ich, »erzähl doch mal von der Narkose.«

»Das ist … am Anfang ganz schön heftig«, sagte sie. »Ich dachte, meine Beine wären aus Schokolade. Je kälter es wurde, desto brüchiger fühlten sie sich an. Ich machte mir Sorgen, ob ich überhaupt würde abhauen können, falls irgendwelche Nachtwandler kämen.«

»Solche Träume habe ich manchmal auch«, warf Maisie Rogers ein, »dass ich laufe und laufe, aber nicht fliehen kann.«

Träume. Niemand, der etwas auf sich hielt, hatte Träume. Wer von uns Zugang zu Morphenox hatte, tauschte jegliche unbewussten Schlafaktivitäten gegen eine dramatische Verringerung an gespeichertem Energiebedarf. Morphenox löschte die Fähigkeit zum Träumen und sorgte im Austausch für eine höhere Überlebenschance. Zum ersten Mal seit Menschengedenken konnte man damit tatsächlich erwarten, den Winter zu überleben. Wie hieß es so schön in der Werbung: »Morphenox bringt Ihnen den Frühling!« Im Kleingedruckten hätte vielleicht der Hinweis stehen können: »Aber nur, wenn Sie das Glück, das Geld oder die gesellschaftliche Stellung haben, die Ihnen den Zugang zu diesem Medikament ermöglichen.«

»Du musst diese ganze Traumgeschichte nicht wie ein Ehrenabzeichen vor dir hertragen«, rüffelte Megan, die sich jetzt ebenfalls zu uns gesellt hatte.

Wir alle nickten zustimmend. Die meisten Menschen, die sich ohne pharmazeutische Hilfe durch den Winter quälen mussten, sprachen nicht darüber. Es war, als trüge man eine Mütze mit dem Slogan »Bürger 3. Klasse«.

Aber Maisie hatte kein Problem damit.

»Ich schäme mich nicht«, sagte sie ungehalten, während wir anderen stöhnten und mit den Augen rollten, »und ich werde mir das auch nicht einreden lassen. Davon abgesehen sind Träume auch lustig und zufällig, und auf diese Weise werde ich wenigstens niemals ein Nachtwandler, der sich durch den Winter schleppt, Käfer und Vorhänge und Menschen und sonst irgendwelchen Kram frisst und dann sein Dasein als Ersatzteillager beschließt.«

»Wenn du ausgeknipst wirst, dann weißt du ja nicht, dass du nur noch eine Hülse bist«, stellte ich fest. »Darin liegen Tragik und Segen dieses Zustands – kein Hirn, keine Sorgen.«

Natürlich zeitigte Morphenox einige unvermeidliche Nebenwirkungen: entsetzliche Kopfschmerzen, einige furchterregende Halluzinationen – und von zweitausend Anwendern, die den Winter gut überstanden, stand einer als Nachtwandler wieder auf. Die 50 Prozent der Bevölkerung, denen Morphenox gewährt wurde, waren es schließlich eben, die zu sabbernden Hülsen mit schweren Problemen in der persönlichen Hygiene und einer erschreckenden Vorliebe für Kannibalismus werden konnten. Dessen ungeachtet glaubte aber jeder, dass es sich lohnte, das Risiko einzugehen.

Als das Essen hereingebracht wurde, breitete sich Unruhe im Saal aus. Wir stellten uns zu einer ordentlichen Schlange auf, und der Geräuschpegel nahm aufgrund der Vorfreude auf das Mahl deutlich zu. Während wir warteten – Schwestern, Kinder und Unterernährte wurden zuerst versorgt –, unterhielten wir uns über die blöde Idee, die der selbsternannte »Extremschlaf«-Guru Gaer Brills für den trendbewussten Winterschläfer entwickelt hatte, und natürlich auch darüber, wer diese Runde von Albion sucht das Supertalent gewinnen würde.

»In Jutesäcke eingewickelt und mit Gänseschmalz eingeschmiert mit Minimal-BMI auf Bäumen pennen«, schnaubte Lucy bezüglich der Ideen von Gaer Brills. »Da wird es den ganzen Winter über Hipster regnen.«

Was Albion sucht das Supertalent betraf, hatten wir nach dem Überraschungsgewinner des letzten Jahres – Bertie, einem Dackel mit Südwester, der stepptanzen konnte – keine Ahnung, wer dieses Jahr das Rennen machen würde, und daher wandte sich die Unterhaltung bald einem Thema zu, das in jüngster Zeit die Nachrichten dominierte – die gestiegene Wintersterblichkeit und was man dagegen tun könnte. Gemäßigte Stimmen schlugen Baby-Werbung und finanzielle Anreize für Schwangerschaften vor, um den Rückgang der Bevölkerungszahlen zu kompensieren, die Hardliner wiederum drängten auf öffentliches Anprangern von Kinderlosigkeit, die Abschaffung aller Austragungsbefreiungen und Einstellung aller Kinderüberschreibungsprogramme. Zwar hatte der Bevölkerungszuwachs die Winterverluste bisher auffangen können, aber ein gelegentlicher Knick in der Geburtenstatistik führte dennoch oft zu Panik, was rechten Hardlinern immer ausgesprochen gelegen kam.

»Ich habe gehört, dass der Winterschwund mit einem Schlag aufgefangen werden könnte, wenn man das Mindestalter für Schwangerschaften senken würde«, sagte Megan, die jetzt zu uns gestoßen war.

»Das würde aber bedeuten, dass man den Begriff Kind neu definieren muss«, sagte Lucy, »und ich bin mir nicht so sicher, ob das wünschenswert oder überhaupt machbar wäre.«

»Man könnte sicher das Geschlechterverhältnis auf 70:30 trimmen«, überlegte ich laut.

»Damit noch weiter herumzufummeln wäre eine wirklich schlechte Idee«, sagte Lucy. »Ich habe jetzt schon genug Schwierigkeiten, ein anständiges Date zu finden.«

»Ich würde sagen, man sollte die enormen staatlichen Subventionen für HiberTech einfrieren«, erklärte Maisie in ihrem besten Revoluzzerton. »Und anstelle Morphenox nur wenigen zukommen zu lassen, sollte es eine machbare Strategie geben, um sicherzustellen, dass alle Bürger am Schlummeranfang den Ziel-BMI erreichen. Wir sollten die elitäre Hibernation nicht akzeptieren, sondern stattdessen auf gleichwertigen Schlaf für alle hinarbeiten – das ist fair und gerecht, würde die Überlebenschancen erhöhen und den Winterschwund mindern, und dann würde auch eine geringere Geburtenrate ausreichen.«

Wir alle verstummten sofort. Das war die zentrale Forderung und das schon seit Langem formulierte Ziel der einst hochgeachteten Opposition, aus der inzwischen der strikt illegale Interessensverband RealSleep – Kampagne für Echten Schlaf geworden war. Dort hielt man natürlichen Schlaf für den einzig wahren, lehnte eine pharmakologische Lösung für den Winterschwund als moralisch verwerflich ab – erst recht, wenn sie nicht allen zugänglich war – und ging davon aus, dass Menschen träumen mussten, um langfristig ihre Gesundheit zu erhalten. ( Das inoffizielle Motto von RealSleep lautete, frei nach Shakespeare: Was auch für Träume kommen mögen.) Wer sich öffentlich zu ihren Ansichten bekannte oder auch nur darüber diskutieren wollte, war entweder sehr mutig oder sehr verrückt. Maisie war vermutlich eher mutig.

»Die Subventionen werden vor allem für die Forschung verwendet, damit eines Tages die gesamte Hibernation in der schützenden Hülle von Morphenox stattfinden kann«, sagte Lucy verteidigend. »Don Hector war zwar ein Genie, aber selbst er stieß an Grenzen. Eines Tages aber werden wir so weit sein.«

»Das wissen wir nur, weil deine Kumpels bei HiberTech das behaupten«, gab Maisie zurück. »Das ist ein Mechanismus zum Aufrechterhalten sozialer Regeln. Don Hector

hat uns nicht befreit, er hat eine Klassengesellschaft geschaffen, in der die einen gut und die anderen schlecht schlafen. Wir sollten ein einziges großes, globales Winterschlafdorf sein, mit gleichem Schlaf und gleicher Würde.«

Entgeistertes Einatmen wurde hörbar. Das war die Missionsaussage von RealSleep, eine Art Ruf zu den Waffen.

»Wir sollten über so etwas nicht reden«, sagte Lucy, die plötzlich wesentlich ernster wurde. »Ich könnte große Probleme bekommen, weil ich dich nicht melde. Und Don Hector war ein großer Mann, der Millionen Menschen durch Morphenox gerettet hat.«

»Mein Dormitologe hat mir gesagt, dass demnächst eine neue Formel auf den Markt kommt«, berichtete Megan. »Morphenox-B. Was ist denn da dran?«

»Und ich habe etwas über das Projekt Lazarus gehört«, fügte ich hinzu, da meine Neugier jetzt meine Vorsicht überwand.

»Wenn man die Hitze der HiberTech-Gerüchteküche kanalisieren könnte«, sagte Lucy nach kurzem, verärgertem Schweigen, »dann ließe sich damit vermutlich für alle Zeiten der Winter vertreiben.«

»Du hast Megans Frage nicht beantwortet«, sagte Maisie.

Lucy und Maisie starrten einander feindselig an, und Lucys Augenlider flatterten. Ich mochte sie sehr, aber sie war eine loyale HiberTech-Mitarbeiterin, durch und durch.

»Ich muss Megans Frage auch nicht beantworten«, sagte sie langsam und akzentuiert.

Das Gespräch wurde unterbrochen, da jetzt Unruhe an der Tür entstand. Die Gäste machten eine Gasse frei, um Leute durchzulassen, und das hieß entweder, dass ein Promi oder jemand von großer Wichtigkeit erschien. Oder, wie sich herausstellte, beides.

Es waren zwei Leute, die sich gepflegt unterhielten. Zum einen unsere Mutter Fallopia, hochgewachsen, elegant, streng und mit einem Habit, der so schwarz war, dass sie wie ein nonnenförmiges Loch in der Luft erschien. Neben ihr stand ein großer Mann in dem weißen, gesteppten Kampfanzug eines Winterkonsuls. Der Goldene Sonnenwendstern, der an seinem Kragenaufschlag steckte, wies darauf hin, dass er mindestens zwanzig Winter erlebt hatte. Zwei identische Bambis mit Walnussholzgriffen ragten aus den Gurten über seiner Brust, und seine Haltung vermittelte eine gewisse stille Würde. Er war dunkelhaarig, von hoher Statur und hatte die Aura eines Filmstars aus alter Zeit. Außerdem sah er Euan, Sian, Maisie, Daphne, Billy und Ed Dweezle ein wenig ähnlich – aber dafür gab es einen Grund.

»Wow«, sagte Lucy, die ebenso beeindruckt war wie wir anderen – und wie vermutlich alle Anwesenden. »Das … das ist Jack Logan.«

 

Jasper Fforde: „Eiswelt“ ∙ Roman ∙ Aus dem Englischen von Kirsten Borchardt ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2018 ∙ 656 Seiten ∙ Preis des E-Books € 11,99 (im Shop

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