20. Mai 2019 4 Likes

Hic sunt leones

Am Beispiel Europa: Wie wir den Abgrund zwischen Gegenwart und Zukunft überbrücken können

Lesezeit: 5 min.

Am kommenden Sonntag ist Europawahl. Ich habe meine Stimme bereits abgegeben, sie befindet sich auf dem Weg von München nach Wien (als in Deutschland lebender Österreicher wähle ich, wenn ich denn wählen darf, per Post). Das aktuelle Spektakel in der österreichischen Innenpolitik kam also zu spät, um mein Wahlverhalten noch zu beeinflussen; es hätte es allerdings ohnehin nicht beeinflusst, denn im Grunde hat man da nichts wirklich Neues erfahren.

Eigentlich sollte es bei einer Europawahl aber auch gar nicht um die Innenpolitik irgendeines EU-Staates gehen, sondern eben um: Europa. Europa als politische Kraft. Europa als politische Hoffnung. Europa als politische Zukunft. Und das ist nur ein Bruchteil der Parolen, die uns seit Jahrzehnten um die Ohren fliegen – und kurioserweise dazu geführt haben, dass die Wahlbeteiligung bei Europawahlen im Laufe der Jahrzehnte nicht etwa zugenommen, sondern sukzessive abgenommen hat. Ganz offensichtlich setzen die Wahlen zum Europaparlament trotz aller Parolen die Bürgerinnen und Bürger der EU politisch nicht in Bewegung.

Es sieht danach aus, dass das am kommenden Sonntag anders sein wird. Denn unser Kontinent ist in den letzten Jahren politisch durchaus in Bewegung geraten: erschüttert von mannigfaltigen Krisen, bedrängt von Trump’scher, Putin’scher und Jinping’scher Großmachtpolitik, aufgewühlt von heftigen Auseinandersetzungen über kulturelle Identität, soziale Teilhabe und ökologische Zerstörung. Die Debatte um Europa ist intensiver als je zuvor.

Nur: Über was reden wir eigentlich, wenn wir von „Europa“ reden? Es ist ein Merkmal dieser Debatte, dass sich nur die wenigsten über das politische Konstrukt namens Europäische Union und seine Geschichte wirklich Gedanken machen. Das ist nicht weiter überraschend, denn die Sache könnte kaum komplizierter sein. Wer will sich schon im Detail mit den mitunter grotesken und demokratiepolitisch bedenklichen Abläufen zwischen Europäischem Rat, Kommission und Parlament befassen? Wer gibt sich die Mühe, die Kohärenz und den Entstehungsprozess von vehement kritisierten EU-Verordnungen nachzuvollziehen? Ja, wer weiß schon, dass das, was Europa tatsächlich an politischer Gestaltungsmacht besitzt, eine Konsequenz durchaus problematischer Urteile des Europäischen Gerichtshofs ist?

Keine Angst, ich will hier kein europapolitisches Seminar abhalten, es geht mir um etwas anderes: „Europa“ – die politische Chiffre ebenso wie das politische Gebilde – ist nämlich ein wunderbares Beispiel dafür, wie sich unsere hochfliegenden Zukunftsbilder auf der einen und die Mühen, die Verwerfungen, das zähe Hin und Her der Gegenwart auf der anderen Seite nicht etwa ausschließen, sondern sich im Gegenteil aufeinander beziehen können.

Im Kern ist das europäische Projekt nicht mehr und nicht weniger als der historisch einzigartige Versuch einer sukzessiven Annäherung ehemals vollständig souveräner Nationalstaaten hin zu etwas, wofür wir heute noch keinen Namen haben. Mit jedem Schritt auf diesem Weg verlassen wir bekanntes politisches Territorium, wie eine Expedition, die in Gebiete vordringt, die auf den frühen Erdkarten mit „Hic sunt leones“ markiert waren, was nichts anderes hieß als: „Wir wissen nicht, wo wir hier sind“. Und doch haben wir zugleich ein vages Bild davon, wohin die Reise geht, ein Bild, das zahllose Science-Fiction-Geschichten gezeichnet, wenn nicht sogar propagiert haben: das Bild einer Welt, in der die politischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen und religiösen Unterschiede zwischen den Menschen nicht länger zu verheerenden Konflikten führen. Letztlich ist die bunte Vielfalt auf der Brücke der Enterprise oder das interplanetare Parlament in den Star-Wars-Prequels wie „Europa“: der Versuch, etwas zu vereinbaren, was zuvor unvereinbar schien.

Okay, an dieser Stelle müssen Sie vermutlich schmunzeln. Was haben diese überdrehten, trivialen Science-Fiction-Fantasien schon mit dem komplexen politischen Alltag zu tun? Mit dem Brexit, mit der Urheberrechtsnovelle, mit dem Brüsseler Postengeschacher? Traditionellerweise nichts: Zwischen unseren Zukunftsfantasien und dem zähen Ringen um die Zukunft in der Gegenwart tut sich ein Abgrund auf, den wir, so fantasievoll wir auch sein mögen, intellektuell nicht überbrücken können oder wollen. (Übrigens fällt mir das bei Science-Fiction-Begeisterten häufig ganz besonders auf: Gerne lässt man sich hier von großen Visionen davontragen, wenn es aber konkret wird, zahlt man mit der allerkleinsten politischen Münze. Ein Phänomen, für das ich keine Erklärung habe.) Das ist jammerschade, denn Science-Fiction kann viel mehr als nur „Utopie“ oder „Dystopie“. Science-Fiction kann Politik.

Nehmen wir nur mal Cory Doctorows unlängst erschienenen Roman „Walkaway“. Zweifellos ist das ein Stück überdrehter Science-Fiction, immerhin geht es unter anderem darum, das menschliche Bewusstsein zu scannen und auf diese Weise verstorbene Menschen in einem Computer wiederauferstehen zu lassen (eine Idee, die ich persönlich für gänzlich absurd halte). Und trotzdem ist „Walkaway“ einer der politischsten und gegenwärtigsten Texte, die Sie derzeit lesen können. Doctorows Walkaways sind nämlich eine Gruppe von Menschen, die entschieden haben, dass politische, ökonomische, soziale, kulturelle und religiöse Gegensätze keine große Rolle mehr spielen sollen, und daher immer wieder neue Anläufe unternehmen, gesellschaftliche Konstrukte – nicht unähnlich Hakim Beys „Temporary Autonomous Zones“ – zu erzeugen, die diesem Anspruch gerecht werden. Doctorow kommt es dabei nicht auf das perfekte Funktionieren dieser Gesellschaftskonstrukte an, sondern es geht ihm dezidiert um den Versuch, um das Scheitern, um den erneuten Versuch. „Walkaway“ ist die Geschichte eines Prozesses, eines Aufbruchs, eines Lernens, eines langen Weges hin zu etwas, wofür wir heute noch keinen Namen haben: „Irgendetwas veränderte sich, eine Ära wich einer neuen. Das Gefühl der Veränderung knisterte förmlich in der kühlen Luft.“

Hic sunt leones. Wir wissen nicht, wo wir sein werden … Ja, jede Zukunft ist etwas Neues (auch wenn sie zuweilen Altes imitiert) und birgt daher allerhand Gefahren. Aber wenn man Romane wie „Walkaway“ und auch Unterhaltungsserien wie Star Trek genau studiert, begreift man, dass sich zwischen Gegenwart und Zukunft eben kein Abgrund auftut, dass die Zukunft bereits in der Gegenwart enthalten ist, dass es schon jetzt Lebensweisen, Wirtschaftsformen, soziale Praktiken und sogar politische Prozesse gibt, die einmal eine neue Ära prägen werden. Noch sind sie unverbunden, unkartografiert, womöglich auch unverstanden, aber sie existieren, und sie sind die Brücken in die Zukunft. So wie „Europa“ – die politische Chiffre ebenso wie das ganz konkrete, überaus defizitäre, sich ständig neu erfindende politische Gebilde – eine solche Brücke ist.

Ob Sie über diese Brücke gehen wollen, müssen Sie entscheiden.

 

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