7. Juni 2019 1 Likes

High-Tech-Action auf dem roten Planeten

Eine Leseprobe aus Richard Morgans neuem Roman „Mars Override“

Lesezeit: 10 min.

Mit „Altered Carbon“ (im Shop) feierte der britische Science-Fiction-Autor Richard Morgan seinen internationalen Durchbruch. Zahlreiche Romane sowie die vielbeachtete Netflix-Verfilmung von „Altered Carbon“ folgten und etablierten Richard Morgan als feste Größe im Genre. Gerade ist mit „Mars Override“ (im Shop) sein neuer Roman auf Deutsch erschienen, in dem Morgan seinen wunderbar düsteren Anti-Helden Hakan Veil auf eine abgefahrene Tour de Force über den roten Planeten schickt …

 

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Es war früh am Abend, als ich den Mariner Strip erreichte, und oben in der Lamina versuchte man gerade wieder, Regen zu machen. Mit begrenztem Erfolg, würde ich sagen. Es war nicht mehr als ein dünnes, kaltes, unregelmäßiges Geniesel, das aus einem paprikafarbenen Himmel weinte.

Ich hatte keine Informationen darüber, dazu war ich zu beschäftigt gewesen. Ich hatte nur von irgendeiner neu geschriebenen Subroutine gehört, die man von dem flimmernden Rand des Industriezweigs hinzugeholt hatte, codiert und aufbereitet und losgelassen, irgendwo da oben inmitten der gewaltigen, sich verschiebenden hauchdünnen Schichten, die das Valley warmhalten. Es musste auch irgendein massiver Marketingeinfluss dahinterstehen, denn für einen Abend mitten in der Woche war es recht voll auf den Straßen. Als der Regen einsetzte, fühlte es sich an, als käme die ganze Stadt zum Stillstand, um zuzuschauen. Überall sah man Leute, die stehen blieben, den Hals reckten und glotzten.

Auch ich erübrigte einen mürrischen Blick zum Himmel, blieb jedoch nicht stehen. Stattdessen schob ich mich weiter, schritt unbeirrt durch die stockenden Gruppen aus Gaffern und Öko-Geeks hindurch, die Scheiße laberten. Jeder, der erwartete, von diesem Blödsinn tatsächlich nass zu werden, würde voraussichtlich eine ganze Weile warten müssen. In der aufdringlichen Verlockung des Marketings vergaßen die Leute oft, dass auf dem Mars nichts schnell fällt. Und ob der Code nun neu war oder nicht, dieser Versuch eines Wolkenbruchs würde auf gar keinen Fall irgendwelche Grundgesetze der Physik verletzen. Hauptsächlich schwebte und wehte der versprochene Regen einfach nur in der Luft herum, voller Verachtung für die halbherzige Schwerkraft, ein Sprühnebel, der von dem erlöschenden Licht blutrot getönt wurde.

Hübsch anzuschauen, ohne Zweifel. Aber manche von uns hatten nebenbei auch was zu erledigen.

Der Strip ragte um mich herum auf – fünfstöckige Fassaden aus der Siedlungszeit in vernarbtem antikem Nanobeton, nachdem die Wartungsverträge längst abgelaufen waren. Heutzutage sind die inaktiven Oberflächen durch jahrzehntelangen stürmischen Wind und Splitt aufgeschäumt, sodass sie eher wie ebene Korallenriffe bei Ebbe aussehen, und nicht wie etwas, das man als menschengemacht bezeichnen würde. In den frühen Tagen ging es den COLIN-Ingenieuren nur darum, sich niederzukauern – sie bauten entlang eines breiten Grabens, der zwischen den freiliegenden Fundamenten ausgehoben wurde, bis sich spiegelbildliche Gebäude zu beiden Seiten erhoben. Sechzig Meter breit ist dieser Kanal und drei Kilometer lang, dabei nur ein klein wenig verkrümmt, um eine existierende geologische Verwerfungslinie im Valley auszunutzen. Früher einmal beherbergte der Graben hydroponische Gärten und manikürte Erholungsflächen für die ursprünglichen Kolonisten, alles mit Glas überdacht. Parks, Velodrome, ein paar kleine Amphitheater und einen Sportplatz – und sogar, wie man mir sagte, einen Swimmingpool oder auch drei. Freier Zutritt für alle.

Muss man sich mal vorstellen.

Jetzt ist das Dach demontiert, so wie alles andere auch. Abgerissen, ausgegraben, weggeräumt. Was man stehen gelassen hat, ist ein abgewetzter, vermüllter Boulevard mit einem Gewirr aus Karren und Verkaufsständen, die alle darum wetteifern, der Menge die billigsten Waren zu präsentieren. Holt es euch, solang es noch heiß ist, Leute, holt es euch jetzt! Herabgesetzte Codiernadeln der letzten Saison, halbintelligenter Schmuck, markengeschützte Marstech, gefälscht oder gestohlen – bei diesen Preisen konnte es das nur sein – und Fast Food, jede Menge, die in unzähligen unterschiedlichen Woks und Pfannen dampfte. Straßenchemiker hielten sich am Rand, pushten Zwanzig Maßgeschneiderte Methoden, um ganz schnell den Verstand zu verlieren, Straßenjungen und -mädchen standen an Ecken, boten einen simpleren Fluchtweg zum gleichen Ziel an. Vermutlich ließ sich behaupten, dass man sich hier auch heute noch auf einer Art von Erholungsfläche befand. Aber es war ein ziemlich karger und schriller Geist des Vergnügens, der sich in diesen Tagen auf dem Strip tummelte, und wenn man ihn versehentlich anrempelte, mochte man ihm nicht in die Augen blicken.

Diejenigen, die trotzdem zu diesem Geist streben, erreichen den Boden über lange Rolltreppentunnel, die auf unelegante Weise zielstrebig durch die ursprünglichen Bauten gehackt wurden – sie finden sich am Ende der meisten Querstraßen, wo sie auf die Gebäude aus der Siedlungszeit stoßen, zu beiden Seiten gesäumt von einer weniger geduckten und hermetischen Architektur, die für eine Generation entworfen wurde, die plötzlich nach draußen gehen konnte. Wo die Querstraßen enden, stößt die Neue Draußenzeit abrupt gegen die tristen, heruntergekommenen Rückseiten der Alten Siedlungszeit. Man tritt unter großen überwölbten Öffnungen in dem abgenutzten Nanobeton auf die Rolltreppe, und das endlose metallene Förderband trägt einen hindurch und hinauf.

Oder wenn Sie neu auf dem Mars sind, frisch aus dem Shuttle gestiegen, oder wenn Sie eher zu den Nostalgie-Freaks gehören, dann machen Sie es auf die laute Touristenart und fahren mit den riesigen antiken Lastenaufzügen an beiden Enden des Grabens. Die zwei Ladeplattformen von tausend Quadratmetern, die immer noch wie gewaltige Kolben hinauf- und hinuntergehen, wie langsam atmende Lungen, reibungslos wie an dem Tag, als sie in Betrieb genommen wurden. Mit diesen kitschigen pseudohistorischen Zurücktreten-Ansagen, die in einer Aufnahmeschleife aus Megafon-Lautsprechern entlang des Sicherheitsgeländers tönen. Rotierende gelbe Warnleuchten, das komplette Programm. Die ölverschmierte wuchtige Ingenieurskunst der alten High Frontier wurde konserviert, damit Sie sich abgestumpft daran ergötzen können.

Wie auch immer – ob auf einer Plattform oder einer sich endlos bewegenden überdachten Rolltreppe –, es löst so ziemlich die gleichen Empfindungen aus. Man wird langsam hinuntergelassen, versinkt im Bauch von etwas Riesigem, das die körperliche Gesundheit voraussichtlich gefährden wird.

Kein Problem für mich.

Ich hatte den Aufzug nach unten am Ende der Crane Alley genommen, der mich etwa einen Kilometer von meinem Ziel entfernt absetzte. Es ging ganz langsam, während die Wetterverrückten den Fluss hemmten. Und als ich unter der Ausgangswölbung hinaustrat, musste ich mich aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz gegen einen richtigen Regen auf Straßenniveau behaupten. Er schlug mir ins Gesicht, während ich mich durch die Menge bewegte, und nässte meinen Kragen. Warf ungewohnte Perlen aus Feuchtigkeit auf meine Stirn und meine Handrücken. Es fühlte sich ziemlich gut an, was in diesem Moment allerdings auch für alles andere galt.

Drei Tage wach und heißlaufend.

Über meinem Kopf gingen erste Lichter hinter längst überflüssigen Sturmschlitzen in den oberen Ebenen der Gebäude an und wiesen auf die sinnlichen Mysterien hin, die sich dort befanden. Namen und Logos von Clubs klammerten sich wie eine Plage gigantischer leuchtender Käfer und Tausendfüßer an die antike Architektur. Und quer über den tröpfelnden Himmel breiteten die ersten Branengel ihre fast unsichtbaren Seifenblasenflügel aus. Silbriges Gestöber aus vorzeitiger Statik rieselte zitternd an ihren Oberflächen hinab, wie ein Husten, der die Kehle freimacht. Die Bilder klärten sich, und die Video-Zuhälterei der langen Nacht setzte ein.

Ich hatte gedacht, nachdem das Shuttle von der Erde erst an diesem Morgen angedockt war, gäbe es vielleicht ein paar Ultratripper-Montagen oder Standardwerbespots für Vector Red und Horkan Kumba Ultra. Doch an diesem Abend führte die Regenmacher-

Publicity die Parade an – stimmungsvolle, intensive Aufnahmen von straffen jungen Körpern, die auf nächtlichen Straßen in einem Regenguss herumtollten, wie ihn hier niemand im Umkreis von 50 Millionen Kilometern jemals real erleben würde. Dünne, dunkle Kleidung, durchnässt und aufgerissen, eine Art von Favela-Chic, klebte an Kurven und Vorsprüngen, um aufgereizte Brustwarzen modelliert, umrahmten Aufschnitte und Scheiben aus wasserbeperltem Fleisch. Marketingtexte zogen sich wiederholt über die ran- und rausgezoomten Aufnahmen …

PARTICLE SLAM PLATSCHT! – LASS DICH NASS MACHEN! EIN GEMEINSCHAFTLICHES CODIERUNGSPROJEKT, PRÄSENTIERT VON PARTICLE SLAM IN MARKENPARTNERSCHAFT MIT DER COLONY INITIATIVE.

Ja, klar, COLIN schlug wieder zu – die allgegenwärtigen, allmächtigen, korporativen Hebammen der Menschheit im Weltraum. Vor einigen Jahrhunderten, als sie ihre Bestrebungen starteten, hätte man sie durchaus als spezialisiertes Keiretsu bezeichnen können. Heutzutage wäre das so, als würde man einem T-Rex ein Schild mit der Aufschrift Echse anheften. Es wird dem Ausmaß der Sache einfach nicht gerecht. Wenn irgendetwas mit dem menschlichen Footprint irgendwo im Sonnensystem oder mit transplanetaren Beförderungen oder Handelsbeziehungen zu tun hat, dann ist COLIN die Besitzerin, die Betreiberin oder die Sponsorin oder wird es bald sein. Ihr Kapitalfluss ist das Herzblut der Expansion, ihre Übernahme alter legaler Strukturen der Erde das übergreifende Gerüst, das alles aufrechterhält. Und ihre angebliche wettbewerbsfreundliche Marktdynamik ist genauso wenig real oder relevant wie die posierenden Tanzschritte und Konfrontationen der grazilen jungen Dinger in dem lustigen, freundlichen Regen der Branengel-Projektion.

In der Zwischenzeit hatte der Regen – der wirkliche Regen in der wirklichen Welt – ganz plötzlich aufgehört. Er verwehte zu nichts, hinterließ eine lange, schwangere Pause, dann setzte er wieder ein, langsam weinend. Schwer zu sagen, ob der neue Code gut funktionierte. Vielleicht ließ er diesen stotternden Strom als Teil eines Energiesparprotokolls laufen, oder es war nichts als Effekthascherei, oder das Ganze wimmelte einfach nur von Fehlern. Öko-Codier-Geeks standen überall auf dem Strip herum, blinzelten in den Himmel hinauf, diskutierten hin und her.

»Hab doch gesagt, dass sie es wieder hinkriegen. Particle Slam ist solide, Gusch! Eine ganz andere Truppe als diese Leute von Ninth Street. Spürst du es auf dem Gesicht?«

»Ja, gerade so. Fühlt sich für mich wie irgendeine Scheißstandard-Sickerung an.«

»Ach, fick dich! Eine Sickerung würde gar nicht bis nach hierunten durchkommen. Schau mal – es bildet schon Pfützen.«

Ich huschte an der Debatte vorbei, wich den Pfützen aus, speicherte die Details für später ab. Particle Slam – nie gehört. Aber ich bin so was gewohnt, wenn ich aufwache. Öko-Codierung ist sogar auf der Erde ein schnelles Spiel, und hier draußen mit abmontierten Bremsen und einem sanft herablächelnden Kommerz läuft es so verdammt darwinistisch ab, dass man schon müde wird, wenn man nur drüber nachdenkt. Hier kann eine Codierfirma schneller von der nächsten großen Sache zu Dinosaurierknochen zerfallen, als ein Shuttle für den langen Pendelflug braucht. Die Erkenntnis für heruntergekommene Ex-Overrider, die versuchen, sich durchs Leben zu schlagen: Wenn man während der letzten vier Monate für den Rest der Welt tot war, kann man eine ganze Menge verpassen.

Aber manche Dinge ändern sich nie.

Jeden Abend erwacht der Strip mit trägem Flackern zum Leben wie eine fehlerhafte Neonröhre, der man einen Stoß verpasst hat. Er blinkt und flimmert und fängt sich, schimmert schräg und konstant über dem Straßenraster des alten Bradbury-Viertels wie ein kryptisches Grinsen, wie ein Signal für begierige Motten. Ich hab es mal vom Marsorbit aus gesehen – ich bin dekantiert herangedriftet, zum Ende der Mission in einem gemeuterten Gürtel-Frachter, den ich lieber vergessen würde. Da gab es nichts Besseres zu tun, als auf den still gewordenen Decks herumzuschleichen und aus dem Fenster zu starren, während der Mars unten vorbeirollte. Wir holten den Terminator über Ganges und Eos ein, und als die Nacht anbrach, beobachtete ich, wie die Scharte immer näher herankam. Die brütenden Wände des Grabenbruchs versanken mehrere Tausend Meter tief in der marsianischen Kruste, kolossale Halden und Verwehungen aus tektonischem Schotter auf dem weiten, offenen Boden dazwischen. Hier und dort leuchtete eine matte, verstreute Siedlung, immer mehr von denen verdichteten und verflochten sich ineinander, je näher sie dem großen hellen Klecks von Bradbury kamen, weiter oben im Tal. Und genau dort, mitten ins Herz der alten Stadt geklatscht, war das riesige, krumme Grinsen, 3000 Meter lang.

Überall in der Stadt lassen Firmenlogos und COLIN-Werbeflächen die Skyline in flüssigem Kristallfeuer funkeln, tragen ihren Teil dazu bei, die anrückende außerirdische Dunkelheit zurückzuhalten. Aber die Markenloyalität und -zugehörigkeit, die man gegen diese Dunkelheit kaufen kann, ist begrenzt, und die Mächte in einem wissen das. Tief drinnen, wo das menschliche Getriebe läuft, läuft auch die Uhr – sie dreht ihre grellen Ziffern herum wie die Karten eines Verliererblatts. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis man sich dessen bewusst wird. Und wenn es passiert, haucht einem die Erkenntnis kalt ins Genick.

Früher oder später wird man nähertrudeln und sich gegen die Verlockungen des Strips werfen, genauso wie all die anderen Motten.

Früher dachte ich, ich wäre anders.

Dachten wir das nicht alle?

Ein fadendünnes Wimmern an meinem Ohr, und dann der unvermeidliche Nadelstich. Gedankenverloren schlug ich an meinen Hals – ein sinnloser Reizungsreflex; die Codierfliege war da und wieder fort, wie geplant. Selbst in Erdstandardschwerkraft sind die kleinen Scheißer erheblich schneller als die Moskitos aus Fleisch und Blut, nach denen ihr Grundchassis gestaltet ist, und hier, wo sie an die herrschenden Umweltbedingungen angepasst wurden, sind sie wie kleine, stechende Spritzer aus Quecksilber im Wind. Berühren, stechen, Nutzlast abgeliefert. Man ist gebissen.

Nicht dass ich deswegen verbittert wäre. Ich meine, wenn man hier draußen lebt, muss man sich beißen lassen. Es geht gar nicht anders. Das hier ist die High Frontier, Gusch, und man selbst ist nur ein kleiner Teil des gigantischen rollenden Upgrades, das die Menschheit der High Frontier bildet.

Das Problem ist, wenn man vier Monate im Verzug ist, hat man so viele Upgrades verpasst, dass einen jede Codierfliege in der Umgebung ins böse, kleine postorganische Visier nimmt. Drei Tage wieder draußen, und man ist ein verdammtes menschliches Nadelkissen. Von den Injektionseinstichen juckt die Haut an dutzend verschiedenen Stellen. Neue Gasaustauschturbos für die Lungen, Melatoninwiederaufnahme Version 8.11.4, Auffrischungspatches für die aktuellsten – und unzuverlässigsten – Osteopeniehemmer, Hornhautverstärker 9.1. Und so weiter.

Für einen Teil von diesem Scheiß hat man bezahlt, damit es einem zugefügt wird, sobald die neuen Modifikationen hereinkommen, andere Sachen werden einem von COLIN geschenkt, aus der reinen Güte ihres effizienzorientierten kleinen Herzens. Doch alles muss ausbalanciert und leistungsmäßig verbessert und optimiert werden, um dann aufs Neue optimiert zu werden, Version für Version, Upgrade für Upgrade, Biss für Biss.

Und damit gerät man in eine Abhängigkeit, die man nie mehr aufgibt, solange man anderswo als auf der Erde lebt.

Nicht dass ich deswegen verbittert wäre.

 

Richard Morgan: „Mars Override“ ∙ Roman ∙ Aus dem Englischen von Bernhard Kempen ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 ∙ 736 Seiten ∙ Preis des E-Books € 12,99 (im Shop)

 

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