1. März 2020

Neue Storys aus China

Eine erste Leseprobe aus „Zerbrochene Sterne“, Ken Lius neuer Science-Fiction-Anthologie

Lesezeit: 9 min.

Die chinesische Science-Fiction-Literatur hat noch mehr zu bieten als Cixin Liu. Das dürfte sich mittlerweile herumgesprochen haben. Und auch wenn der Großmeister des Genres mit seinen Trisolaris-Romanen nach wie vor dominiert, so haben wir dank seinem amerikanischen Übersetzer und Herausgeber Ken Liu nun einen Band mit sechzehn Erzählungen vorliegen, die das ganze Spektrum der chinesischen SF entfalten.

Ken Liu (Hrsg.): Zerbrochene SterneIst es möglich, einen Zug auf eine Reise durch die Zeit zu schicken? Was empfinden Roboter, wenn ihre künstliche Intelligenz erwacht? Und was wäre, wenn die Geschichte Chinas ab irgendeinem Punkt rückwärts verlaufen würde? Diese Fragen und viele mehr stellen sich die vierzehn Autorinnen und Autoren in diesem Band. In insgesamt sechzehn Erzählungen entwickeln sie einen kritischen, von der Gegenwartskultur geprägten Blick auf China, und manche Texte konnten erst in der Übersetzung überhaupt veröffentlicht werden. Abgerundet wird dieser Sammelband durch drei Essays, die das Phänomen der chinesischen Science-Fiction ausführlich beleuchten und verständlich machen.

„Zerbrochene Sterne“ ist ab dem 9. März 2020 überall erhältlich.

 

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Leseprobe aus

U-BOOTE

von Han Song

Aus dem Chinesischen von Karin Betz
 

Han Song wird, oft zusammen mit Kollegen wie Cixin Liu und Wang Jinkang, als einer von Chinas einflussreichsten Science-Fiction-Autoren der älteren Generation bezeichnet. Er spricht aus, was sich sonst wohl niemand zu sagen traut, und hat auf verschiedene Weise anklingen lassen, dass das, was gegenwärtig in China geschieht, surrealer und schockierender als alles ist, was sich die Science-Fiction jemals ausgedacht hat (oder ausdenken könnte). Obwohl Han Song seine Erzählungen in viele Allegorien verpackt, sind sie doch hochpolitisch: Die Botschaft, die man ihnen entnimmt, hängt von der Intention ab, mit der man sie liest.

 
Als ich klein war, drängte ich meine Eltern immerzu, mit mir am Jangtse die U-Boote anschauen zu gehen. Der Fluss hatte unserer Stadt U-Boote zuhauf beschert. Angeblich stammten viele davon auch von den Nebenflüssen des Jangtse, vom Wujiang, dem Jialingjiang, dem Han oder dem Hujiang. In meinen Augen wirkten sie mal wie ein dichter Schwarm Insekten, mal wie Myriaden schwarzer Wolken, die vom Himmel herabgestürzt waren, beängstigend und aufregend zugleich. Hin und wieder verschwand eins der U-Boote plötzlich von der Oberfläche, das war besonders spannend – natürlich waren sie nur abgetaucht. Erst ruckelte der unfassbare Rumpf gemächlich hin und her, dann sank er Zentimeter um Zentimeter, unregelmäßige, unauffällige Wellen hervorrufend, bis er vollständig im Wasser verschwunden war, einschließlich der kleinen Säule, die wie ein Wachturm aussah. Der Strom floss dann so ruhig und geheimnisvoll wie zuvor, und ich hatte vor Staunen kugelrunde Augen. Dann wiederum würde ein U-Boot wie ein Flussungeheuer aus den Fluten aufschießen und herrliche Gischt versprühen, und ich würde aus voller Kehle schreien: »Seht mal! Da! Da steigt eins auf!«

Meine Eltern jedoch zeigten keinerlei Reaktion und standen mit steinernen Mienen da. Sie wirkten so teilnahmslos wie zwei Topfpflanzen, die lange nicht gegossen worden waren, so als hätte ihnen das Auftauchen der U-Boote ihre Seelen geraubt.

Die meiste Zeit über lagen die U-Boote fest vertäut auf der ruhigen Wasseroberfläche, reglos. Über das Deck waren Drähte gespannt, auf denen Wäsche zum Trocknen hing wie bunte Fahnen, darunter auch Babywindeln. Frauen in Overalls aus grobem Stoff kochten an einem Kohleherd, überall auf dem Fluss stiegen schwarze Rauchfahnen gen Himmel. Manchmal hockten die Frauen am Rand des Decks über dem Wasser und droschen Wäschestücke mit Holzklopfern scheppernd gegen den harten Schiffsrumpf. Hin und wieder krochen ältere Männer und Frauen aus den Kabinen nach oben, hockten sich gelassen im Schneidersitz in die Sonne und rauchten langstielige Pfeifen, während sich neben ihnen Katzen und Hunde zusammenrollten.

Die U-Boote gehörten den Wanderarbeitern. Auf der Suche nach Arbeit waren sie in die Stadt gekommen und kehrten allabendlich in ihre unterseetauglichen Behausungen zurück. Als es die U-Boote noch nicht gab, mussten sich die Wanderarbeiter einen Platz in einer der billigen Gemeinschaftsunterkünfte am Stadtrand mieten, in den Brachflächen inmitten von Hochhaustürmen, die von der Stadtentwicklung verschont geblieben waren, wo sie dann in großen Betten nebeneinander schliefen wie Vieh in den Ställen. Jetzt hatten sie in den U-Booten ein eigenes Zuhause gefunden. Zwischen den U-Booten und dem Flussufer zirkulierten mittlerweile Fähren, betrieben von den Wanderarbeitern selbst, um ihren Brüdern und Schwestern das Pendeln zwischen den ungleichen Welten zu ermöglichen. Nachts, wenn ihre Bewohner alle zu Hause waren, waren die U-Boote am schönsten. Gaslampen ließen jedes Boot wie ein Fensterbild in einem anderen Muster leuchten, und gleichzeitig malten sie strahlende, ganz eigene Sternbilder auf den Fluss. Die kühle Abendbrise trug das Lachen und Plappern von Familien beim Abendessen an die Ufer und erfüllte die Stadtbevölkerung mit unerklärlichem Argwohn. Mit dem Einbruch der Nacht gingen nach und nach die Lichter an Deck aus, bis nur noch das nervöse Licht der Suchscheinwerfer des Hafenturms über das Wasser glitt und ab und an auf einen U-Boot-Rumpf traf, der aussah wie der braun gesprenkelte Buckel eines Fugu-Fischs. Viele der U-Boote bevorzugten um diese Zeit jedoch abzutauchen, und mit jeder Runde des Suchscheinwerfers war die Wasseroberfläche leerer. Die U-Boot-Bewohner schliefen abgeschieden in der Umarmung des Wassers ein, als könnten sie durch das klammheimliche Abtauchen ihrer Behausungen alle Sorgen an der Wasseroberfläche zurücklassen, sich vor Gefahren und Unwägbarkeiten flüchten und ganz ihren Träumen hingeben, ungestört von der Stadtbevölkerung – war das vielleicht der ursprüngliche Grund für den Bau der U-Boote? Oft habe ich mich gefragt, wie tief wohl der Jangtse ist und wie viele U-Boote auf seinem Flussbett liegen. Was für einen bizarren Anblick die Reihen dunkler Schiffsrümpfe wohl böten! Wie geheimnisvoll das alles war, als gäbe es neben der sichtbaren Welt noch eine andere.

Jedenfalls siedelten sich die U-Boote in unserer Nachbarschaft an wie Zugvögel und blieben ein viel diskutiertes Thema. Allmorgendlich stiegen sie blubbernd wieder auf, schulterten das rosafarbene Licht der Dämmerung und verwandelten die Wasseroberfläche in eine Springflut. Wie außerirdische Raumschiffe im Film, dachte ich. Die Fähren nahmen ihren emsigen Betrieb wieder auf und transportierten ausgeruhte Wanderarbeiter in ihren neuen Tag voll harter Arbeit in der Stadt.

Die U-Boote kamen aus ganz China. Gerüchte sagten, dass sie auch an der Meeresküste und an den Ufern von Flüssen, Seen und Kanälen anderer Städte kleine Kolonien bildeten. Niemand wusste, wer das erste dieser U-Boote entworfen hatte, angeblich waren sie das Heimwerkerprodukt eines ingenieurtechnisch begabten Bauern. Für uns verwöhnte Städter waren sie technisch gesehen Dinosaurier, zusammengeschustert aus Metallschrott, bis auf wenige Ausnahmen aus Sperrholz und glasfaserverstärktem Kunststoff. Die ersten Exemplare hatten die Form von Fischen, mit aufgemalten rot-weißen Köpfen und Schwänzen, lebhaften Augen und Lippen oder sogar Flossen. So albern das wirkte, so sympathisch war es doch, ein Ausdruck typischen Bauernhumors. Je mehr davon auftauchten, desto mehr bemühten sich die Erbauer, ihre Boote durch eine eigene Dekoration voneinander abzugrenzen. Für gewöhnlich bot ein U-Boot Platz für eine Familie von Wanderarbeitern, fünf bis sechs Personen, die größeren nahmen sogar zwei bis drei Familien auf. U-Boote zu bauen, die Dutzende oder Hunderte Passagiere transportieren konnten, gelang den Wanderarbeitern offenbar nicht. Spöttische Städter mutmaßten, dass das Design der U-Boote auf Pläne aus Jules Vernes Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer zurückgingen. Möglicherweise hatten auch ausländische Ingenieure den Bauern bei ihren Entwürfen unter die Arme gegriffen. Am Ende war nur sicher, dass die Konstruktionen nicht auf Vernes Roman basierten, denn die Wanderarbeiter hatten, wenn man sie danach fragte, noch nie davon gehört. Aus irgendeinem Grund atmeten die Städter bei dieser Nachricht erleichtert auf.

Nach einer Weile waren nur noch die Kinder von den U-Booten fasziniert, während die Erwachsenen so taten, als wären sie gar nicht da. In der Schule tauschten wir eifrig wilde Geschichten über die Boote aus oder zeichneten sie auf Papier, das wir aus unseren Übungsheften rissen. Unsere Lehrer verloren hingegen kein Wort über sie. Wer im Unterricht beim Kritzeln von Zeichnungen und Nachrichten erwischt wurde, bekam einen Tadel und wurde zum Büro des Schuldirektors geschickt, nachdem der Lehrer ihn vor versammelter Klasse zurechtgewiesen und die Zeichnungen zerrissen hatte. Auffällig selten blieben Berichte über die Boote im Fernsehen oder in den Zeitungen, so als hätten die U-Boot-Kolonien nicht das Geringste mit dem Stadtleben zu tun. Nur ein paar seltene Neugierige unter den Erwachsenen – in der Regel Künstler oder Dichter – standen gelegentlich am Ufer, deuteten auf die seltsamen Konstrukte und tuschelten miteinander. Sie mutmaßten, dass die Bewohner der U-Boote mit der Zeit eine ganz eigene Zivilisation hervorbringen könnten, die sich ungefähr so sehr von den existierenden Daseinsformen unterschied wie die der Säugetiere von den Reptilien. Zu gern hätten sie sich auf den U-Booten umgetan, auf der Suche nach Material über diese besondere Kultur. Aber die Wanderarbeiter zeigten keinerlei Neigung, die Städter auf ihre Boote einzuladen. Oder sie hatten nach einem anstrengenden Arbeitstag einfach nicht die Energie, um fremde Gäste zu empfangen. Einerseits wollten sie vermutlich keinen Ärger, andererseits sahen sie darin auch keinen Vorteil für sich. Für sie war der einzige Grund, in die Stadt zu kommen, Arbeit zu finden und Geld zu verdienen. Ihr schlichtes Gemüt ließ sie gar nicht auf die Idee kommen, ihre Boote loszumachen und den Städtern gegen Gebühr als Touristenattraktion vorzuführen. Von der Gründung einer neuen Zivilisation schienen sie auch ziemlich weit entfernt. Wenn sie abends auf ihre Boote zurückkehrten, wollten sie einfach nur essen und schlafen. Am nächsten Tag erwartete sie wieder ein schweißtreibender Job als Tagelöhner auf einer Baustelle, wo sie für die dreckigste, härteste und gefährlichste Arbeit den denkbar miesesten Lohn bekamen. Nie beschwerten sie sich darüber. Denn sie hatten wenigstens die U-Boote, auf denen ihre Familien warteten, die sie nicht in weit entfernten Dörfern zurücklassen mussten. Die U-Boote waren ihr Ersatz für die Felder, die sie als Bauern zu lächerlichen Preisen an die Lokalregierungen oder Investoren zu verkaufen gezwungen worden waren, um Platz für die wachsenden Städte zu machen. Deshalb taten die Städter zwar gern so, als ginge sie das Schicksal der Wanderarbeiter nichts an, im Grunde aber fühlten sie sich beim Gedanken an sie unbehaglich. Dabei stellten die U-Boote fraglos keinerlei Gefahr für die Städte dar, sie waren gewiss nicht mit Kanonen oder Torpedos bestückt.

Sobald ich schwimmen gelernt hatte, stattete ich mit ein paar Freunden heimlich den U-Booten einen Besuch ab. Mit leeren Schilfrohren im Mund näherten wir uns schnorchelnd den Booten, bis wir außer Sichtweite waren. Als Erstes entdeckten wir die aus Holzstäben gebauten, käfigartigen Gebilde, die an Tauen von den Booten in das schlammige Flusswasser hineinhingen, voller kleiner Wanderarbeiterkinder, die dort mit ihren nackten, ockerfarbenen Körpern anmutig wie schillernde Fische durch das trübe Wasser glitten. Ich nahm an, dass diese Käfige die Kindergartenvariante dieser Menschen darstellten, und staunte nicht schlecht. »Lass dich nicht so leicht beeindrucken. Die würden wir beim Wettschwimmen im richtigen Wasser locker schlagen«, meinte unser Anführer verächtlich. Er war einer der Älteren von uns. Die anderen näherten sich den Käfigen und fragten die Wanderarbeiterkinder: »Habt ihr schon mal ein Auto gesehen?« Sie hörten sofort auf zu schwimmen und sammelten sich an den Gitterstäben, die Gesichter ausdruckslos wie bei Plastikpuppen. Enttäuscht stellte ich fest, dass sie weder Schuppen noch Flossen hatten. Es war ein Rätsel, wie sie es so lange unter und auf dem Wasser aushielten. »Ein Auto? Was ist das?« Eins der Kinder zeigte sich nun doch neugierig und fragte mit kaum hörbarer Stimme. Ich fand, dass er aussah wie eine Comicfigur.

»Ich wusste es!«, rief unser Anführer triumphierend. »Ihr habt wirklich noch nie ein Auto gesehen? Keinen Honda, Toyota, Ford, Buick, BMW oder Mercedes?«

»Nein.« Die Wanderarbeiterkinder wurden ein bisschen verlegen. »Aber wir kennen ganz viele Fische, Goldkarpfen, Makrelen, Karauschen, Störe, außerdem Petersfische und Pekingbrassen.«

Jetzt war es an uns, verlegen zu sein. Wir sahen uns um, entdeckten aber keinen einzigen Fisch. Unsere Lehrer hatten uns erzählt, dass es im Jangtse längst keine Fische mehr gebe. Wollten uns die Kinder foppen? Woher wollten sie diese Fische kennen? »Vielleicht werden aus denen doch andere Lebewesen als wir«, murmelte unser Anführer düster.

Die Wanderarbeiterkinder blinzelten verständnislos und schwammen wieder munter drauflos, in sicherer Distanz zu uns. »Werdet ihr einmal zu Fischen?«, rief ich zu ihnen hinüber.

»Nein.«

»Was werdet ihr dann?«

»Weiß nicht. Fragt Papa oder Mama, wenn sie nach Hause kommen, die wissen es vielleicht.«

Ich überlegte mir, wie sie hier im Wasser lebten, weit weg von Feldern und Gärten, vom Festland, ganz anders als wir. Sie waren wie Fische und Garnelen und wir wie Schafe und Kühe. Das also war die Zukunft.
 

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„Zerbrochene Sterne“, herausgegeben von Ken Liu · Aus dem Chinesischen und Englischen übersetzt von Karin Betz, Lukas Dubro, Johannes Fiederling, Marc Hermann, Kristof Kurz, Felix Meyer zu Venne und Chong Shen · Wilhelm Heyne Verlag · 672 Seiten · E-Book: 13,99 Euro · Ab 9. März 2020 im Shop

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