24. September 2020

Mehr von Cixin Liu und anderen SF-Autoren aus China

Verblüffende chinesische Science-Fiction in der Sammlung „Zerbrochene Sterne“

Lesezeit: 4 min.

Dass sich der Blick von Genreliebhabern auf China richten würde, war nach dem großen Erfolg der Trisolaris-Trilogie (im Shop) von Cixin Liu abzusehen; tatsächlich aber verblüfft die Mischung, die die Kurzgeschichtensammlung Zerbrochene Sterne (im Shop) auf immerhin 670 Seiten ausbreitet: Neben „typisch“ anmutender Science Fiction sind noch andere, bisweilen ungewöhnliche Spielarten des Phantastischen zu besichtigen. Genau darin besteht der Sinn von Länderanthologien, die Alternativen zum gängigen US-amerikanischen Markt anbieten möchten; das Resultat mag Herausforderungen enthalten, ist aber geglückt.

Der in der Nähe von Boston lebende Ken Liu (hier im Gespräch) gilt nicht nur als ein passionierter Übersetzer, der mehr als fünfzig Werke aus dem Chinesischen ins Englische übertragen hat, sondern auch als ein versierter Herausgeber: Seine Sammlung Invisible Planets (2016) enthielt mit „Folding Beijing“ von Hao Jinfang (deutsch unter dem Titel „Peking falten“ erschienen) eine längere Erzählung, die mit dem Hugo ausgezeichnet wurde. Und: Liu orientiert sich konsequent an seinem eigenen Geschmack. „Die Geschichte musste mir gefallen, und: Sie musste mir im Gedächtnis bleiben“, schreibt er in der Einleitung zu Zerbrochene Sterne. Das klingt selbstbewusst, dürfte aber letztlich kaum riskanter als der herkömmliche (und nur vorgeblich objektive) „Best of“-Auswahlmodus sein, bei dem die Leserschaft ebenfalls manches gutheißen und anderes verwerfen wird.

In jedem Fall aber ist die Bandbreite erstaunlich. „Großes steht bevor“ von Baoshu – dem Umfang nach fast ein Roman – schildert eine Welt, in der Zeit zwar vorwärts läuft, sich die Weltgeschichte ab einem bestimmten Punkt jedoch rückwärts zu entwickeln beginnt. Saddam Hussein wird von der „Republikanergarde“ befreit und verjagt die USA aus dem Irak; ein Mann namens Gorbatschow vereint als Reaktion auf massive Wirtschaftsprobleme eine Reihe von Ländern unter der Bezeichnung „Sowjetunion“, dem sich der östliche Teil Deutschlands anschließt … und so weiter, bis zur Kulturrevolution. Wer sich mit der Geschichte Chinas auskennt, hat gewiss mehr von der Erzählung, zumal die Haupthandlung – eine Liebesgeschichte – etwas matt ausfällt, aber dennoch: Schon wegen der Grundidee lohnt sich die Lektüre allemal. Übrigens: Baoshu konnte mit The Redemption of Time (2019) offiziell die Trisolaris-Trilogie fortsetzen; die deutsche Ausgabe befindet sich unter dem Titel Botschafter der Sterne (im Shop) bei Heyne in Vorbereitung.

Und da gerade von Cixin Liu die Rede ist: Auch dessen Beitrag hat etwas mit der Zeit zu tun. „Mondnacht“ handelt von einer Person, die von sich selbst aus der Zukunft angerufen wird, um maßgebliche Handlungen gegen den Klimawandel anzustoßen. Doch was auch immer versucht wird – die Entwicklung scheint nicht aufhaltbar zu sein, sie ändert nur jeweils ihre Stoßrichtung. Und: Auch persönliche Tragödien sind offenbar unkorrigierbar. Zu einer solchen kommt es in „Brain Box“ von Regina Kanya Wung: Als sich der Ehemann die letzten Erlebnisse seiner Frau vor ihrem Unfalltod direkt ins Gehirn überspielen lässt, wird er mit Gedanken konfrontiert, die er lieber nicht erfahren hätte. Ein weiteres Mal erweist sich das technisch Mögliche als keineswegs wünschenswert.

Dies ist auch eines der Themen von Qiufan Chen, dessen Roman Die Siliziuminsel (im Shop) bereits auf Deutsch vorliegt. „Das Licht“ schildert die Nebenwirkungen einer App, die angeblich den Segen eines Mönchs spendet und beachtliche Wirkung entfaltet; doch der Heilsbringer wird von einem einfachen Schauspieler verkörpert. Damit ist die Erzählung über Technikfetischismus und Leichtgläubigkeit aber noch nicht zu Ende. „Eine kurze Geschichte zukünftiger Krankheiten“ ist genau das, was der Titel verspricht, nämlich eine ironische Übersicht zu iPad-Syndrom, kontrollierter Persönlichkeitsspaltung und Zwillingselegien, hinter denen sich unschwer Tendenzen der Gegenwart erkennen lassen. Dass der Text ohne Figuren und Handlung im herkömmlichen Sinne auskommen muss, ist da nur von Vorteil.

Nichts mit Science-Fiction hat die Titelgeschichte von Tang Fei zu tun, die aber aufgrund ihrer irritierenden Stimmung in Erinnerung bleibt: Eine Schülerin träumt Nacht für Nacht von einer bleichen Frau, die mit Hilfe eines Astrolabiums Botschaften der Sterne entschlüsselt. Nur eben – die Frau gibt es wirklich, und auch sonst ist alles ganz anders, als es zunächst scheint. Ein dunkel schimmerndes Juwel, mit dem man nicht rechnet. Einer ganz eigenen Erzählwelt sind auch die beiden kurzen Texte von Han Song verpflichtet: „Salinger und die Koreaner“ schildert die ungeheure Begeisterung der Asiaten für den legendären Schriftsteller J.D. Salinger (The Catcher in the Rhye, 1951; dt. Der Fänger im Roggen) und die sich daraus ergebenden Konsequenzen, als es zur Besetzung der USA kommt. Eine ironische Geschichte, aber nicht ohne Seitenhieb auf die Rolle von Kultur innerhalb von totalitären Systemen. Magischer Realismus hingegen entfaltet sich in „U-Boote“: Der Erzähler rekapituliert Kindheitserinnerungen über die titelgebenden Fahrzeuge, die mit Wanderarbeitern den Jangtse entlang kommen. Doch die Boote sind aus Holz und Schrott gefertigt, und die Kinder an Bord werden in Käfigen gehalten und können verdächtig lange unter Wasser bleiben.

Zerbrochene Sterne enthält noch weitere Geschichten und schließt mit drei Aufsätzen zur chinesischen SF, die das Verständnis vertiefen. Wer mehr will: Der Nachfolgeband Quantenträume (im Shop) mit chinesischen Erzählungen zum Thema Künstliche Existenz ist soeben erschienen.

Ken Liu (Hrsg.): Zerbrochene Sterne. Die besten chinesischen Science-Fiction-Stories • Aus dem Chinesischen und Englischen von Karin Betz u.a. • Heyne, München 2020 • 672 S. • € 16,99 • E-Book 13,99 • im Shop

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