28. Januar 2020

Wenn Liebe so programmierbar wäre

Eine erste Leseprobe aus Sarah Archers romantischer Science-Fiction-Komödie „The Plus One“

Lesezeit: 9 min.

Kelly ist jung, hübsch und genial. Als Ingenieurin bei Automated Human Industries steht sie am Beginn einer vielversprechenden Karriere in der Erforschung und Entwicklung künstlicher Intelligenz. nur in der Liebe will es nicht so recht klappen, denn Kelly ist, nun ja, sozial ein bisschen unbeholfen. Sie selbst würde das auch nicht weiter stören, wären da nicht ihre Mutter und ihre beste Freundin Priya, die alles daran setzen sie zu verkuppeln. Als ein Blind Date nach dem anderen in einer Katastrophe endet, ergreift Kelly drastische Maßnahmen …

 

Es war Samstag, Kelly wusste also, dass sie bei der Arbeit ziemlich ungestört sein würde. Um ganz sicherzugehen, drehte sie, sobald sie im Hochhaus den Fahrstuhl hinaufgefahren war, eine schnelle Runde durchs Stockwerk von AHI – niemand da. Sie war auf Kurs. Sie eilte über den Gang zum Labor, in der Hand eine rot-weiße Einkaufstüte von Target, wo sie auf dem Weg noch schnell haltgemacht hatte.

Nachdem sie fest die Tür hinter sich geschlossen hatte, nahm Kelly sich trotz ihrer Eile einen Moment Zeit, das Labor zu würdigen. Sie liebte diesen Ort, doch leider konnte sie ihn nicht immer für sich allein haben. Jetzt war das Labor menschenleer und bis auf das leise Klimpern der Maschinen still wie eine Kathedrale. Es war wie eine Art Weltraum-Version der Werkstatt von Pinocchios Schöpfer Geppetto: Schränke und Arbeitsplatten aus Edelstahl, Reihen von Computern und 3D-Druckern und dazwischen Körperglieder, Augen, Torsos, Haare in allen möglichen Stadien noch unfertiger Menschlichkeit. An den Arbeitsplätzen sah sie die Fragmente der laufenden Arbeiten ihrer Kollegen: ein Reifen mit sechs Rollen daran, elastisches Polymerband, sehnig mit Kabeln, eine periskopartige Vorrichtung mit Infrarotsensor. Hinten im Raum standen ein paar vollendete Prototypen früherer Android-Modelle Wache, jedes Exemplar etwas überzeugender als das vorige: ein glatter weißer Roboter, nur der Haltung nach menschenähnlich, ein kastenförmiger Mann mit krallenartigen Metallhänden, eine junge, blonde Frau mit wachsartiger »Haut«. Auf manche Leute hätte das Ganze vielleicht unheimlich gewirkt, aber für Kelly war dies ihr Zuhause.

Sie hatte den ganzen Vormittag schon eine Bestandsaufnahme im Kopf gemacht – sie wusste auswendig, was sie im Labor vorrätig hatten, schließlich hatte sie bei der Herstellung der meisten Teile mitgewirkt –, und es gab auf jeden Fall genug fertige Ersatzteile für das, was sie vorhatte. Sie müsste ein paar Änderungen vornehmen, um ein harmonisches Ganzes zu schaffen, und natürlich würde das tatsächliche Zusammensetzen der Teile etwas Arbeit erfordern. Aber Kelly hatte bereits in Vorbereitung auf den Bau des physikalischen Modells von Confibot einiges an Extraarbeit geleistet und erste Fehler behoben. Und anders als Confibot würde dieses Modell keine absolute Perfektion erfordern. Es musste nicht mit einer konkreten Vision von Nutzerkompatibilität übereinstimmen. Es konnte einfach so sein, wie sie es haben wollte, was bedeutete, dass es viel leichter sein würde, alles zusammenzufügen. Ausnahmsweise konnte sie mal nur ihrer Intuition folgen.

Als Kelly umherlief, um die Teile zusammenzusuchen, merkte sie, dass sie noch gar nicht wusste, wie er aussehen sollte. Sie zog eine Schublade mit Glasaugen aus dem Regal und betrachtete sie: einhundert verschiedene Arten von Farben der Iris, Pupillengröße, Hornhauttönung, Äderung. Es wäre am sichersten, etwas Gewöhnliches zu nehmen. So wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen. Doch als sie die Hand über die eher durchschnittlichen Augen in der Mitte der Schublade hielt, zögerte sie. Als würde sich etwas in ihr sträuben, eins dieser Paare herauszunehmen. Lebe dein Leben, hörte sie Priya in ihrem Kopf sagen. Die üblichen Regeln waren hier ganz ohnehin schon klar überschritten. Kelly spürte das Adrenalin durch ihre Adern pumpen. Schnell entschlossen ließ sie die Hand an den Rand der Schublade wandern, zu dem Paar Augen, von dem ihr Blick zuerst angezogen worden war: ein kristallines, beinah lavendelfarbenes Blau.

Okay, warum dann nicht gleich aufs Ganze gehen? Während Kelly mit der computergestützten Design-Software ihre Ideen entwarf und sie anschließend mithilfe eines 3D-Druckers und eines Einkaufstrips durch die im Labor existierenden Teile umsetzte, ließ sie sich von ihrem Herzen – oder von etwas, das anders als ihr Design-Guide weiter unterhalb ihres Herzens saß – leiten. Zur Hölle mit dem Gewöhnlichen. Sie legte ihm mokkabraunes, gewelltes Haar über die sonnengebräunte Stirn und arbeitete sich dabei vorsichtig um die winzigen Solarmodule herum, die als Stromquelle in seine Kopfhaut integriert waren. Sie gab ihm lange, saubere Hände mit kantigen Handgelenken. Sie formte ihm einen unglaublichen Hintern. Es war ein bisschen unheimlich. Aber es fühlte sich auch ein bisschen gut an.

Zum Glück war das normale zweiwöchige Familienessen verschoben worden, weil Diane gerade wegen einer Messe unterwegs war. Kelly hatte das Wochenende für sich, und sie blieb die ganze Zeit im Labor, machte Nickerchen auf ihrem Stuhl und verließ den Raum nur, um auf die Toilette zu gehen oder einen Ausflug zu den Automaten zu machen, wo sie sich Chips und irgendwelche Getränke zog, Hauptsache, sie enthielten viel Koffein, während sie das Gesicht verstohlen vor den Sicherheitskameras verbarg. Einmal hörte sie die Fensterputzleute ihre Runde drehen. Später tauchte vor einem Büro den Gang hinunter ein Kollege auf, der anscheinend nur etwas holen wollte, und jagte ihr den Schreck ihres Lebens ein. Als Angestellte hatte sie jedes Recht, hier zu sein – aber trotzdem. Was würde passieren, wen irgendwer mitbekäme, was sie hier tat? Wenn ihre abgebrühte Chefin wüsste, dass Kelly sich mit Firmeneigentum im Wert von mehreren tausend Dollar einen Freund baute, würde sie die heiligen Hallen von AHI wohl niemals wieder betreten dürfen. Die Nachricht würde sich in der Roboterindustrie rasend schnell verbreiten – das war genau die Art von Futter für verrückte Schadenfreude, über das sich die Techies auf Reddit hermachen würden. Und für den Rest ihres Lebens würde jedes Mal, wenn ein möglicher Arbeitgeber oder ein potenzielles Date Kelly googelte, diese Story als erstes Ergebnis erscheinen.

Priya würde Mitgefühl mit ihr haben, aber trotzdem denken, dass Kelly endgültig den Verstand verloren hatte, wenn sie von ihrem Plan erfuhr. Sie würden nie wieder zusammenarbeiten und sich wahrscheinlich immer weiter voneinander entfernen. Und Kelly würde ihrer Familie, die sie ohnehin schon für unfähig hielt, sich selbst eine Hochzeitsbegleitung zu suchen, ein Zertifikat überreichen – goldgeprägt, unterschrieben und gerahmt –, das genau diese Tatsache bestätigte. Mehr denn je wäre sie die Außenseiterin, die leicht schrullige, leicht verzweifelte Tochter. Während Kelly so darüber nachdachte, verharrte ihre Hand mit dem Schraubenzieher mitten in der Bewegung in der Luft. Sie konnte alles verlieren.

Doch dann blickte sie auf ihre Arbeit vor sich und wäre beinahe vom Stuhl gefallen. Sie war so darauf konzentriert gewesen, durch die Details zu rasen, dass sie gar nicht mehr auf das Gesamtbild geachtet hatte. Und auch wenn das Bild immer noch nicht fertig war, war es trotzdem schon unglaublich. Dies war bei Weitem der perfekteste, überzeugendste, schönste Android, den sie je gebaut hatte. Selbst mit seinem noch unbedeckten Torso und den ganzen Platinen und Kabeln sah er absolut … menschlich aus. Sie wusste natürlich, dass das möglich war; es war genau das, woran sie schon seit Monaten an Confibot arbeitete. Aber es tatsächlich passieren zu sehen war aufregend. Und genau dies, wurde ihr jetzt klar, könnte ihr bei Confibot helfen. Was gab es für eine bessere Möglichkeit, ihre Schöpfung vor der Präsentation zu perfektionieren, als vorher ein Testmodell zu bauen? Die daraus resultierenden Ergebnisse würden die zusätzliche Zeit, die sie brauchte, um die Confibot-Teile, die sie dieses Wochenende für Ethan entwendet hatte, noch einmal nachzubauen, mehr als wettmachen.

Trotzdem brauchte Kelly etwas Konkreteres, um das Risiko unter Kontrolle zu halten. Sie brauchte eine Deadline. Sie nahm ihr Handy und öffnete ihren Kalender. In roten Großbuchstaben erstellte sie einen Termin für den achten März mit dem Titel »Du weißt schon was«. Am Morgen nach Claras Hochzeit würde sie Ethan wieder auseinandernehmen. Jetzt, wo sie einen Plan und etwas Ordnung ins Chaos gebracht hatte, konnte sie gleich etwas besser atmen. Sie musste Ethans Herkunft nur sechs Wochen lang geheim halten, dann würde sie alle Teile ins Labor zurückbringen. Als wäre nichts gewesen. Sie würde nichts verlieren, aber sie konnte ziemlich viel gewinnen. Sie richtete sich auf und machte sich wieder an die Arbeit.

Schließlich schaltete sie den 3D-Drucker aus, verband die letzten Kabel miteinander und kleidete ihren Roboter an. An ihm sahen die billige Hose und das Hemd von Target sogar ziemlich schick aus. Doch der schöne Roboter war immer noch nur ein Gegenstand. Der kantige Kiefer war schlaff, die leuchtenden Augen waren stumpf. Es war an der Zeit, Frankensteins Monster zum Leben zu erwecken.

Die Software war grundsätzlich vorhanden, größtenteils hatte Kelly sie selbst programmiert. Aber sie war noch immer in der Testphase und noch nicht richtig überprüft worden. Kellys Fokus hatte bisher darauf gelegen, die notwendigen sozialen Forschungen zu betreiben, wie ein Android mit den Nutzern interagieren sollte, und noch nicht auf der Programmierung dieser Interaktionen und Charakterzüge. Sie würde ein paar Korrekturen durchführen und währenddessen improvisieren müssen, aber trotzdem könnte es sein, dass es nicht funktionierte. Es war gut möglich, dass sie einen Suaheli sprechenden Pädophilen mit Tourette-Syndrom vor sich hatte.

Kelly führte einige Simulationen auf einem der Labor-Computer durch, änderte ein paar Kleinigkeiten und gewann langsam etwas Sicherheit. Doch erst als es an der Zeit war, die Programmierauswahl zu treffen, wurde ihr bewusst, dass dies die Gelegenheit war, ihren idealen Mann zu erschaffen. Sie hatte ihm bereits einen perfekten Körper geschenkt, warum sollte sie ihm nicht auch noch ein perfektes Wesen geben? Perfektion zu definieren, wenn es um Geist, Herz und Persönlichkeit ging, war jedoch eine sehr viel schwierigere Aufgabe.

Dann kam ihr eine Idee, und sie musste beinah laut auflachen – natürlich! Sie hatte doch bereits ihren idealen Partner entworfen! Sie rief ihre Liste von Eigenschaften von der Dating-Seite ab und machte sich an die Arbeit, wobei sie das Profil beim Programmieren noch weiter ausarbeitete. Ein Mann sollte eine Krawatte binden, einen Reifen wechseln und einen Hund erziehen können. Er musste natürlich Englisch sprechen und, sagen wir Italienisch, und Chinesisch war auch wichtig … Ach, was soll’s. Sie hatte nicht den ganzen Tag Zeit. Sie gab ihm Zugriff auf ganz Google. Sie wusste, es war riskant, ihn so außergewöhnlich zu machen, aber sie hatte keine Zeit, sich die Rosinen rauszupicken, und ehrlich gesagt wollte sie es auch nicht. Je mehr Kelly programmierte, desto weniger baute sie irgendeinen Mann, einen atmenden Zweibeiner, der auf Fotos neben ihr stehen konnte, sondern desto mehr baute sie ihren Mann.

Sie importierte ihre Programmierung der elementaren Reaktionen auf soziale Situationen, hatte allerdings etwas Sorge, dass sie lückenhaft war … Kelly reagierte schließlich seit neunundzwanzig Jahren auf soziale Situationen und hatte es immer noch nicht richtig raus. Doch dann schob sie den Gedanken beiseite. Es müsste einfach genügen. Sie würde sich auf seine maschinelle Lernfähigkeit verlassen, mit der Zeit würde er die Lücken selbständig füllen.

Das Wesentliche war, sicherzustellen, dass er völlig unter ihrer Kontrolle stand. Sie musste die Möglichkeit haben, ihn neu zu programmieren, ihn aus- und anzuschalten, um den Grad an Verrücktheit dessen, was sie hier tat, abzuschwächen. Sie richtete es so ein, dass sie von ihrem Laptop aus auf sein System zugreifen konnte, damit sie die nötigen Änderungen auch zu Hause vornehmen konnte. Und als analoge Sicherung setzte sie ihm eine Platine mit ein paar Schaltern in den unteren Rücken – Grundlegendes wie An, Aus, Schlafmodus – nur für den Fall. Bei allem, was mit diesem Plan schiefgehen konnte, war es beruhigend, diese körperliche Manifestierung von Kontrolle unter ihren Fingern zu spüren.

Und schließlich war sie fertig. Oder besser gesagt, er. Berauscht schaltete Kelly ihn an. Und vor ihr wurde der faszinierendste Mann, den sie je gesehen hatte, lebendig. Er blickte sich im Raum um und verschaffte sich einen Überblick, doch als er Kelly sah, hielt er inne. Er lächelte.

»Hi, Kelly«, sagte er.

 

Sarah Archer: The Plus One – Sie baut sich Mr. Right einfach selbst • Aus dem Englischen von Stefanie Frida Lemke • Heyne, München 2020 • 351 Seiten • E-Book: 9,99 Euro • (im Shop)

 

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