12. Juli 2017 1 Likes

>>Wiederentdeckt: „Schemen“ von Bentley Little

oder: Die Kunst der Slow Implosion

Lesezeit: 5 min.

Manchmal gibt es Romane, Filme oder Musik, die in der Zeit ihrer Entstehung durchs Raster fallen. Die veröffentlicht werden und dann einfach – verschwinden. Manchmal lohnt sich aber ein zweiten Blick.

Wie im Fall von Bentley Littles „Schemen“ (The Ignored), der 1997 beim US-Verlag Signet (ein Imprint von Penguin) erschien und als Horrorroman vermarktet wurde. Das Cover zierte ein altes Kinderkarussel vor blutrotem Himmel, ein Zitat von Stephen King („A master of the macabre!“) an prominentest möglicher Stelle über dem Titel platziert. In Deutschland erschien der Roman 2010 bei Bastei Lübbe und das Cover zierte der Joker (jedenfalls denkt man beim Betrachten sofort an Batmans Erzfeind) und das Wörtchen „Horror“ steht in schön gruseliger Schrift eingebettet in die gruselige Typographie. Blöd nur, dass „The Ignored“ kein Horrorroman ist, sondern fantastische Literatur an der Grenze zur Science-Fiction. Und der Joker ist nicht dabei. Ein Kinderkarussel fehlt ebenfalls.

Bentley Little war Mitte der 1990er aber eine Art Hoffnungsträger des Horrorgenres. Bereits sein erster Roman („The Revelation“) wurde 1990 mit dem renommierten Bram Stoker Award ausgezeichnet, mit „The Mailman“ (dt. „Böse“, 2009) hatte er 1991 ein kleines bizarres Meisterwerk nachgelegt, das ihm mindestens unter Kollegen gehörigen Respekt einbrachte. Weitere Horrorromane folgten, bis eben „The Ignored“ kam – und einige Verwunderung bis Unverständnis oder gar Feindseligkeit auslöste; die Marketing-Genies bei Signet (und später bei BL) hatten da wirklich ganze Arbeit geleistet. Denn natürlich fühlten sich die Leser verschaukelt. Little hatte nicht das geliefert, was versprochen war.

„The Ignored“ ist wie eine Aneinanderreihung von „slow implosions“. Wir verfolgen das Leben von Bob Jones, das ein verdammt normales Leben ist, so verdammt durchschnittlich, dass Bob sich irgendwann fragt: Kann das normal sein? Ist die Frage erst einmal gestellt, findet er schnell Anhaltspunkte, die seine Paranoia bestätigen. Bobs überragende Durchschnittlichkeit ist keineswegs normal. Er ist so unauffällig, dass ihn seine Mitmenschen kaum bemerken, er wird von ihnen geradezu ignoriert. Und: Je stärker Bob darauf achtet, desto mehr wird ihm bewusst, dass sich dieser Zustand verschlimmert. Jeden Tag wird er unsichtbarer, ohne unsichtbar zu sein.

Das ist die Prämisse, von der Little ausgeht. Und wer jetzt denkt, das ist doch eine fabelhafte Ausgangslage für Horror pur, weil sich „der Unsichtbare“ nun seinen Weg durch die Welt ficken, rauben und morden kann, ohne mit Konsequenzen zu rechnen, hat natürlich recht. Doch Little hat anderes im Sinn. Denn seinem Protagonisten sind diese Möglichkeiten durchaus bewusst, aber da Bob auch ein durchschnittlich moralischer Mensch ist, zuckt er vor den bösartigen Optionen seines Zustands meistens zurück. Nicht immer.

Es gibt zwei massive Plotpoints in diesem Roman, die den Drall der Geschichte deutlich verändern. Erstens: Bob stellt fest, dass er nicht der einzige „Ignorierte“ ist. Andere treten an ihn heran, denn die Ignorierten erkennen sich, wenn sie sich begegnen. Etwa ein Dutzend von ihnen bilden nun eine verschworene Gemeinschaft mit einem so diffusen wie verständlichen Ziel: man will den Rest der Menschheit auf sich aufmerksam machen. Dabei greift man zu immer drastischeren Mitteln, die aber alle nicht zum Ziel führen. Zweitens: Die Gruppe erfährt, dass es eine ganze Stadt ihrer „Art“ gibt. Nun schöpft man Hoffnung, doch noch ein halbwegs richtig normales Leben führen zu können. Aber auch das erweist sich als Illusion. Denn die Ernüchterung ist groß als man erkennt, dass einige Nicht-Ignorierte einen perfiden Sinn in der Existenz der Ignorierten gefunden haben und sie für ihre Zwecke einsetzen. Nämlich als willige Herde von Produkttestern. Denn was den Ignorierten, den Normalsten der Normalen, gefällt, gefällt allen.

Spätestens an dieser Stelle, wenn der satirische Hammer mit aller Gewalt fällt, wird Littles Ambition überdeutlich, nämlich ein zutiefst dystopisches Gesellschaftsbild zu skizzieren, in dem – ganz ohne orwellschen Monsterstaat – das Individuum vom Kapitalismus gefressen und zu einem ekligen Brei verdaut wird. Sämtliche Versuche aus dem System auszubrechen, scheitern in kläglicher Lächerlichkeit.


Bentley Little

Spannender als die mit breitem Pinsel präsentierte Satire aber ist die Implosion von Bobs Leben, die sich anfühlt wie eine moderne Version von Richard Mathesons „The Shrinking Man“ (1956). Am Anfang des Romans ist Bob ein junger Kerl, den der Zwang der Gesellschaft zu einer Bürodrohne gemacht hat. An diesem allzu nachvollziehbaren Ausgangspunkt beginnt die Zersetzung seines Lebens und Little versteht es meisterhaft, diesen Prozess mit sprachlich einfachsten, zurückhaltenden Methoden in all seiner verzweifelten Jämmerlichkeit zu schildern. Denn eigentlich will Bob ja nur das kleine Glück – Frau, Kind, netter Job, Vorgarten – und selbst das ist ihm nicht vergönnt. Jedem Anflug von Euphorie – wenn er mit der Gruppe der Ignorierten, die sich in völliger Selbstüberschätzung „Terrorists for the Common Man“ nennt, die Sau rauslässt – folgt der nächste Tiefschlag, die nächste Depression. Und es hört nie auf. Denn Bob schwindet immer weiter. Irgendwann ist er selbst unter den Ignorierten ein Ignorierter und nicht einmal das ist das Ende. Die existentielle Angst vor dem totalen Verschwinden, das Little beschreibt, führt nämlich über unsere Welt hinaus. Dieser Schluss, der mit zum Besten geführt, was die moderne fantastische Literatur zu bieten hat, ist so unglaublich, das man sich beim Lesen kneifen muss.

Erst auf den letzten drei, vier Seiten findet Little einen versöhnlichen Dreh – und fast hat man das Gefühl, dass er vor der allerallerletzten Konsequenz zurückschreckt, weil er selbst Angst vor dem großen Mahlstrom hat, den er da öffnet.

Little hat sich von „The Ignored“ nie mehr so richtig erholt. Die wenigen Interviews, die der Internet-Verweigerer überhaupt gegeben hat, zeigen deutlich wie enttäuscht er darüber ist, dass sein ehrgeiziger Ansatz nicht angekommen ist. Als Folge hat er in den Jahren danach stets versucht es so ziemlich allen recht zu machen, bis er sich eine Nische im Genre schuf und seither vorwiegend Horrorromane mit kapitalismus-/kulturkritischen Themen produziert, in denen er die Bosheit von u.a. Supermärkten, Versicherungen und Gated Communities aufs Korn nimmt. Ein „Ignored“ war nie mehr dabei.

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