1. November 2016 4 Likes

Willkommen auf dem Mond!

Eine erste Leseprobe von Arne Ahlerts genialem Debütroman „Moonatics“

Lesezeit: 19 min.

Die Erde ist zu klein geworden - gibt es doch inzwischen kaum mehr einen Ort, den man nicht bereisen kann. Das Gefühl kennt auch Darian Curtis, liebenswert verplanter Webdesigner und der Held aus Arne Ahlerts Debütroman „Moonatics“ (im Shop). Als Darian eines Tages ein beträchtliches Vermögen erbt, erfüllt er sich den Traum eines jeden Globetrotters und bucht eine Reise zum Mond. Es ist der Beginn des größten und verrücktesten Abenteuers in Darians Leben, denn auf dem Mond geht die Party erst richtig los.

Arne Ahlert: Moonatics„Moonatics“ ist ab dem 07.11.2016 erhältlich, und allen, die sich schon einmal einen kleinen Einblick in den Roman gönnen wollen, stellen wir hier schon mal eine erste Leseprobe zur Verfügung.

 

 

PREQUIEM

»History is a nightmare from which I try to awake.«

James Joyce

 

Der Tag, an dem sich alles änderte, begann wie jeder andere. Um exakt fünf nach sieben, wie immer – mit dem Radiowecker.

Die Zeit hatte ich so eingestellt, dass ich nicht von den Nachrichten geweckt wurde, sondern erst danach. Der Übergang vom Traum in die Realität war mit Musik besser zu ertragen als mit dem Weltgeschehen.

Der Sender brachte normalerweise nach den Nachrichten etwas Fröhliches und Aufmunterndes. Doch an diesem Morgen, um fünf nach sieben, war alles anders. Es ertönte ein Requiem.

Danach meldete sich der Moderator zu Wort. Die düsteren Klänge waren dem europäischen Sommer gewidmet, denn es würde ihn nicht mehr geben. Es war soeben offiziell bestätigt worden, dass der Golfstrom endgültig versiegt war.

Das war die Geburtsstunde der Generation Golfstrom.

Meiner Generation.

Zugleich war es mein einundzwanzigster Geburtstag. Der Tag, an dem ich mein Studium abbrach und auf Reisen ging.

 

21 Jahre später …

PRELUNE

»Wir liegen alle in der Gosse, aber manche von uns blicken zu den Sternen empor.«

Oscar Wilde

 

Mein Name ist Darian.

Ich wurde in London geboren, am 11. September 2001 – sicherlich nicht nur für meine Mutter ein unvergesslicher Tag. Mein Vater dagegen war vor meiner Geburt spurlos verschwunden, und bis zu meinem zweiundvierzigsten Geburtstag hatte ich angenommen, dass er nichts von meiner Existenz wusste. Aber dann bekam ich Post.

Zwei Briefe. Der erste war der alljährliche Gruß meiner Mutter, abgestempelt in Indien und mit einer selbst gebastelten Marke frankiert. Offenbar hatte sie sorgfältig den weißen Zackenrand einer echten Briefmarke abgetrennt und ein kleines Selbstporträt hineingefügt; sie trug darauf eine rote Winterjacke, eine Schneebrille und lachte, im Hintergrund war der Mount Everest zu erkennen. Damit es noch echter aussah und der Brief auch wirklich abgestempelt würde, hatte sie eine Portozahl und den Schriftzug HUNDERT JAHRE HIMALAJA hineinkopiert. Dort lebte sie seit Jahren in diversen Aschrams und kommunizierte ausschließlich auf dem Postweg. Da sie nie einen Absender angab und so ihre Unerreichbarkeit zelebrierte, war dies eine sehr einseitige Angelegenheit – sie erkundigte sich nie nach meinem Befinden, da ich ihr ohnehin nicht antworten konnte.

Der zweite Brief war allerdings eine Überraschung: ein Einschreiben einer Anwaltskanzlei aus Rom, einer Sozietät namens Pautsch und Gatera. Ich las zu meinem Erstaunen, dass ich dort bitte persönlich erscheinen möge, um einige Papiere zu unterzeichnen. Ein Aktienpaket. Von meinem Vater.

Verblüfft ließ ich das Schreiben sinken und schaute aus dem Fenster in den verschneiten Londoner Septemberhimmel. Seit Jahren hatte ich nicht mehr an meinen Vater gedacht, schließlich gab es auch nichts, woran ich hätte denken können. Meine Mutter hatte nie viel von ihm erzählt. Ich wusste nur, dass sie sich im Jahr 2000 beim Burning Man in der Wüste von Nevada kennengelernt und einige Monate später auf einer Full-Moon-Party in Thailand wiedergetroffen hatten. Und da war es wohl passiert. Sie hatte mir nie ein Bild von ihm zeigen oder auch nur seinen Namen nennen können – wenn ich mir ihre Fotos von damals anschaue, wie sie so unterwegs war, dann wundert mich das auch nicht. Bis zu diesem Tag hatte ich nicht einmal gewusst, dass er überhaupt noch lebte, und nun ließ er mir über eine römische Anwaltskanzlei ein Aktienpaket zukommen.

So kam es, dass ich bald darauf zum ersten Mal in die Ewige Stadt reiste.

 

Mein Hotel in der Via Cavallini lag ein gutes Stück von der Kanzlei entfernt. Der Weg dorthin ließ sich perfekt mit einem Ausflug zum Vatikan verbinden, und so schlenderte ich nach dem Frühstück die Via della Conciliazone entlang, das Signature Hole der Stadt, die die alte römische Engelsburg mit dem Vatikan verband. Mussolini hatte diese Sichtachse einst in die Stadt geschlagen, um so dem Petersdom eine würdige Zufahrt zu geben; mit dieser Schweißnaht im städtebaulichen Gefüge hatte er das Römische Reich, den Vatikan und den Faschismus demonstrativ miteinander verknüpft.

Auf dem Petersplatz sah ich sogar den Papst. Von seinem Balkon grüßte er bei einer Freiluftmesse die versammelte Menge, sein langer roter Bart war weithin zu erkennen. Auf dem Flug hatte ich im Bordmagazin gelesen, er sei bei einem Versuch, zur letzten Wahrheit zu gelangen, auf irgendetwas hängen geblieben. Der Vatikan bestätigte oder dementierte dies natürlich nicht, aber die öffentlichen Auftritte des Heiligen Vaters seien zunehmend seltener und wirrer geworden. Ich schaute eine Weile den Gläubigen zu, wie sie trotz der kühlen Temperaturen nackt in den Kolonnaden tanzten, konnte aber den Anblick der herumschwappenden Brüste und Hodensäcke nicht lange ertragen.

 

Die Kanzlei befand sich an der Piazza Mercanti in Trastevere. Der Anwalt, Signor Gatera, ließ mich im düsteren, holzgetäfelten Vorzimmer seines Büros nicht lange warten – kaum hatte ich an dem Espresso genippt, den mir seine Sekretärin gereicht hatte, öffnete sich auch schon die doppelflügelige Tür. Gatera erschien auf der Schwelle und schaute mich mit knappem Lächeln an. Selbst im Gegenlicht war zu erkennen, dass der dunkelblaue Anzug des jungen Anwalts perfekt geschnitten war. »Signor Curtis?«

Ich stellte die kleine Tasse ab und folgte ihm in sein Büro. Er schloss die Tür und bedeutete mir, auf dem braunen Ledersessel vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Darauf stand ein ramponierter Globus. Er leuchtete nicht, der Stecker lag herausgezogen auf der schweren Mahagoniplatte.

Ich musste mich zusammenreißen, um den obligatorischen Small Talk höflich zu überstehen. Was interessierte mich das verkommene Wetter oder Fragen nach meinen Eindrücken von Rom, wenn ich kurz davor war zu erfahren, wer mein Vater war und ob er noch lebte?

»Kommen wir zum Geschäftlichen«, sagte Gatera endlich. »Bei dem Aktienpaket handelt es sich nicht um eine Erbschaft – zumindest nicht in dem Sinne, dass Ihr Vater gestorben wäre. Das ist nicht der Fall.«

»Und wer ist es … wie ist sein Name?«, fragte ich.

»Nun, leider bin ich nicht befugt, Ihnen darüber Auskunft zu erteilen, Signor Curtis.« Gatera zupfte an seinem halbseidenen Krawattenknoten. »Das Verfahren ist auf ausdrücklichen Wunsch Ihres Vaters anonym eingeleitet worden. Bedauerlicherweise kann ich Ihnen nicht mehr dazu sagen.«

Ich nickte enttäuscht. »Wie hat er mich überhaupt gefunden? Über meine Mutter?«

Gatera zuckte mit den Schultern.

»Und wieso gerade an meinem zweiundvierzigsten Geburtstag?«

»Sie wissen schon – zweiundvierzig. Die Antwort auf alle Fragen.« Gatera lächelte ölig. Auf dem dunklen Globus zog sich eine dünne Staubschicht vom Nordpol bis weit nach Europa hinunter. Ich schwieg nachdenklich.

»Um was für Aktien handelt es sich überhaupt?«, erkundigte ich mich.

»Um Anteilsscheine der …«, Gatera räusperte sich, »… BelTech Corporation.«

Ich schaute den Anwalt fragend an. BelTech?

»BelTech ist die global größte Projekt- und Investmentholding – Bergwerke, Staudämme, Sojaplantagen, Raumstationen, Gefängnisse, Militär, Flüchtlingscamps …«

»Klingt eher unsympathisch.«

»Auch wenn die geschäftlichen Aktivitäten von BelTech sicher nicht ganz unumstritten sind«, fuhr Gatera fort und wies mit seinen manikürten Händen in Richtung Fenster, »waren sie bisher doch immer eine äußerst lukrative Anlage. Ihr Vater hat sicherlich auf das richtige Pferd gesetzt.« Ich glaubte in Gateras Augen ein gieriges Funkeln zu erkennen. »Wenn Sie wünschen, können wir für Sie den Verkauf der Aktien übernehmen.«

»Ist der Zeitpunkt denn günstig?«

»Sagen wir so – der Schwerpunkt von BelTech liegt darin, die Ressourcen unseres Planeten in Kapital umzuwandeln. Und die Börsenkurse, wie das Finanzsystem im Allgemeinen, hängen letztlich vom Glauben der Menschen an die Zukunft ab. Und da weder die Ressourcen noch unsere Zukunft allzu viel Anlass zum Optimismus bieten, sollten Sie die Aktien besser zeitnah abstoßen.«

»Das leuchtet ein.«

Gatera nickte. »Wir werden uns umgehend darum kümmern. Meine Sekretärin wird Ihnen die Unterlagen für das Finanzamt mitgeben. Dass Sie den Gewinn aus dem Verkauf der Aktien fristgerecht versteuern, ist von äußerster Wichtigkeit. Das dürfen Sie auf keinen Fall versäumen, die Behörden sind da sehr streng. Und ich habe noch etwas für Sie – von Ihrem Vater.« Gatera überreichte mir einen kleinen Briefumschlag.

Ich wischte unauffällig meine rechte Handfläche am Hosenbein trocken und nahm das Kuvert entgegen. Eine Nachricht von meinem Vater? Hastig öffnete ich den Umschlag und zog einen gefalteten Bogen Papier hervor.

Du wirst dich fragen, warum der Termin ausgerechnet in Rom stattfindet, wo die Kanzlei doch eine Niederlassung in London hat. Es tut dir bestimmt gut, die Ewige Stadt zu sehen. Das wird dein Vertrauen in die Langfristigkeit und Beständigkeit der Dinge vielleicht ein wenig stärken.

Enttäuscht ließ ich das Papier sinken. Das war die erste Nachricht meines Vaters nach zweiundvierzig Jahren?

Ratlos sah ich Gatera an. »Sind Sie sicher, dass das alles ist?« Ich hielt das Blatt fragend in die Höhe.

»In der Tat, mehr gibt es nicht«, sagte Gatera. »Aber die Aktien sind doch auch nicht schlecht, oder?«

Ich nickte schweigend, während Gatera verstohlen auf seine Armbanduhr schaute.

 

Eine Stunde später saß ich auf der Terrasse einer Trattoria. Die Aktiengutschrift und der Zettel steckten in der Innentasche meiner Jacke, die Steuerformulare in meinem Rucksack. Gedankenverloren blinzelte ich in die kühle Sonne des römischen Septembernachmittags – immerhin hatte ich heute Glück mit dem Wetter, denn es hatte hier zuvor sieben Wochen ununterbrochen geschneit und geregnet. Wieso hatte sich mein Vater nie für mich interessiert, mich niemals kontaktiert? Nun diese Aktien nach über vier Jahrzehnten.

Beim Kellner bestellte ich eine Flasche Absinth, dazu noch zwei Flaschen Pellegrino und ein robustes Trinkglas. Ich würde alles mitnehmen, einen guten Ort in der Stadt aufsuchen und mich dann dort ordentlich betrinken.

Mit den neu erworbenen Utensilien im Rucksack wanderte ich los, über eine Tiberbrücke, der Stadt entgegen. Wo sich auf heimischen Teichen Enten und Schwäne tummelten, waren hier die Raubmöwen zu Hause, und in diesem Fluss, auf der Isola Tiberina, stand eine Entbindungsklinik; an dieser Stätte wurden seit jeher die Römer geboren. Die ersten von ihnen, Romulus und Remus, waren angeblich von einer Wölfin gesäugt worden. Es gab eine kleine, abstoßende Bronzeskulptur, an der zwei kleine Männchen nuckelnd unter ihren Zitzen hingen – das passierte, wenn man Metaphern allzu wörtlich nahm, denn Lupa bedeutete nicht nur Wölfin, sondern auch Hure, was sicher die näherliegende Deutung war. Man sagte Berlusconi nach, er habe in seinen Privatgemächern eine Statue gehabt, die den Sachverhalt treffender darstellte.

Ich ließ den Tiber hinter mir und wanderte durch die Gassen Roms, vorbei an den immer noch unübersehbaren Narben des Anschlags von 2020, und navigierte zwischen den hoch aufgehängten, leise schaukelnden Gitterkäfigen mit wimmernden Taschendieben hindurch. Schließlich stand ich auf der Piazza della Rotonda vor dem Pantheon. Es war geöffnet, keine Kassen und Schlangen davor, also ging ich hinein.

Im Dämmerlicht des Kuppelbaus unterrichteten mich meine Kontaktlinsen, dass das Gebäude seit dem letzten Vatikanischen Konzil keine Kirche, sondern nunmehr ein offener Tempel für alle Religionen und Gottheiten sei, was gut zu seinem Namen passte.

Ich setzte mich in eine der Nischen in der umlaufenden runden Wand, holte das Glas und die Zutaten aus meinem Rucksack und bereitete mir andachtsvoll einen Absinth zu. Das hellgrün schimmernde Getränk hielt ich hoch gegen den Strahl aus Licht, der von oben durch das offene Himmelsauge auf den Boden schien. Ich prostete meinem Vater zu, nahm einen ersten Schluck und schaute mich um.

Nicht weit von mir verbrannten chinesische Touristen in bereitstehenden Schalen nachgemachte Geldscheine. Unten auf dem reich verzierten steinernen Boden hatten mittlerweile einige Muslime ihre Gebetsteppiche ausgebreitet, direkt unter der Kuppelöffnung, wo noch Wasserpfützen vom wochenlangen Regen standen. Die Teppiche waren sofort nass. Einer der Männer suchte die Ausrichtung nach Mekka, und man ließ sich trotz der Pfützen gemeinsam zum Gebet nieder. Ihre Bewegungen – das Beugen, der Kniefall und das Sitzen – erinnerten mich an die Sonnengrüße meiner Mutter. Offenbar lag die Wandnische, in die ich mich zurückgezogen hatte, ebenfalls gen Mekka, denn die betenden Männer verbeugten und erhoben sich ausgerechnet in meine Richtung. Das war mir eher unangenehm, weshalb ich meine Sachen zusammenpackte und mit dem Absinth in der Hand eilig wieder nach draußen ging.

Das Glas war bald leer, aber ich mochte mir nicht irgendwo am nächstbesten Ort nachschenken, also zog ich weiter, bis ich an eine lange Treppe gelangte. Ich stieg hinauf, zum Kapitolshügel, auf die Piazza del Campidoglio. Der Platz war umgeben von Renaissancegebäuden, in seiner Mitte ein bronzenes Reiterstandbild. Auf dem Pferd saß ein bärtiger Römer mit zum Gruß erhobenen Arm. Kaiser Marc Aurel.

Ich setzte mich auf eine Bank am Rande der kleinen Piazza, goss Absinth und Wasser in mein Glas und prostete dem bronzenen Kaiser zu. Ich dachte wieder an meinen mysteriösen Vater und seine seltsame Nachricht. Mein Vertrauen in die Langfristigkeit und Beständigkeit der Dinge? Sicher, der bärtige Kaiser saß schon seit Jahrhunderten auf seinem Pferd. Und ich? Nein, ich hatte keine Imperien erweitert und stand auch nicht in Bronze verewigt auf einem Platz. Vielmehr saß ich nur auf einer Bank, mit Erbschaft in der Tasche und Drink in der Hand, und ließ mein kleines Leben Revue passieren.

Nach dem Ende des Golfstroms und meines Studiums der Kunst- und Kulturgeschichte hatte ich mich vom Konzept eines zielgerichteten Lebenslaufs verabschiedet und begonnen, durch die Welt zu reisen: Erfahrungen und Erlebnisse sammeln, solange das noch möglich war – je mehr, desto besser. Um dabei über die Runden zu kommen, habe ich mich als Grafiker und Webdesigner verdingt und so das übliche digitale Nomadenleben geführt. Aber immerhin war ich frei und kam herum, unverbindlich und ungebunden.

Der Wechsel von Arbeit und Reisen war für mich immer ein Zweitaktmotor, der meinem Leben Rhythmus und Sinn verlieh. Das war nun mit dem Erlös aus dem Aktienpaket nicht mehr nötig, ich musste nicht mehr arbeiten, konnte nur noch reisen. Aber wo lag der Zweck des Reisens, wenn es kein Ende nahm, nicht mehr Belohnung und Ausgleich war, sondern nichts weiter als der Konsum von Orten und Eindrücken?

Der Weg ist das Ziel, heißt es. Aber das ist Unsinn, denn ein Ziel ist immer ein Punkt: ein Fluchtpunkt, auf den die Linien des Lebens zulaufen und diesem Perspektive und Inhalt verleihen, so wie auch das Reisen nur eine Linie ist, die aus Bewegung durch Raum und Zeit entsteht. Hält man dabei aber inne, ist man einfach dort, wo man gerade ist, nirgendwo sonst, immer gefangen in seinem Körper, seinen Wahrnehmungen und Erinnerungen. Nur die Kulisse ändert sich und die Leute, die zu einem sprechen. Und wenn man die Augen schließt, sieht man nichts, so ist das immer und überall. Darauf läuft es letztlich hinaus.

Es gibt viele Gründe für das Reisen, und sei es allein der, nicht darüber nachdenken zu müssen, wer man eigentlich ist, was man am jeweiligen Ort zu suchen hat und was das alles soll. Doch bevor das geschieht, ist man schon wieder unterwegs und gibt sich der altvertrauten Illusion des Weges hin, dem angeblichen Ziel. Und darüber grübelt man besser gar nicht erst nach, denn unausweichlich folgen Gedanken der Düsternis und Leere.

Vor einigen Jahren war ich am Strand einer burmesischen Insel einem alten Mann begegnet, der mit versonnenem Blick Sand in ein kleines Einmachglas gefüllt und den Deckel zugeschraubt hatte. Zufrieden hatte er die Farbe seiner sandigen Beute betrachtet und mir erklärt, dass er schon Hunderte solcher Gläser zu Hause stehen habe – von Stränden auf der ganzen Welt, von denen die meisten damals schon nicht mehr existierten. Er hatte einen zufriedenen Eindruck gemacht, Sammler hat man sich als glückliche Menschen vorzustellen. Was denn mit seiner Sandsammlung geschehen sollte, wenn er eines Tages nicht mehr nach Hause zurückkehren würde? Seine Antwort war mit einem leisen Lächeln gekommen: Er hatte verfügt, dass die Gläser aufzuschrauben und ihr Inhalt auf den Kinderspielplatz seines Heimatortes zu kippen sei.

Nach dem Abbruch meines Studiums war ich zunächst aus Europa geflüchtet, weitab vom immer kälter werdenden England und den Eisbergen, die einige Jahre später vor der portugiesischen Küste aufgetaucht waren. Für viele meiner Traumziele hatte mein Budget nicht ausgereicht, und so hatte ich mich vor allem als Backpacker in Asien und Australien herumgetrieben und mir die anderen Orte für später aufgehoben; es würde sich schon noch ergeben, hatte ich gehofft. Die Liste dieser Ziele war einst sehr lang gewesen, aber jetzt fielen mir kaum noch welche ein, denn sie existierten nicht mehr – von den Fluten überspült, vereist, verwüstet, von Klimaflüchtlingen überrannt oder einfach von allen guten Geistern verlassen. Nachdem der Hochofen meiner Jugend abgekühlt war, waren Heimat- und Sinnlosigkeit in meinem Inneren zu einem Block verschmolzen, der nicht mehr aufzulösen war. Ich war ein Getriebener. Es gab kein Zurück, und das galt für uns alle.

War es überhaupt erstrebenswert, die Zeit nur mit Reisen zu verbringen? Ich könnte mich auch dauerhaft irgendwo niederlassen und das Vergehen der heimischen Umgebung studieren. Mir dabei einreden, dass ich ohnehin schon so gut wie alles erlebt und gesehen hatte. Früher oder später ist das Leben vorbei, und all die Erinnerungen und Erfahrungen verschwunden für immer, wie der gesammelte Sand auf einem Spielplatz – und plötzlich wird einem klar, dass das ganze Leben letztlich ein Nullsummenspiel ist. Man könnte es auch einfach beenden, um die Sache abzukürzen. Aber vielleicht kam ja doch noch etwas. Sand, den ich so zuvor noch nie gesehen hatte. Den ich nicht mitnehmen und auf einen Spielplatz kippen, sondern an dem ich mich an Ort und Stelle erfreuen würde. Ich musste also weiter reisen, weiter suchen. Dafür hatte ich ja die Aktien verkauft. Mir fehlte nur noch das Ziel.

Die letzten Strahlen der Abendsonne schienen auf Marc Aurels bronzenen Bart. Ich schenkte mir nach. Als es dunkel wurde, ging ich die Treppe wieder hinunter, bereits ziemlich betrunken, und staunte über das Nationaldenkmal für Vittorio Emanuele, eine absurd übersteigerte Jahrhundertwende-Fantasie antiker Motive, Treppen und Säulen; aufgeschichtet wie eine gigantische Hochzeitstorte, von Scheinwerfern angestrahlt. Es war, als ob das nicht eingelöste Versprechen der römischen Ruinen ein jahrhundertelanges Vorspiel gewesen sei, das mit dem marmornen Ejakulat des Vittorio Emanuele schließlich seine Erlösung gefunden und Platz für die Moderne geschaffen hatte.

Am Fuße der Treppe schlugen meine Kontaktlinsen vor, das Forum Romanum zu besuchen. Dort ließ ich mich in meinem Absinthrausch von einer Animation unterhalten, die eine perfekte Rekonstruktion der Foren im Jahr 44 nach Christus einblendete. Dort wimmelte es von virtuellen Römern, sogar die Touristen um mich herum waren plötzlich in weiße Togen gehüllt.

Ich schaltete die Darbietung der Kontaktlinsen wieder aus, um diese Lücke von zweitausend Jahren, die mir hier entgegenstarrte, auf mich einwirken zu lassen. Die Stadt war überall aus den Ruinen der Antike auferstanden; ein dicht gepacktes Mosaik der Jahrhunderte, alle Zeiten zugleich, unsere ganze Geschichte im kühlen Glanz des Marmors. Auf dem Forum Romanum aber war alles anders. Hier klaffte ein Zeitloch. Hier war nichts Neues zu den Ruinen des alten Roms hinzugekommen, man hatte nur zwischendurch ein wenig aufgeräumt. Der Verfall über die Jahrtausende. Hier ähnelte die Ewige Stadt eher Dubai, wo die geschmolzenen Stümpfe der Hochhaustürme einsam im verseuchten Wüstensand verwitterten.

Mein Irrweg durch das nächtliche Rom fand sein Ende am steinernen Skulpturentheater des Trevi-Brunnens. Ich weiß nicht mehr, wie ich dort hingelangt war, aber als ich, auf seinem Rand hockend, wieder zu mir kam, entdeckte ich unter mir das zerbrochene Absinthglas. Ich betrachtete die glänzenden Scherben, neben mir plätscherte das Wasser im flachen Becken des Brunnens. Ein wolkenloser Nachthimmel. Der Mond. Er war fast halb voll, genau wie meine Flasche. Ich leerte sie in wenigen Zügen.

Zum Glück war niemand in der Nähe, als ich mich in den Brunnen übergab und von seinem Rand auf das Pflaster rollte. Das Letzte, was ich sah, waren winzig kleine Lichtpunkte auf dem dunklen Teil des Mondes.

Ich schloss die Augen, fiel in einen tiefen Schlaf und träumte von der Grünen Fee.

 

 

TRANSIT

»Die Raumfahrt ist eines der Indizien dafür, dass der Arbeiter in den Herrenstand getreten ist.«

Ernst Jünger

 

»Kann ich Ihnen weiterhelfen?«

Ich schreckte hoch. Vor mir stand ein drahtiger Mann mit blondem Bürstenhaarschnitt, grauem Overall und Streifen auf den Schultern. Ich musste kurz eingenickt sein. Als Antwort brachte ich nur ein verkatertes Räuspern hervor.

»Colonel Falk!«, stellte er sich vor, reichte mir die Hand und setzte sich neben mich.

»Darian Curtis«, sagte ich benommen. Ich hatte leichte Kopfschmerzen.

»Sind Sie zum ersten Mal hier?«

Ich nickte.

»Wohin soll es denn weitergehen?«

Ich wühlte, leicht irritiert von der Befragung, in meiner Tasche und kramte den Lonely Planet hervor. Aus den Seiten des Reiseführers zog ich mein Ticket heraus und zeigte es ihm.

»Levania«, stellte Falk fest. »Sie sind heute der Einzige, der dorthin weiterfährt. Hatten Sie eine gute Reise?«

»Ja, durchaus«, antwortete ich und rieb mir die Augen, »ein ziemlicher Trip.« Das war noch untertrieben, schließlich hatte ich gerade den längsten und seltsamsten Flug meines Lebens hinter mir – aber ich war nicht in der Stimmung, jenem Enthusiasmus zu verfallen, den der Colonel sicherlich von Touristen gewohnt war, die gerade zum ersten Mal auf den Mond gereist waren.

»Ich hole Ihnen einen Kaffee. Sie sehen aus, als könnten Sie ihn gebrauchen«, sagte Falk.

Das war mir sehr recht. Ich saß auf einem weichen luftgefüllten Sofa am Rande einer kuppelförmigen Halle. Als ich die hellgraue Wand hinter mir berührte, gab sie ein wenig nach, sie wurde wohl mit Überdruck in Form gehalten.

Offenbar war dies der Fahrzeughangar von Port Navel, es standen Moover in allen Formen und Größen herum. Die meisten von ihnen waren Transporter, aber es gab auch kleine Reisebusse und Fahrzeuge ohne Kabine, die offenen Golfcarts ähnelten. Leute in weißen und grauen Overalls waren mit den Gefährten beschäftigt, sie machten einen genauso unentspannt militärischen Eindruck wie Colonel Falk.

In der grauen Kuppelwand waren drei Tore eingelassen, das größte hatte die Ausmaße eines Lastwagens – die Luftschleusen für die Moover. Und da draußen, jenseits der Schleusentore: der Mond. Deswegen war ich hier. Der Hangar hatte keine Fenster, und solange ich nicht die graue Mondschaft sehen konnte, den dunklen Weltraum – so lange war ich nur im Transit, richtig angekommen war ich noch nicht.

Ich wusste selbst nicht genau, warum ich auf die Idee gekommen war, einen großen Teil des Erlöses aus dem Aktienverkauf für eine Reise zum Mond zu verprassen. Wahrscheinlich waren daran die Promotion-Angebote nicht ganz unschuldig, die nach meiner Rückkehr aus Rom plötzlich in meinem Mailordner aufgetaucht waren – es war beinahe, als ob der Mann im Mond mich persönlich einbestellt hätte.

Jedenfalls: drei Wochen Flucht, und das war’s dann. Vielleicht wollte ich endlich dem Leichengeruch der irdischen Zivilisation entfliehen und eine Ahnung davon bekommen, wie es sich anfühlte, an die Zukunft zu glauben. Eine Reise zum Mond war der ultimative Eskapismus, ein kaum zu überbietender Unsinn. Genau darin lag der Reiz. Ich musste wieder an den alten Mann mit dem Sand denken.

Colonel Falk kam mit einem Plastikbecher Kaffee zurück. Er gab bekannt, dass ich in einer halben Stunde abgeholt würde, und schlug vor, solange einen kleinen Imbiss zu nehmen. Ich raffte mich auf, ließ meine Tasche stehen und folgte ihm mit unsicheren Schritten. Das Gehen in der geringen Schwerkraft war gewöhnungsbedürftig, vor allem in meinem Zustand und einem heißen Kaffee in der Hand, aber nach den fast zwei Tagen schwerelosen Fluges war es angenehm, wieder einigermaßen Bodenhaftung zu spüren. Die geringe Gravitation erzeugte ein beinahe beschwingtes Körpergefühl, eine lunare Leichtigkeit des Seins, an die ich mich nur zu gerne gewöhnen wollte.

Die Cafeteria von Port Navel bestand aus einem weißen fensterlosen Raum. An den Tischen saßen Leute mit Overalls, offenbar Mitarbeiter des Hangars in der Mittagspause, und eine Gruppe von Touristen, laut schnatternd und lachend. Sie waren erkennbar in einem anderen Modus als ich, hatten wohl bereits aufregende Erlebnisse hinter sich und warteten auf ihren Rückflug. Der Colonel bestellte im Vorbeigehen an der Theke zweimal das Tagesgericht, Gemüsecurry mit Tofu, und wir nahmen an einem der Tische Platz.

»Und wie lange bleiben Sie?«, fragte Falk.

»Drei Wochen. Ein All-inclusive-Paket im Hotel Levania.« Ich betrachtete die Schwarz-Weiß-Porträts der Apollo-Astronauten, die sorgfältig gerahmt an den Wänden der Cafeteria hingen. Die meisten Touristen buchten organisierte Rundreisen, Busfahrten mit einem Gruppenleiter, bei denen man einige Tage in den verschiedenen Stationen und Hotels unterkam und von dort die umliegenden Sehenswürdigkeiten erkundete – die Großen Krater, die Montes Alpes und natürlich die historischen Apollo-Landing-Sites. Allerdings wäre der Gedanke, mit anderen Leuten die ganze Zeit in einem Bus umherzufahren, schon auf der Erde unerträglich gewesen, also hatte ich mich entschieden, die drei Wochen stattdessen an einem Ort zu verbringen.

Levania lag weit entfernt von Port Navel, die Fahrt dorthin dauerte entsprechend lange, und der Lonely Planet meinte, dass man nach dem Transfer dorthin gar keine Lust mehr hätte, noch größere Touren zu unternehmen – vielmehr hätte die Umgebung von Levania landschaftlich einiges zu bieten und könne von dort in Tagesausflügen erkundet werden. Abgesehen davon war die einzige nicht chinesische Alternative das Chalet de la Lune, wofür das Geld aber nicht ausgereicht hätte, und ohnehin schien das Publikum in Levania das interessantere zu sein: Despite all the rich high-end guests you would expect in a place like Levania, you will meet a surprising number of likeminded people, if you are coming from the backpacking end of the travelling-spectrum – so stand es im Lonely Planet. Rucksacktouristen statt reicher Schnösel – damit war die Sache klar und meine Entscheidung getroffen.

»Kennen Sie Levania?«, fragte ich Falk.

»Sicher, ich war schon überall auf dem Mond – bis auf den Südpol, versteht sich«, antwortete der Colonel mit leicht angewiderter Miene.

Ein junger Mann in grauem Overall, der eine Schirmmütze mit der Aufschrift Space Cadet trug, brachte zwei Tabletts mit Essen an den Tisch.

»Lassen Sie es sich schmecken«, sagte Falk.

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen, denn auf dem langen Flug war die gastronomische Versorgung wegen der Schwerelosigkeit doch eher dürftig gewesen.

»Wird das Gemüse eigentlich von der Erde eingeflogen?«, fragte ich mit vollem Mund.

»Nein, ist alles aus eigenem Anbau. Unser Gewächshaus steht in Levania«, antwortete Falk. »Es stammt noch aus der Zeit, als das noch kein Hotel war, sondern unser alter Stützpunkt Port Luna. Bevor Port Navel gebaut wurde.«

Ich nickte artig. Das hatte ich schon im Lonely Planet gelesen.

»Aus dem Gewächshaus in Levania kommt jede Woche eine Lieferung mit Obst und Gemüse«, fuhr der Colonel fort. »Mit so einem Transporter werden Sie übrigens auch gleich abgeholt.«

Ich deutete auf das Glas vor mir. »Und das Wasser?«

»Unterirdische Eisvorkommen. Und ein fast hundertprozentiges Recycling. Es wird alles penibel aufbereitet, auf dem Mond geht nichts verloren. Mit der Atemluft machen wir es genauso, wir gewinnen aber auch Sauerstoff aus Regolith dazu.«

»Regolith?«

»Mondstaub. Das graue Zeug da draußen.«

Mondstaub. Draußen. Ich konnte es kaum erwarten.

 

Arne Ahlert: „Moonatics“ ∙ Roman ∙ Heyne Verlag, München 2016 ∙ 576 Seiten ∙ E-Book: € 11,99 (im Shop)

 

 

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