1. Juni 2015 4 Likes 1

Enders Erben

Von (Waisen-)Kindern, die gegen Außerirdische in den Krieg ziehen müssen.

Lesezeit: 5 min.

Aliens gehören zur Science-Fiction wie der Drache zur Fantasy oder das verlassene Anwesen zum Gothic Horror. Das eine ist ohne das andere manchmal undenkbar oder geradezu unvorstellbar geworden. Ob groß und monströs wie in Ridley Scotts Klassiker „Alien“, ob feindlich herrschbegierig wie in „Falling Skies“ oder „War of the Worlds“, ob flauschig weich wie „Die Ewoks“ oder „Alf“, die Brandbreite extraterrestrischen Lebens ist unwahrscheinlich groß. In der fantastischen Literatur-, Film- und Serienwelt stehen inzwischen auch – oder besser gesagt: wieder – Kinder und Jugendliche im Fokus der Erzählung, die sich mit den zumeist feindlich gesinnten Invasoren arrangieren und häufig auch mit allerlei martialischen Waffen gegen sie kämpfen müssen.

Ganz so neu ist dieser Trend allerdings nicht. Science-Fiction, die sich an Kinder und Jugendliche wendet oder diese zu ihren Protagonisten erhoben hat, gab es schon in den Anfangszeiten des Genres oder im Goldenen Zeitalter der SF. So haben z. B. Jules Verne, Robert A. Heinlein (im Shop), Ray Bradbury (im Shop), Arthur C. Clarke (im Shop) oder Greg Bear (im Shop), Heranwachsende porträtiert und mit der Zukunft konfrontiert. Wenn es um das Aufeinandertreffen von militärisch gedrillten Kids und Außerirdischen geht, ist Orson Scott Cards Roman „Das Große Spiel“ (auch bekannt unter dem Titel „Enders Spiel“ bzw. „Ender’s Game“; im Shop) fast schon paradigmatisch für das Genre geworden.

In seiner 1977 als Kurzgeschichte konzipierten und später zu einem preisgekrönten Roman ausgebauten Erzählung „Das Große Spiel“ beschreibt der Amerikaner die Geschichte des sechsjährigen Andrew „Ender“ Wiggin. Als Resultat genetischer Experimente wurde er dazu auserkoren, an einer im Weltraum angesiedelten Militärschule für den Kampf gegen die „Krabbler“ genannten Aliens ausgebildet zu werden. Erst in neuerer Zeit wurde dieses Meisterwerk der Science-Fiction zum Jugendbuch erklärt. Eine durchaus zweifelhafte Entscheidung, stehen doch Demütigungen, Schikanen und sowohl das physische als auch das psychische Brechen der Kadetten im Vordergrund, um am Ende eine gestählte Soldatenelite hervorzubringen. Eine normale Kindheit und Jugend ist für die dargestellten Mädchen und Jungen unter diesen Voraussetzungen kaum möglich.

Seitdem haben sich mehrere Autoren an ähnlichen Szenarien versucht. Aktuell wird auf dem deutschen Buchmarkt u. a. Brian Falkners „Recon Team Angel“-Reihe und Rick Yanceys neue „Die fünfte Welle“-Trilogie veröffentlicht. Wagt man einen Blick in die Regale des Comicfachhandels, so fällt noch ein weiterer Titel in dieses Muster: der italienische Comic „Waisen“.

„Waisen“ ist aus mehreren Gründen ein interessantes Comicprojekt. Die Serie wurde von Roberto Recchioni und Emiliano Mammucari unter der Leitung des Herausgebers Franco Busatta entwickelt und erzählt in zwei Staffeln die Lebensgeschichte verschiedener Waisenkinder, die aufgrund einer Katastrophe sowohl ihre Eltern als auch ihre Heimat verloren haben und nun zu Elitesoldaten ausgebildet werden. Am Ende sollen sie gegen die Wesen in den Kampf ziehen, die für den Tod von über einer Milliarde Menschen verantwortlich sein sollen: Aliens. Recchioni, der seit 2013 der leitende Verantwortliche für den italienischen Mystery-Klassiker „Dylan Dog“ ist, steuert die Geschichte bei, während sein Kollege Mammucari für das Design zuständig ist. Für den Verlag Sergio Bonelli Editore, der neben „Waisen“ auch „Dylan Dog“ und die hierzulande bekannten Serien „Tex“ und „Dampyr“ verlegt, ist das postapokalyptische Military-SF-Abenteuer auch ein großes Experiment: zum einen ist es der erste Bonelli-Comic, der vollkommen koloriert erscheint, zum anderen lässt das Kreativduo mehrere Jungzeichner an ihr Baby.

Die Vorbilder sind deutlich zu erkennen: Geschichte und Design erinnern an die großen Namen der Military-SF, an Heinlein, Haldeman und Co. „Starship Troopers“ und „Der ewige Krieg“ (im Shop) standen genauso Pate wie die populären Videospielereihen „Metal Gear Solid“ und „Halo“. Auch Goldings unvergessener Klassiker „Herr der Fliegen“ schimmert hin und wieder durch, wenn die aus Spanien stammenden Kinder auf sich allein gestellt sind und sich die einzelnen Persönlichkeiten unter dem unmenschlichen Druck herausbilden. Dies stellt die Macher vor eine große Herausforderung: Wie schafft man etwas Neues und Eigenes in dem Subgenre voller Klassiker?

Recchioni und Mammucari gelingt dieses Kunststück, indem sie ihre Waisen immer in den Mittelpunkt stellen. Jene hochtraumatisierten jungen Protagonisten, die mitansehen mussten, wie ihre Welt unterging, und als genetisch aufgemotzte Erwachsene mit den Dämonen ihrer Jugend und gegen orange Außerirdische kämpfen müssen. Unter dem harten Drill ihrer Ausbilder werden sie schneller erwachsener als ihnen lieb ist, und vom ersten Tag an wird die kleine Heldentruppe nach und nach dezimiert. Aus den Teenagern Jonas, Juno, Ringo, Sam und Raul werden so die fünf Elitesoldaten Boyscout, Engel, Pistolero, Rotznase und Eremit. Doch so sehr sie durch ihre Ausbildung zu einem Team zusammen geschweißt werden, so wenig werden sie zu blytonschen Freunden. Im Gegenteil: schon zu Beginn zeigt sich, dass dieser bunten Truppe eine explosive Mischung innewohnt, die früher oder später zu Konflikten führen wird, im Krieg aber nur Vorteile mit sich bringt. In zwei Zeitlinien erzählen die Macher von der Zeit an der Akademie und vom Kampf gegen die Außerirdischen im Erwachsenenalter. Die LeserInnen können miterleben wie aus dem unschuldigen Quintett nicht nur Waffennarren, sondern auch Waffen werden. Die Entscheidung, „Waisen“ farblich zu gestalten und sich somit von der schwarz-weißen Tradition des Verlags zu lösen, hat den dynamischen Zeichnungen gut getan. Nicht nur deshalb ist die Reihe beste Unterhaltung für die Generationen Heinlein und „Halo“.

Die Darstellung von Kindern und Jugendlichen als Waffenexperten darf und muss auch kritisiert werden können. Jedoch sind die Werke von Orson Scott Card, Rick Yancey und dem Duo Recchioni/Mammucari in keiner Weise mit einer Verherrlichungen von Krieg, Terror und Materialschlachten gleichzusetzen. Viel mehr erinnern sie die LeserInnen daran, dass die Realität längst die Fiktion eingeholt hat und Kinder tagtäglich mit bewaffneten Konflikten konfrontiert werden.

Im April ist der sechste Band von „Waisen“ bei Cross Cult erschienen. Nach kurzer Pause folgt ab Mitte Juni „Waisen: Ringo“. Wie es danach mit den Kriegswaisen weiter geht, ist bisher noch nicht bekannt. In Italien hat die monatlich erscheinende Serie einen Nerv getroffen: im Dezember flimmerte der erste Zyklus als Motion Comic über den animeaffinen Fernsehsender Rai 4. Auch ein Hörspiel ist in Planung. Gar nicht so schlecht für einen neuen Comic, oder?

Emiliano Mammucari, Roberto Recchioni, Massimo Carnevale: Waisen • Cross Cult, Ludwigsburg 2014-2015 • je 208 Seiten • je € 16,90

Kommentare

Bild des Benutzers Horusauge

Eine gruselige Vorstellung, aber die Idee mit dem Hörspiel finde ich gut. Einige amerikanische Comics haben dadurch auch an Leserschaft gewonnen, irgendwie back to the roots.

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