15. Oktober 2023

Serienstars, Serienfamilien und Serienkiller

Phantastik-Comic-Neuheiten im Oktober

Lesezeit: 7 min.

Die Simpsons und die Addams Family, Dante und Lovecraft, Ed Gein und Hayao Miyazaki – im Halloween- und Buchmesse-Monat wird sehr viel Prominenz aufgefahren.

 

Harold Schlechter, Eric Powell: Schon gehört, was Ed Gein getan hat?

Die Taten des Plainfield Ghoul Ed Gein sind Teil des kollektiven Gedächtnisses der US-amerikanischen Kultur. Hitchcocks und Robert Blochs „Psycho“, Tobe Hoopers „Texas Chainsaw Massacre“ und Jonathan Demmes „Das Schweigen der Lämmer“ sind die populärsten Beispiele, in denen die Handlungen des unscheinbaren Farmers besonders manifest nachhallen. Praktisch das halbe Backwood-Genre lässt sich auf Bezüge zu Gein durchleuchten. Und so ist auch der Comic des „Goon“-Zeichners Eric Powell und Gein-Experten Harold Schlechter weder Biografie noch exploitativer True-Crime-Schocker, sondern vielmehr eine Spurensuche mit dokumentarischem Appeal, die die Morde, psychologischen Erklärungsversuche und kulturellen Folgen analytisch aufrollt, sachlich und distanziert, stets bedacht, die Fakten von Gerüchten und urbanen Legenden zu trennen (was sich in manchen Passagen als pointierte Beschreibung der Vorstufe der heutigen Fake News ausnimmt). Intellektueller True Crime ist rar, und hier ist das unangenehme, niemals schrille Meisterwerk dieser Sektion.

Harold Schlechter, Eric Powell: Schon gehört, was Ed Gein getan hat? • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 224 Seiten • Hardcover • € 35,00

 

Gaëtan Brizzi, Paul Brizzi: Dantes Inferno

Die italienischstämmigen, in Paris arbeitenden Gebrüder Brizzi kommen eigentlich vom Film, haben 1985 an Gaumonts „Asterix – Sieg gegen Cäsar“ mitgewirkt, kurz darauf ihr eigenes Animationstudio gegründet, es 1990 an Disney verkauft und seitdem an vielen Disney-Filmen und -Serien gearbeitet: „Duck Tales: Jäger der verlorenen Lampe“, „Goofy – Der Film“, „Der Glöckner von Notre Dame“, „Tarzan“. Dieser Hintergrund macht sich in ihrer Comic-Umsetzung der „Göttlichen Komödie“ durchaus bemerkbar: expressive Gesichter, eine stets schwungvolle Suggestion von Bewegungen. Weitaus dominanter ist in den Zeichnungen allerdings der Stil von Gustave Doré, mittlerweile ein Markenzeichen der beiden. Überhaupt ist ihr Umgang mit der Vorlage von durchaus flapsiger Natur, Straffungen sind an vielen Stellen unumgänglich, und es ist ebendiese Leichtigkeit in Verbindung mit den keineswegs harmlosen, ziemlich schwelgerischen Höllenbildern, die ihre Adaption vom protokollarischen Ehrgeiz vieler Literaturklassikerübertragungen in den Comic erfreulich unterscheidet. So zugänglich kann Hochkultur sein.

Gaëtan Brizzi, Paul Brizzi: Dantes Inferno • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 152 Seiten • Hardcover • € 39,80

 

The Simpsons. Treehouse of Horror: Necronomnibus Band 1

Die Simpsons waren mal das Subversivste, was die Kulturindustrie hervorgebracht hat, bevor sich die Serie im Sog der Meta-Referenzen mit vierfachem Boden selbst den Zahn zog. Der stürmische Geist ließ sich aber eine Zeit lang auch bestens in Comics übertragen, von denen einerseits eine 72-bändige Hardcover-Kollektion bei Panini und nun eine dreibändige Gesamtausgabe aller „Treehouse of Horror“-Geschichten in Form 400-seitiger Wälzer mit Lochstanze beim Splitter-Imprint Toonfish erscheint. Zweifellos ein Tempel der Liebe für Horrorfans, an dem auch zahlreiche prominente Gastautoren beteiligt sind, darunter Alice Cooper, Patton Oswalt, Pat Boone, Lemmy Kilmister, Mark Hamill, die mithilfe berühmter Zeichner – u. a. Jeff Smith, Stan Sakai, Al Williamson, Eric Powell, Geoff Darrow, Sergio Aragonés – durchs vermoderte Springfield geistern.

The Simpsons. Treehouse of Horror: Necronomnibus Band 1 • Toonfish, Bielefeld 2023 • 416 Seiten • Hardcover • € 59,80

 

Hayao Miyazaki: Shunas Reise

Anders als man erwarten mag, ist dieses Frühwerk des Studio-Ghibli-Mitgründers Hayao Miyazaki kein Manga, sondern gleicht mit seinen oft ganz- und doppelseitigen Bildern ohne Sprechblasen eher einem Bilderbuch. Den epischen Atem seines späteren Manga- und Animationsfilm-Klassikers „Nausicaä“ sollte man hier nicht erwarten. Als Blaupause zu selbigen, in der sich bereits Figuren, Motive und Settings andeuten, ist „Shunas Reise“ aber allemal interessant. In einer aus Fantasy- und Postapokalypse-Elementen zusammengezimmerten Welt begibt sich Titelfigur Prinz Shuna auf die Suche nach der Quelle eines geheimnisvollen Korns, um sein Volk vor dem Hungertod zu retten. Bald findet er eine Gefährtin in Gestalt der stolzen Thea, die er aus der Gefangenschaft von Sklavenhändlern befreit. Ob seine Quest erfolgreich sein wird, die Frage stellt sich eigentlich nicht, aber diese Veröffentlichung des Reprodukt-Verlags erschließt eine weitere Facette im Lebenswerk eines einzigartigen Phantastik-Comic- und Animationsfilmkünstlers unserer Zeit. Hier hat Kollege Christian Endres das Buch bereits vor einem Jahr empfohlen.

Hayao Miyazaki: Shunas Reise • Reprodukt, Berlin 2023 • 160 Seiten • Hardcover • € 20,00

 

Daria Schmitt: Das Traumbestiarium des Mr. Providence

Der Titel lässt auf eine Lovecraft-Hommage schließen, tatsächlich zentriert ihn die französische Comiczeichnerin Daria Schmitt in eine visuell opulente Verbeugung vor der gesamten weird fiction. Arthur Machen, Algernon Blackwood, Clark Ashton Smith, hier kann, hier soll man das Referenzen-Repertoire erforschen. Dabei gehen wir mit H. P. als Wächter eines Stadtparks auf die Jagd nach merkwürdigen Wesen, die die Besucher*innen bedrohen, ohne dass die sich der Gefahren bewusst wären, denen sie sich beim kontemplativen Spaziergang aussetzen. Dass verbindet sie mit Mr. Providences Vorgesetzten, einer tatkräftigen Managerin, die den Park mit frischen Marketing-Methoden wieder zum Ereignisort machen will und weder für Providences Neigungen zum Okkulten noch für seine Warnungen irgendeinen Sinn hat. Es steckt viel Humor in diesen Seiten, der sich gar nicht so leicht bestimmen lässt. Eigentlich wandelt Providence wie ein Nostalgiker durch diesen merkwürdig zeitlosen Park (es sind Dialoge und Jargon, die die Gegenwart verraten), Lovecraft nicht unähnlich, der dem 19. Jahrhundert nachtrauerte. Als Bedrohung nimmt er letztlich alles wahr: seien es die Monster, die nur er sieht, oder nervende Kinder, die ihn als Autoritätsfigur nicht im Geringsten ernst nehmen. Im weiteren Verlauf wird immer deutlicher, dass man die Metaphern in Daria Schmitts erstem auf Deutsch verlegten Werk beim Wort nehmen kann. Dieser Humor voller Rätsel ist nahezu originär und die Gestaltungstechnik die pure Wucht.

Daria Schmitt: Das Traumbestiarium des Mr. Providence • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 120 Seiten • Hardcover • € 29,80

 

Jeff Lemire, Andrea Sorrentino: Zehntausend schwarze Federn

Der Bone-Orchard-Mythos wird von Jeff Lemire und Andrea Sorrentino zügig ausgebaut. Nach „Die Passage“ im Juli (hier meine Empfehlung) folgt nun die nächste Geschichte im Erzählkomplex, die ebenfalls als in sich geschlossene Story goutiert werden kann. Statt der Folk-Horror-Anleihen und Lovecraft-Komponenten des ersten Bandes konzentrieren sich Lemire und Sorrentino diesmal auf urban horror in selbstreflexiver Verpackung. Es ist eine Variation des Geschichtenerzählers, dem seine Schöpfung zum Verhängnis wird, hier in Gestalt der Fantasy-Nerds Trish und Jackie, beide begeistert von Ursula K. Le Guin und Stephen King, die im Kampf gegen den bösartigen Rabenkönig ihres eigenen Rollenspiels zunächst ahnungslos ihr Leben aufs Spiel setzen. Bis Jackie auf unerklärliche Weise verschwindet und Trish sich im Erwachsenenalter nochmals auf Spurensuche begibt. Souverän erzählt, aber auch dies ist noch nicht der große Wurf im Bone-Orchard-Geäst.

Jeff Lemire, Andrea Sorrentino: Zehntausend schwarze Federn • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 168 Seiten • Hardcover • € 29,80

 

Joris Mertens: Beatrice

Joris Mertens‘ lakonisches Noir-Crime-Drama „Das große Los“ erschien erst im Mai und war das beeindruckende deutschsprachige Debüt des belgischen Künstlers. Beim Splitter Verlag setzt man große Stücke auf ihn, denn wenige Monate später erschien bereits sein Nachfolger „Beatrice“, der eigentlich sein tatsächliches Debüt war. In sehr filmischen Kompositionen und Sequenzen folgen wir der jungen Beatrice, die im Jahr 1972 ihrem Arbeitstrott in einer Großstadt nachgeht, in Tagträumen aber lieber in die Roaring Twenties flieht. Das wird im Comic stumm nur mit Bildern erzählt, und die Rolle eines Stummfilmstars ist es auch, was Beatrices Imaginationskraft beflügelt. Die wird noch mal besonders gekitzelt, als sie im Bahnhofsgetümmel eine rote Tasche entdeckt – spätestens hier schält sich Rot als Leitmotiv heraus –, die jeden Tag aufs Neue am selben Platz steht. Eines Tages überwindet sie sich, nimmt die Tasche an sich und entdeckt darin ein Fotoalbum mit Aufnahmen aus den 20er-Jahren und einer Frau, die ihr zum Verwechseln ähnlich sieht. Ab hier verschwimmen die Grenzen der Realität, und die Illusion reißt Beatrice und uns in eine Bilderflut, die einerseits das Kino feiert, andererseits den Traum vom ungelebten Leben und von vergangenen Zeiten als schmerzhaften Fluchtversuch vor der Gegenwart illustriert. Das ist traurig, durch und durch poetisch und von einer seltenen bildsprachlichen Eleganz, die in vielen heutigen Comics vom hektischen Pragmatismus abgelöst wurde.

Joris Mertens: Beatrice • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 112 Seiten • Hardcover • € 25,00

 

Charles Adams: The Addams Family – Das Familienalbum

Die Addams Family ist eine wunschlos unglückliche Familie und hierzulande hauptsächlich durch die beiden Kinofilme von Barry Sonnenfeld bekannt. Die 64 Folgen der von 1964 bis 1966 ausgestrahlten TV-Serie liefen hierzulande nur selten, und dass Charles Adams‘ sie zunächst als Cartoons im New Yorker von der Leine ließ, droht selbst in den USA in Vergessenheit zu geraten. Dabei starteten sie gar nicht in der Konstellation des klassischen Familienverbunds, sondern fanden erst im Laufe der Zeit zueinander. Im soeben beim Verlag Antje Kunstmann erschienenen Sammelband „The Addams Family – Das Familienalbum“ wurden über 200 Cartoons zusammengetragen, anhand derer sich die Genese der Addams – nicht chronologisch, sondern nach Figuren arrangiert – nachverfolgen lässt. Man hat es sicher dem Erfolg der „Wednesday“-Netflixserie zu verdanken, dass man nun sogar mit solcherlei Cartoon-Klassik versorgt wird, und dass ist doch die wunderbarste Begleiterscheinung dieses ansonsten so mediokren Streaming-Contents.

Charles Adams: The Addams Family – Das Familienalbum • Verlag Antje Kunstmann, München 2023 • 224 Seiten • Hardcover • € 30,00

 

Maja Lunde, Hans Jørgen Sandnes: Der Eisbärprinz

Die Comic-Adaption von „Der weiße Bär König Valomon“, einem berühmten norwegischen Märchen: „Der Eisbärprinz“ erzählt von der Freundschaft zwischen der tatendurstigen Liv und einem Eisbären, von dem sich bald herausstellt, dass er ein von einer miesgelaunten Königin verzauberter Prinz ist. Folglich geht es fortan darum, ihn aus dieser Lage zu befreien. Die Geschichte wurde 1991 unter dem Titel „Der Eisbärkönig“ verfilmt, zurzeit steht erneut ein norwegischer Animationsfilm kurz vor dem Abschluss: „Valemon – The Polar Bear King“. An selbigen war die Bestsellerautorin Maja Lunde beteiligt, die auch für das Szenario dieses Comics verantwortlich zeichnet. Illustrator Hans Jørgen Sandnes versteht sein Handwerk und verbreitet eine Menge Disney-Vibes.

Maja Lunde, Hans Jørgen Sandnes: Der Eisbärprinz • cbj Kinderbuch, München 2023 • 232 Seiten • Hardcover • € 22,00 • im Shop

 

Abb. ganz oben aus Daria Schmitts „Das Traumbestiarium des Mr. Providence“, Splitter

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