Vampirkinder, Verschwörungsmythen und BRD-Grusel
Phantastik-Comic-Neuheiten im Juni
Bei Jeff Lemire ist das Vampirdasein eine nicht endende Pubertät, der Djatlow-Pass gibt weiterhin Rätsel auf, und eine Chronik protokolliert die Publikationsgeschichte des Horrorcomics in Deutschland.
Jeff Lemire, Dustin Nguyen: Little Monsters Band 2
Jeff Lemires und Dustin Nguyens erste Zusammenarbeit war die dunkle Roboter-Story „Descender“, eine epische KI-Reflexion in Aquarell, die mit „Ascender“ einen Nachklapp voller Fantasy-Anleihen erhielt. „Little Monsters“ kombiniert postapokalyptische Elemente mit Vampirismus-Motiven, und die große Klammer bildet eine ziemlich räudige Coming-of-Age-Erzählung. Keine Erwachsenen, nirgends, stattdessen folgen wir acht Vampirkindern durch die Überreste einer nahezu menschenleeren Zivilisation. Wie es dazu gekommen ist, weiß niemand mehr, man lebt von Ratten, und damit hat sich’s. Keine Entwicklung, das gilt als grausame Finte auch für die untoten Figuren, die das Niveau ihres einstigen Alters nicht überwinden können. Und auch wenn Bewegung in die Sache kommt, als unerwartet doch noch Menschen auftauchen und bei den Protagonist*innen den alten Blutdurst wiederbeleben, schafft Lemire im Genre-Korsett viel Raum für Bilder der Isolation, wie sie auch seine realistisch konzipierten Graphic Novels dominieren. Der zweite Band beschließt die Mini-Serie.
Jeff Lemire, Dustin Nguyen: Little Monsters Band 2 • Splitter Verlag, Bielefeld 2024 • 184 Seiten • Hardcover • € 29,80
Cédric Mayen, Jandro Gonzalez: Das Unglück am Djatlow-Pass
Mystery nach einem realen Ereignis: Im Februar 1959 sterben am Djatlow-Pass im russischen Ural neun erfahrene Skiwanderer. Einige Leichen weisen Schädelfrakturen und innere Verletzungen auf, andere sind spärlich bekleidet, sogar radioaktiv kontaminiert und werden in merkwürdigen Positionen am Fundort entdeckt. Die Umstände sind bis heute nicht endgültig aufgeklärt, auch weil der sowjetische Machtapparat seinerzeit die Untersuchungen eher torpedierte denn unterstützte – bis heute idealer Nährboden für unzählige Verschwörungstheorien. Das Künstlerduo Cédric Mayen und Jandro Gonzalez geht es lieber sachlich an und schickt den Ermittler Iwanow ins Feld, der sich mit deduktiven Mitteln durch die Indizien arbeitet, aber immer wieder an den Funktionsträgern der Behörden scheitert. Die Rekonstruktion des Expeditionsverlaufs wird mit seinem Kampf gegen die Vertuschungsversuche der Apparatschiks parallelisiert; jedes Panel ist indirekt beherrscht von der beklemmenden Atmosphäre des Kontrollwahns der Führungsmacht, dem sich keiner der Protagonisten entziehen kann. Der Anhang bleibt den seriösesten und wissenschaftlich plausibelsten Erklärungsversuchen der Geschehnisse vorbehalten.
Cédric Mayen, Jandro Gonzalez: Das Unglück am Djatlow-Pass • Splitter Verlag, Bielefeld 2024 • 104 Seiten • Hardcover • € 25,00
Christian Blees: Der absolute Horror
2022 war im Dortmunder schauraum: comic + cartoon die Ausstellung „Horror im Comic“ zu sehen. Im dazugehörigen Katalog beleuchtet Kurator Alexander Braun die internationalen Entwicklungen und Spezifika derart erschöpfend, dass sich seine Arbeit, erneut!, als Standardwerk eignet. Christian Blees liefert nun die ideale Ergänzung mit seinem Abriss der Geschichte der Horror-Comics in Deutschland. Die Thesen- und Theorienstärke Brauns darf man indes nicht erwarten, der Stil gleicht dem protokollarischen Fleiß eines Buchhalters: Was erschien wann wo von wem wie lange, gelegentlich ergänzt um Interviewsaussagen der entscheidenden Verleger, Redakteure, Autoren und Künstler; weder von ästhetischen noch soziologischen Überlegungen unterfüttert, wird das Ganze chronologisch aufbereitet. Das ergibt in Summe dennoch ein empfehlenswertes Handbuch, dessen comichistorische Stärken vor allem im 20. Jahrhundert liegen, als die hiesige Publikationsgeschichte noch halbwegs übersichtlich war, in der Forschung aber mitunter lückenhaft oder nur sehr verstreut dokumentiert ist.
Probleme ergeben sich ab der in den nuller Jahren einsetzenden Diversifizierung des Marktes, die sich hauptsächlich aus der methodischen Entscheidung des Autors, sich auf die „wichtigsten Marktteilnehmer“ zu konzentrieren, erklären. Auswahl und Quantität stehen zwangsläufig im Missverhältnis, wenn beispielsweise der randständigen „Geister-Schocker“-Reihe der Romantruhe, die mit 30 Heften die mittlerweile dreistelligen gleichnamigen Hörspiele flankierte, acht Seiten eingeräumt werden (was man dennoch gerne liest, unbenommen). Wo sind dann Jurek Malottkes visuell extravagante Kai-Meyer-Adaptionen? Thomas Otts Schabkarton-Fantasien? Wo ist Olivia Viewegs Zombie-Graphic-Novel „Endzeit“, die 2018 sogar verfilmt wurde? Zwerchfells originelle, deutsche Settings nutzende „Die Toten“-Anthologie-Reihe? Carlsens ambitionierte, zehnbändige „Die Unheimlichen“-Bibliothek mit Hochkarätern wie Ralf König, Isabel Kreitz, Barbara Yelin und Birgit Weyhe? Oder, internationaler, ein kanonisierter Ausnahmekünstler wie Charles Burns, den hierzulande in den frühen 90ern zaghaft Alpha/Edition Kunst der Comix und heute in voller Blüte Reprodukt übersetzt? Breccias Lovecraft-Kosmos? Terry Moore mit seiner Provinzhorrorserie „Rachel Rising“? Wieso erhalten die Editionen des Speed/Tilsner-Verlags, die in den 90ern hierzulande als Erste das wichtigste US-Vertigo-Material hoben, nur die Rolle des Zaungasts? Weder die medien- noch verlagshistorische Relevanz hingegen berücksichtigter mediokrer frankobelgischer Dutzendware wie Stalners „Die Legende von Malemort“, Istins „Die Nacht der lebenden Toten“ und Adlards „Vampire State Building“ will sich im Vergleich erschließen.
Mag man vor allem im hinteren Teil des Buchs also viele Versäumnisse konstatieren, was zumindest partiell bei Abhandlungen dieser Art in der Natur der Sache liegt, hat Blees nichtsdestotrotz ein mit Blick auf den Kioskmarkt hilfreiches, üppig illustriertes Nachschlagewerk vorgelegt, das man umso öfter konsultieren wird, je weiter die Titel zurückliegen.
Christian Blees: Der absolute Horror. Die Geschichte der Gruselcomics in Deutschland • Edition Alfons, Barmstedt 2024 • 244 Seiten • Softcover • € 29,95
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