Es werde Licht!
Heute vor 100 Jahren fand die Sonnenfinsternis statt, die unsere Sicht aufs Universum für immer veränderte
Vor einhundert Jahren war der 1. Mai zum ersten Mal ein Feiertag in Deutschland, sorgte der erste Schwulenfilm „Anders als die anderen“ in Berlin für tumultartige Szenen in den Kinos, und der Physiker Albert Einstein war bestenfalls in Fachkreisen bekannt. Bis zum 29. Mai jedenfalls. An diesem Tag verdunkelte sich die Sonne sechseinhalb Minuten lang und machte nicht nur Einstein auf einen Schlag berühmt, sondern veränderte unseren Blick aufs Universum. Denn heute vor 100 Jahren wies der britische Astronom Arthur Eddington während einer Sonnenfinsternis über Südamerika, dem Atlantik und Teilen Afrikas nach, dass die Lichtstrahlen ferner Sonnen von der Gravitation unserer Sonne abgelenkt werden, und bewies damit Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie. Von einem Tag auf den anderen waren Raum und Zeit nicht mehr linear, sondern konnten sich verbiegen, sich ausdehnen, schrumpfen und sogar reißen und zu Schwarzen Löchern kollabieren.
Knapp vier Jahre zuvor, am 25. November 1915, veröffentlichte Albert Einstein einen dreiseitigen Aufsatz, der den einstweiligen Schlusspunkt seiner Theorie rund um Raum, Zeit und Gravitation bildete. Einstein hatte herausgefunden, dass die Länge eines Objekts sowie die Zeitdauer eines beobachteten Vorgangs davon abhängig sind, wie sich der Beobachter relativ zum Geschehen bewegt. Daraus leitete er in seiner Speziellen Relativitätstheorie ab, dass Masse und Energie äquivalent sind. Dann fasste Einstein Raum und Zeit zur vierdimensionalen Raumzeit zusammen und bezog die Gravitation mit ein: die Schwerkraft beeinflusst die Geometrie der Raumzeit, indem sie sie krümmt, was gerne an dem Beispiel einer Bowlingkugel, die auf einer weichen Matratze liegt und sie durch ihr Gewicht eindrückt, illustriert wird: lässt man eine Murmel auf der Matratze an der Bowlingkugel vorbeirollen, wird ihre Bahn durch die Mulde, die die Kugel bildet, abgelenkt, bis die Murmel schließlich neben der Bowlingkugel in der Mulde liegenbleibt. Übertragen auf unser Sonnensystem bedeutet das: Die Masse der Sonne zieht unseren Planeten nicht selbst an, sondern krümmt die Raumzeit um sie herum. Das musste nicht nur für relativ große Objekte wie Planeten gelten, sondern auch für sehr viel kleinere, beispielsweise die Partikel, aus denen sich Lichtstrahlen zusammensetzen. Schon früh erkannten die Physiker und Astronomen, dass sich dieser Teil der Relativitätstheorie am besten bei einer totalen Sonnenfinsternis beweisen lässt: die vollständig verdunkelte Sonne gibt den Blick auf dahinterliegende Sterne frei, deren Position aufgrund der Lichtkrümmung von der eigentlichen abweichen würden.
Doch Universum und Politik schienen alles daran zu setzen, diesen Beweis zu verhindern. Die nächste Sonnenfinsternis fand am 21. August 1914 über der Krim statt, und Erwin Finlay-Freundlich, Astronom an der Berliner Sternwarte, brach mit einem Team dorthin auf, um Einsteins Theorie zu bestätigen. Der Erste Weltkrieg, der drei Wochen zuvor ausgebrochen war, machte ihm jedoch einen dicken Strich durch die Rechnung: Freundlich wurde noch vor der Sonnenfinsternis als Spion angeklagt und interniert. Ein zweites Team unter William Campbell, das vom kalifornischen Lick Observatorium angereist war, schaffte es zwar auf die Halbinsel, nur um dann im Regen festzusitzen. Zu allem Überfluss beschlagnahmten die Russen die sensible Fotoausrüstung, sodass die Wissenschaftler weder 1916 über Venezuela, noch 1918 über Nordamerika Messungen vornehmen konnten.
Umso bemerkenswerter ist, dass sich 1917, noch während des Krieges, der Brite Arthur Stanley Eddington daranmachte, die Expedition zu planen, die die Theorien eines Deutschen nachweisen sollte. Einen besseren Kandidaten als Eddington konnte es kaum geben: Er war ein Mathe-Wunderkind, 1882 in Kendal geboren, und galt 1919 als einer von drei Menschen auf der ganzen Welt, die Einsteins Theorie verstanden (worauf Eddington erwiderte, das möge ja sein, aber ihm falle beim besten Willen nicht ein, wer der Dritte im Bunde sein sollte). Anfangs war Eddington alles andere als für die Expedition: die Allgemeine Relativitätstheorie, so erinnerte sich der Brite später, sei so offensichtlich korrekt gewesen, dass er sich nicht die Mühe machen wollte, sie tatsächlich zu beweisen. Doch es ging nicht nach ihm: weil sich Eddington als Quäker der Mobilmachung verweigert hatte, hatte die britische Regierung ihn ins Gefängnis geworfen. Sein Vorgesetzter, Astronomer Royal Frank Watson Dyson, sorgte für seine Freilassung, indem er der Obrigkeit versicherte, Eddington würde Einsteins Theorien beweisen und damit der Wissenschaft einen unschätzbaren Dienst erweisen.
Nach Einsteins Berechnungen, die er 1915 veröffentlichte, würde die Abweichung der Sternpositionen 1,75 Bogensekunden betragen. Nach der Newtonschon Gravitationstheorie hingegen würde das Sternenlicht nur um 0,96 Bogensekunden abgelenkt werden. (Eine Bogensekunde entspricht dabei in etwa der Größe eines Sterns, wie er dem bloßen Auge unter den besten Beobachtungsvoraussetzungen auf einem Berggipfel am Nachhimmel erscheint. Atmosphärische Verunreinigungen verzerren die Sterne in der Regel zu sehr viel größeren, verschwommenen Flecken.) Eddingtons Job bestand also darin, festzustellen, ob Albert Einstein oder Sir Isaac Newton richtiglag, indem er einen Haufen verschwommener Lichtpunkte beobachtete.
Im März 1919 brachen Eddington und sein Kollege Edwin Cottingham nach Principe auf; Charles Davidson und Andrew Crommelin vom Royal Greenwich Observatory nach Sobral. Bereits Ende 1918 hatte man damit begonnen, die Himmelsregionen über diesen beiden Orten zu beobachten, und dabei festgestellt, dass die Sonne im Mai vor dem hellleuchtenden Sternhaufen der Hyaden im Sternbild Stier stehen würde – die Astronomen hätten also jede Menge Lichtpunkte, die sie beobachten konnten. Vorausgesetzt, das Wetter spielte mit. Danach sah es zunächst jedoch nicht aus: Am 29. Mai war der Himmel über Sobral außerordentlich bedeckt, und auf Principe regnete es mehrere Stunden lang. Doch dann rissen die Wolken über Sobral wenige Minuten vor der totalen Verfinsterung auf, und auch Eddington machte einige Aufnahmen von den dahinziehenden Wolken in der Hoffnung, die Sterne dahinter zu erwischen.
Und er erwischte sie. Letztendlich hatte Eddington drei Sätze Fotoplatten und konnte auf ihnen eine Verschiebung von 1,61 Bogensekunden nachweisen – weniger, als von Einstein berechnet. Die Aufnahmen aus Sobral deuteten auf eine Verschiebung von 1,98 Bogensekunden hin – mehr, als Einstein vorausgesagt hatte. Die Aufnahmen eines anderen Teleskops in Sobral, des sogenannten Astrographen, waren zwar allesamt unscharf (vermutlich hatte die Hitze der Sonne das Teleskop verformt), wiesen jedoch nur eine Abweichung von 0,96 Bogensekunden auf – was Newtons Theorie entsprach.
Welches dieser Ergebnisse sollte Eddington benutzen? Nähme er das Mittelmaß aus allen dreien, würde er zwischen Einstein und Newton landen. Würde er sich allein auf das Sobral-Teleskop verlassen, das an diesem Tag die besten Bilder gemacht hatte, würde sein Ergebnis Einsteins Theorie widerlegen. Die Bilder des Astrographen schloss Eddington von Anfang an aus – woraufhin man ihm den Vorwurf machte, er habe so sehr an Einsteins Theorien glauben wollen, dass er kein anderes Ergebnis zulassen konnte. In Wahrheit war es Eddingtons Vorgesetzter und Einstein-Skeptiker Frank Dyson, der die Aufnahmen verworfen hatte.
Eddingtons Ergebnisse wurden 1919 mit allem angebrachten Pomp in der Royal Society und der Royal Astronomical Society in London verkündet. Sie machten Albert Einstein über Nacht berühmt. Der Vorsitzende des Kongresses, der Physiker J. J. Thompson, nannte die Allgemeine Relativitätstheorie eine der größten Errungenschaften der Menschheit, die uns den Aufbruch zu einem bisher unentdeckten Kontinent ermöglichte. Seitdem haben hunderte Astronomen Eddingtons Experiment wiederholt – und stets dieselbe Abweichung von 1,75 Bogensekunden festgestellt. Inzwischen beobachten wir mit Radioteleskopen bei totalen Sonnenfinsternissen die Lichter ferner Galaxien – und weisen immer noch 1,75 Bogensekunden Abweichung nach. Dank Einsteins Lichtkrümmungseffekte können wir sogar explodierende Sterne am anderen Ende der Milchstraße beobachten und nach der mysteriösen dunklen Materie suchen, die unser Universum möglicherweise zusammenhält. 1919 dachte freilich noch keiner an schwarze Löcher, Urknall und Gravitationswellen. Doch das, was heute vor 100 Jahren aus dem Schatten des Mondes trat, war tatsächlich nichts Geringeres als ein völlig neues Universum.
Titelbild © EclipseDude
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