Keine Angst vor dem Sonnenwind
Warum eine Sturmwarnung im interplanetaren Raum für uns nicht gefährlich ist
Bestimmt hat jeder von uns schon einmal vom „Sonnenwind“ gehört – jenes mysteriöse Lüftchen, das durchs Sonnensystem weht und im Zentrum so mancher Paranoia und Katastrophenszenarien steht. Der Sonnenwind ist verantwortlich für das Dahinschwinden der Atmosphäre auf unserem Nachbarplaneten Mars – kann uns das auf der Erde etwa auch passieren? Er kann im Handumdrehen die Elektronik der halben Welt lahmlegen, das wissen wir bereits seit dem 19. Jahrhundert. Und er beeinflusst außerdem nicht nur das Herzinfarktrisiko, sondern auch unsere Psyche, weil uns der Strom geladener Teilchen angeblich aggressiv macht.
Aber genug von den Horrorgeschichten, wenden wir uns den Tatsachen zu.
Der Sonnenwind – oder auch solare Wind – ist ein stetiger Strom geladener Teilchen, der von der Sonne aus ins Universum geschleudert wird. Sein Ursprung liegt in der Korona der Sonne, also der äußeren Schicht, die wir beispielsweise bei einer Sonnenfinsternis mit bloßem (anständig geschütztem!) Auge beobachten können. Die Korona ist eine Plasmaschicht, die alle Sterne umgibt, und ist im Fall unserer Heimatsonne heißer als eine Million Grad – ob Grad Celsius oder Kelvin ist hier vollkommen egal, denn in dieser Größenordnung kommt es auf 273,15 Grad mehr oder weniger nun wirklich nicht mehr an. Jedenfalls ist die Korona verdammt heiß; deutlich heißer als die Sonnenoberfläche, die mit wohligen 5000 Grad Celsius vor sich hin köchelt.
Diese enormen Temperaturen in der Korona haben einen Einfluss auf die Teilchen, die sich in ihr befinden. Wie wir am Beispiel des Merkurs gesehen haben, können Teilchen mit extrem hoher Temperatur (gleichzusetzen mit extrem viel Energie) der Gravitation eines Planeten, etwa unserer Erde, entkommen und sich in den Weltraum davon machen. Das gleiche Prinzip funktioniert natürlich auch auf der Sonne. Zwar ist ihre Schwerkraft ungleich größer als die der Erde, aber dafür ist die Sonne auch ungleich heißer. In der Korona steht reichlich Energie zur Verfügung, damit sich Teilchen aus der Sonnenatmosphäre losreißen und in die unendlichen Weiten davonpreschen können. Voilà, Sonnenwind!
Die Geschwindigkeit dieser Teilchen beträgt im Mittel 400 Kilometer pro Sekunde (zum Vergleich: Die ISS trödelt mit 7,66 Kilometern pro Sekunde dahin), kann aber zu besonders aktiven Zeiten Spitzen von bis zu 800 Kilometern pro Sekunde erreichen. Außerdem gibt es immer sowohl Gegenden mit stärkerem Wind als auch welche mit einem eher lauen Lüftchen. Im Wesentlichen besteht der solare Wind aus Protonen, Elektronen und Alphateilchen, also Helium-Kernen (je zwei Protonen und zwei Neutronen).
Um den Sonnenwind zu messen, wurde 1997 der Advanced Composition Explorer (ACE) in den Orbit entlassen. Dieser Satellit kreist an einer Stelle im Sonnensystem, die „Liberationspunkt“ genannt wird – das ist, vereinfacht gesagt, der Punkt, an dem die Gravitationsfelder von Sonne und Erde gleich stark sind. Er ist etwa 1,5 Millionen Kilometer von der Erde und 148,5 Millionen Kilometer von der Sonne entfernt. Hier misst der ACE den vorbeikommenden Sonnenwind, seine Zusammensetzung und physikalischen Eigenschaften. Dadurch haben wir immerhin ein kleines Vorwarnsystem (etwa eine Stunde), wenn ein stärkerer Wind auf dem Weg zu uns ist.
Denn auch wenn die Teilchen im Sonnenwind nicht radioaktiv sind, sind sie doch nicht ganz ungefährlich für uns, genauer gesagt: für unsere Technik. Wie bei „echtem“ Wind auf der Erde (Achtung, der Vergleich hinkt) ist er kein Problem, solange sich alles im Normalbereich bewegt. Doch wenn der Wind zum Sturm wird, kann das große Auswirkungen haben. So ist es auch beim Sonnenwind: Hin und wieder kommt es zu besonders starken Teilchenausbrüchen, die mit extrem hohen Geschwindigkeiten ins All rasen. Und wenn dann etwas Menschengemachtes wie Satelliten, die ISS oder ein Telefonnetz im Weg sind, kann ein Schaden nicht ausgeschlossen werden. Meistens werden „nur“ Funksysteme oder W–LAN–Netzwerke gestört, aber in besonders schweren Fällen wurde auch schon davon berichtet, dass Trafos ausgefallen sind. Für uns Menschen auf der Erde hingegen ist der Sonnenwind ungefährlich. Die Alphateilchen sind zwar das Ergebnis einer bestimmten Art von radioaktivem Zerfall, haben aber keine große Eindringtiefe. Da ist also keine tödliche Radioaktivität, nichts krebserregend, nichts macht Kopfschmerzen, und unser Magnetfeld hält sowieso das meiste von uns ab.
Der Sonnenwind sorgt zudem für die definitiv schönsten Phänomene auf unserem Planeten: den Polarlichtern. Auf der Nordhalbkugel nennt man sie Aurora Borealis, auf der Südhalbkugel Aurora Australis. Diese magischen, geisterhaften Farben, die man in hohen Breiten der Erde nachts über den Himmel ziehen sehen kann, werden direkt durch solare Winde ausgelöst. Unser Magnetfeld neigt sich an den Polen zur Erdoberfläche hin; dadurch werden Partikelströme wie der Sonnenwind abgelenkt, sodass sie nur an den magnetischen Polen weiter in die Atmosphäre vordringen können. Dort treffen die geladenen Teilchen des Sonnenwinds auf Atome und Moleküle in der äußeren Atmosphäre, die sie ionisieren. Dadurch wird ihnen Energie zugeführt, die sie in Form von Licht wieder abgeben. Die häufigste Farbe der Aurora, grün, wird durch Sauerstoff in niedrigen Schichten der Atmosphäre hervorgerufen. Seltener sieht man rot (Sauerstoff in höheren Schichten) oder blau bis violett (durch den Stickstoff). Seit 2015 wissen wir, dass es solche Polarlichter auch auf dem Mars gibt. Die dabei vorherrschende Farbe ist ein tiefes Blau (was an der anderen Zusammensetzung der Marsatmosphäre liegt), aber auch Grün und Rot, wie auf der Erde beobachtet, kommen vor. Die Lichter treten vor allem in der südlichen Hemisphäre auf, denn dort gibt es noch Stellen mit unterschiedlich starken Überresten des einst globalen Magnetfeldes des Mars, das schon 500 Millionen Jahre nach seiner Entstehung zusammengebrochen ist.
Ich persönlich muss gestehen, dass all die Wissenschaft, so spannend sie auch sein mag, beim Anblick von Polarlichtern in den Hintergrund rückt. Man muss nicht immer alles analysieren – ab und an reicht es, das Universum von unserem kleinen Planeten aus einfach zu bewundern.
Judith Homann hat einen Master in Meteorologie von der Universität Innsbruck und interessiert sich insbesondere für extraterrestrische Wetteraktivitäten. Alle ihre Kolumnen finden Sie hier.
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