Will McCarthys „Zeitflut” ist da!
Eine erste Leseprobe aus dem actionreichen Zeitreise-Abenteuer
Was wissen wir eigentlich über die Steinzeit? Nur das, was uns die archäologischen Funde offenbaren. Doch was, wenn die Legende vom Höhlenmenschen nicht mehr ist als – eine Legende? Wenn die Steinzeit stattdessen ein Zeitalter der Bildung und des Fortschritts gewesen wäre? Dieser Frage wollen die beiden Wissenschaftler Harv Leonel und Tara Mukherjee in Will McCarthys neuem Roman Zeitflut (im Shop) auf den Grund gehen. Sie haben eine bahnbrechende Entdeckung gemacht, die er ihnen ermöglicht, die ferne Vergangenheit mit eigenen Augen zu sehen: im menschlichen Genom sind Erinnerungen unserer Vorfahren gespeichert, und Harv und Tara ist es gelungen, einen Weg zu finden, diese Erinnerungen wieder zugänglich zu machen. Sie stehen kurz der Erprobung ihrer „Zeitmaschine“ – gerade zur rechten Zeit, denn die alte Welt ist in Gefahr, und wenn es Harv und Tara nicht gelingt, sie zu retten, ist das Erbe der Menschheit für immer verloren …
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Boulder Creek Apartments
Boulder, Colorado
– Gegenwart
»Bist du dir sicher, dass du das willst?«, fragte Tara Mukkerjee, als sie sich beide vom Bett erhoben, um den bedeutsamen Tag zu beginnen.
»Sicher?«, erwiderte Harv Leonel. »Was ist das denn für eine Frage. Was haben wir den ganzen Sommer über denn gemacht?«
Sie putzten sich die Zähne, duschten und zogen sich an, und noch immer schwebte die unausgesprochene Frage im Raum: Bist du dir sicher, dass du heute in die Zeitmaschine steigen willst?
Und die ebenfalls unausgesprochene Antwort war nicht minder laut: Ganz sicher, Tara, mein Schatz.
»Möchtest du Eier?«, fragte Tara. Für gewöhnlich kümmerte er sich ums Frühstück, doch heute war ein besonderer Tag – ein sehr besonderer Tag –, und das wollte sie irgendwie würdigen.
»Mmm«, machte er nachdenklich. »Und Toast. Die Kohlenhydrate können wir gut gebrauchen.«
Sie wechselten nur ein paar Worte, sprachen kurz über das Wetter (sonnig) und die Schlagzeilen (düster). Sie hatten das Gefühl, dies alles sei unwichtig, doch worüber hätten sie sonst reden sollen? Er hatte recht: Tara hatte ihm den ganzen Sommer über beim Bau der verdammten Maschine geholfen. Da konnte sie ihm schlecht raten (ihn bitten, ihn anflehen), sie nicht zu benutzen.
Als sie das Geschirr in die Spüle stellten, packte er sie und küsste sie leidenschaftlich, und sie erwiderte den Kuss noch leidenschaftlicher, denn sie glaubte zu wissen, dass sie ihn liebte. Wie sonst wäre all das zu erklären gewesen? Sie hatte eine Postdoc-Stelle am Institut für Paläogenetik der Cornell University – ohne Frage eine renommierte Uni –, und er hatte ihr am letzten Vorlesungstag eine Frage zum Y-Chromosom gestellt. Er war zwar glattrasiert, doch sein schwarzer Haarschopf konnte dringend einen Haarschnitt gebrauchen, und wie viele der hellhäutigen Bewohner von Colorado war er sonnengebräunt und wirkte irgendwie wettergegerbt. Sein schiefes Lächeln aber war einnehmend, und später am Abend küsste sie ihn in einer Bar auf dem Hill, obwohl er nach Bourbon und Thic-Nic-Vape roch, und am Tag darauf ließ sie sich von ihm in seinem Jeep mit hundert Stundenkilometern durch die Berge kutschieren, die ganze Zeit über die Hand auf seinem Oberschenkel, und am Abend warf sie sich auf sein Bett und machte Sachen, die brave Hindu-Mädchen normalerweise nicht tun.
Und dann verbrachte sie auf einmal ihre ganze Freizeit in seinem Labor im Keller des Technikzentrums. Wieso auch nicht? Er war nicht besonders attraktiv oder charmant, doch er war höllisch smart und auch ein bisschen gefährlich und interessierte sich für Quantenrechner und die Quantenspeicheraspekte des menschlichen Genoms. »Quantom« nannte er das.
»Die potenzielle Anzahl der Speicherzustände in einem einzigen Chromosom ist drei hoch zwei Milliarden Mal so groß wie die Zahl der Gene«, sagte er spontan, als sie zum ersten Mal sah, woran er arbeitete. »Das ist zehn bis dreizehn Mal so viel wie die Zahl der Atome im bekannten Universum. Eine gewaltige Zahl! Aber wenn das Chromosom vier Arme hat, wird das Gleichgewicht gestört, und die kohärenten Zustände brechen zusammen.«
Taras Paläogenetik-Kollegen waren, vorsichtig ausgedrückt, skeptisch gewesen. Was wusste ein Professor der Elektrotechnik schon von Genen? Taras Spezialgebiet aber waren die Haplogruppen des Y-Chromosoms – sie untersuchte, wie weit sie sich von der ursprünglichen A00-Gruppe des Adams des Y-Chromosoms fortentwickelten, sich ausbreiteten, ausstarben und die Welt eroberten. Sie kannte das unförmige kleine Chromosom bis zur atomaren Ebene, und je mehr sie zuhörte und nachdachte, je kundiger sie sich machte und ihre Erkenntnisse mit Daten unterfütterte, desto stärker wurde ihre Überzeugung, dass Harv Leonel auf einer verdammt heißen Spur war. Seine Ähnlichkeit mit einem trinären oder ternären Quantencompiler, wie Harv es nannte, war anscheinend weder trivial noch zufällig. Hatte die Evolution kritische genetische Funktionen Auf so kleinem, merkwürdig geformtem Raum untergebracht, weil diese Struktur eine besondere Funktion hatte?
Der Gedanke sandte ihr immer noch Schauer über den Rücken, und mehr als einmal hatte sie überlegt, dass sie sich vermutlich einen Nobelpreis mit Harv teilen könnte, wenn sie ihm half, seine These zu belegen. Doch das war nicht der Grund, weshalb sie ihm geholfen hatte. Nein, ganz bestimmt nicht.
»Vertraust du mir?«, fragte er, als er ihren Rucksack und die Schlüssel an sich nahm.
»Nein«, antwortete sie aufrichtig. »Aber ich möchte gern.«
Er war zweiundzwanzig Jahre älter als sie, so alt, dass er bereits überall auf der Welt Alkohol trinken durfte, als sie zur Welt kam. Während sie in Indien zur Schule ging, hatte er vermutlich Pot geraucht und mit mehr jungen Frauen geschlafen, als sie sich vorstellen wollte. Sie wusste, dass er geschieden und die Trennung hässlich gewesen war und dass er sich geschworen hatte, nie wieder zu heiraten, bis er den Schwur irgendwann zurückgenommen hatte. Sie hatte ihn nie gefragt, was ihn dazu bewogen hatte und wann das gewesen war oder was es für sie beide bedeuten mochte.
»Bereit?«, fragte er von der Tür aus.
Nein, wollte sie sagen. Überhaupt nicht. Kein bisschen. Doch stattdessen lächelte sie gezwungen und nickte, denn genau davon hatte er immer geträumt, und sie wollte ihm nicht im Weg stehen. Vor allem wollte sie nicht herausfinden, dass ihm die Wahrheit mehr bedeutete als ihre Beziehung und dass er den Einschaltknopf notfalls auch in ihrer Abwesenheit drücken würde.
Wie immer steuerte er den Wagen, und obwohl der dichte Verkehr ihn daran hinderte, richtig Gas zu geben, spürte sie, dass er innerlich brannte vor Ungeduld und Tatendrang. Das Experiment wurde von der National Science Foundation, der Forschungseinrichtung des Verteidigungsministeriums, und aus der schwarzen Kasse des Instituts für Elektrotechnik finanziert, vor allem deshalb, weil Harv verschwiegen hatte, dass er plante, den Ausgang eines transkraniellen magnetischen Stimulators mit dem Hippocampus seines Gehirns zu koppeln.
»Das ist eine Art Zeitmaschine«, hatte er ihr beim dritten Date eröffnet. »Sie transportiert Informationen aus der fernen Vergangenheit ins aktuelle Gedächtnis. Wer weiß, vielleicht findet sich da drinnen ja eine ganze Bibliothek.«
Zu dem Zeitpunkt war ihr das nicht einmal verrückt vorgekommen.
Ach, Harv. Verdammt noch mal!
Das Labor – ihrer beider Labor – war ein Tohuwabohu aus Kabeln, Monitoren und Dewargefäßen mit flüssigem Stickstoff. Im Laufe des Sommers war das Chaos allmählich aus Taras Fokus geraten und zu einem Teil der normalen Unordnung der realen Wissenschaft geworden, doch heute hatte sie den Eindruck, es zum ersten Mal zu sehen. Stromleitungen und Glasfaserkabel schlängelten sich über den Boden, weder mit Kabelbindern noch mit Klebeband fixiert, sondern einfach hastig von einem grauen Kasten zum nächsten gezogen. Darin flossen Strom, Daten und Femtosekunden-Pulse dorthin, wo sie gebraucht wurden. An den Wänden und den Geräten klebten Comics und Cartoons: Die andere Seite, XKCD, Cyanide and Happiness, Calvin und Hobbes. Alles, was mit Zeitreisen zu tun hatte. Alles, was mit Quantenrechnern oder Gehirnstimulation zu tun hatte. Die Kontrollleuchten leuchteten bereits, und Gurdeep Patel war da, ging vorsichtig umher und überprüfte alles mit Hilfe eines Klemmbretts.
»Hallo, Boss«, sagte Patel und nickte.
»Sie sind früh auf«, bemerkte Harv.
»Sie auch.«
Patel war Harv Leonels offizieller Assistent – ein Doktorand, der noch weniger verdiente, als das Institut für Paläogenetik Tara bezahlte. Er war ein aufgeweckter junger Mann, aber zum Glück nicht sonderlich aufmerksam für das, was in seiner Umgebung vor sich ging. Soweit Tara wusste, hatte er keine Ahnung, dass das geplante Experiment weder begutachtet noch mit den zuständigen Stellen abgesprochen worden war. Harv hatte ein bisschen Blabla in den Förderantrag hineingeschrieben, das in diese Richtung wies – gerade so eben ausreichend, um sich später darauf berufen zu können, er habe seine Absichten offengelegt, jedoch nicht so viel, dass das Prüfungskomitee nachgefragt hätte.
Die Frage, ob ein Quantom mit dem menschlichen Gehirn interagieren oder ob es in die Lage dazu versetzt werden kann, sollte untersucht werden.
War Patel sich der Täuschung bewusst? Aber wäre er dann hier erschienen?
»Hallo, Mukkerjee«, begrüßte Patel sie.
»Hallo, Patel.« Ist dir bewusst, dass dein Doktorvater im Begriff ist, sich das Gehirn zu braten?
Mit erstaunlichem Geschick bahnte Harv sich einen Weg zum NMR-Gerät – dem Herzen der Zeitmaschine –, setzte sich auf den Rollhocker und fuhr nach und nach die Systeme hoch: Controller, läuft. Kühlung, läuft. Gyrotron, läuft. Ablenkgenerator und Verbindungskabel. Sonde. Detektor. Verstärker. Prozessor. Läuft, läuft, läuft.
Er ließ das Primärdiagnoseprogramm laufen, dann das komplette Diagnoseprogramm und schließlich das erweiterte. Danach überprüfte er die Signale eines Zieldummys – eines richtigen ternären Quantencompilers, zehnmal so groß und mehrere Tausend Mal so schwer wie das darunter befindliche Y-Chromosom.
»Geht das für dich in Ordnung?«, fragte Tara Patel leise.
Patel zuckte mit den Schultern. »Klar. Wieso nicht?«
»Ich habe so meine Zweifel.«
»Hm. Ein bisschen spät dafür.«
Sie nickte. »Ja. Da hast du recht.«
»Soll ich dir die Hand halten?«
Das war ein Scherz; Patel wusste genau, dass sie und Harv ein Paar waren. Sonst wäre sie nicht hier. Vergangene Woche hatte Harv endlich ein kleines, rückwirkendes Stipendium für sie ergattert, doch es lag nur knapp über dem Mindestlohn, und sie hatte ihn auch nicht darum gebeten. Nein, sie war wegen Harv hier, zusammen mit ihm, und sie hätte nicht einmal dann fernbleiben können, wenn sie es gewollt hätte. Und sie hatte es nicht einmal versucht.
»Ich bin versucht, Ja zu sagen«, antwortete sie Patel.
Das war ein bisschen stark, und sie bedauerte die Bemerkung augenblicklich. Dass Patel sich zu ihr hingezogen fühlte, war nicht ungewöhnlich – das galt für viele Männer, und in ihren schlimmsten Momenten hatte Tara den Eindruck, dass es für alle galt. Sie selbst störte sich an ihrer breiten Nase und ihren ausladenden Hüften, an ihren Aknenarben und ihrer zu tiefen Stimme, doch ansonsten saß alles da, wo es hingehörte, und das war den Männern anscheinend Grund genug, sich nach ihr umzudrehen. Patel aber – schüchtern, höflich, indisch bis ins Mark – verstand es, seine Gefühle zu verbergen.
Deshalb reagierte er auch nicht auf ihre Bemerkung und ging weiter die Checkliste durch.
Das NMR-Gerät maß die Spin-Zustände der Atomkerne des Y-Chromosoms, als handele es sich einfach nur um vier Milliarden Quantenbits. Nicht gerade ein Weltrekord des Quanten-Computings, aber doch eine der mächtigsten Maschinen, die je gebaut worden waren. Das hieß, falls »gebaut« der richtige Ausdruck war für etwas, das im Wesentlichen auf natürlichem Weg entstanden war. Möglicherweise war ja das Y-Chromosom der eigentliche Rechner, und das NMR-Gerät stellte lediglich den Zugang zu den Berechnungen beziehungsweise den darin gespeicherten Informationen her. Die Messung der stark verschränkten Zustände würde diese natürlich massiv stören, weshalb sich das Y-Chromosom in der Mitte eines mit flüssigem Stickstoff gekühlten Mikrochips befand; auf diese Weise wurde die Dekohärenz so lange verzögert, dass das NMR alle zwei Milliarden Qubits auslesen konnte.
Bei den Testläufen in den vergangenen Wochen hatte dieMaschine störungsfrei funktioniert und bewiesen, dass sich das Y-Chromosom (im Unterschied zu allen anderen zweiundzwanzig Chromosomen des menschlichen Genoms) als Quantenrechner nutzen ließ. Was nicht bedeutete, dass es tatsächlich einer war, doch wenn nicht, war es jedenfalls eine erstaunliche Koinzidenz. Seitdem hatte Harv – wenn er nicht trank oder dampfte oder von Tara ins Bett gezerrt wurde – sein Augenmerk voll und ganz auf den ultrahoch auflösenden transkraniellen Magnetstimulator und Elektroenzephalografen gerichtet, im Laborjargon TMS/EEG oder Badehaube genannt.
»Der Hippocampus des menschlichen Gehirns spricht Eigentlich eine ganz simple Sprache«, hatte er gemeint. »Der Informationsfluss ist im Wesentlichen unidirektional, wobei periodisch auftretende Hemm- und Erregungswellen den Morsecode unseres Gedächtnisses darstellen. In untergeordneter Hinsicht ist das auch ein quantenmechanischer Prozess, doch es ist eine andere Sprache als die des ternären Compilers, deshalb müssen die Signale aus der Frequenzdomäne in die sogenannte Zeitdomäne übersetzt werden.«
Zeitdomäne. Die Bezeichnung war sexy und hallte in ihr wider wie ein Gedicht.
Von der zugrunde liegenden Mathematik verstand sie jedoch nur wenig, außerdem hatte sie geglaubt, es würde Monate oder sogar Jahre dauern, die Übersetzungssoftware zu schreiben. Tatsächlich hatte es nur fünf Arbeitstage gedauert, und Samstag und Sonntag hatten sie für sich gehabt. Selbst Harv war überrascht gewesen, wie mühelos sich alles zusammengefügt hatte. Und jetzt waren sie hier, und das Ganze ließ sich nur an einem menschlichen Gehirn testen.
»Alle Systeme arbeiten«, erklärte Patel. »Alles im grünen Bereich. Die Ratten haben die Kabel in der Nacht nicht angeknabbert.«
Wieder so ein Scherz; in diesem Kellerraum in der untersten Etage des labyrinthischen Technikzentrums gab es keine Ratten. Und auch keine Menschen. Wie immer waren sie hier ganz allein.
»Fehlerdiagnose bislang okay«, sagte Harv. »Wir warten nur noch auf die letzten Transformationen.«
Ein Hochleistungsrechner brauchte fast fünf Minuten, um die Signale in etwas zu verwandeln, was das menschliche Gehirn lesen konnte.
»Alles klar bei dir?«, fragte er mit Blick in Taras Richtung. Er klang so, als wollte er die Antwort wirklich hören.
»Alles gut«, antwortete sie wenig überzeugend.
»Findest du noch immer, dass wir das erst an Schweinen ausprobieren sollten?«
Auch das war ein Scherz: Schweine waren dem Menschen in neuronaler und genetischer Hinsicht ausgesprochen ähnlich, doch ihnen fehlten die tiefgreifenden Verbindungen des Frontallappens, die es ermöglichten, sich nicht nur zu erinnern, sondern über die Erinnerungen auch nachzudenken. Ohne diese Verbindungen konnte der Hippocampus die TMS-Signale nicht erkennen. Das wäre so gewesen, als wenn Schweine eine Software für die Verarbeitung von NMR-Signalen schrieben und anschließend einen Artikel darüber verfassten.
»Ich finde wirklich, wir sollten überlegen, einen Arzt hinzuzuziehen«, sagte sie.
Harv schien einen Moment lang darüber nachzudenken, doch Tara konnte sich vorstellen, was in seinem Kopf ablief: Ein Arzt würde wissen wollen, was hier vorging, und darauf bestehen, das Experiment so lange aufzuschieben, bis irgendwelche komplizierten und schwammigen Sicherheitsvorschriften erfüllt wären. Aber wer war qualifiziert, Sicherheitskriterien für ein solches Vorhaben zu entwickeln? Harv Leonel – genau der.
»Es wird schon nichts passieren«, sagte er. »Mann, die Gebrüder Wright haben viel öfter als ich Kopf und Kragen riskiert.« Und dann: »Fouriertransformation abgeschlossen. Alles im grünen Bereich. Das TMS akzeptiert den Input.«
»Glückwunsch«, meinte Patel.
»Ebenso«, erwiderte Harv zerstreut, richtete sich auf, trat über die Kabel hinweg und ging zu Patel und Tara hinüber. Neben ihnen stand die Behandlungsliege, an der Harv einen Polygrafen angebracht hatte, damit man seine Vitalwerte während des Experiments überwachen konnte. Außerdem gehörte noch eine TMS/EEG-Haube aus Gummi samt dazugehörigem Kabelgewirr dazu.
Ohne weitere Umstände schmierte er alle Kontakte mit Elektrolytgel ein, setzte sich auf den Behandlungsstuhl, legte Brustgurt, Fingerbänder und Armmanschette an. Zuletzt setzte er die TMS/EEG-Haube auf und sicherte sie mit einem lächerlich wirkenden Kinnriemen.
Tara überprüfte die Sensoranzeigen und den Stimulator-Output – ein Vorgang, der fast zwanzig Minuten in Anspruch nahm. Mittels Schaltern aktivierte sie nacheinander jeden einzelnen der siebzig Elektromagneten in der Haube und speiste Rechteckwellen mit niedriger Amplitude in einen winzigen Bereich von Harvs Gehirn ein. Dann überprüfte sie, ob das Muster von den sechs EEG-Sensoren erfasst wurde, stellte den Schalter auf Off und vergewisserte sich, dass alle sechs Sensoren wieder normale Gehirnaktivität anzeigten. Klar, sie war Expertin für die Haplogruppen des Y-Chromosoms, nicht aber für Gehirnaktivität; das TMS/EEG war mit einem Rechner verbunden, auf dem eine Standardsoftware lief, die sich um die Details kümmerte. Nacheinander leuchteten immer mehr grüne Kontrollleuchten auf, und Patel konnte weitere Geräte auf seiner Liste als überprüft markieren.
Es war ein Segen, dass Harv Zeit und Geld in all die Status-LEDs investiert hatte. Er hatte ihr versprochen, den Versuch abzubrechen, wenn auch nur eine Anzeige gelb leuchtete, doch das war nicht der Fall, und bald darauf war die Überprüfung abgeschlossen. Dieses Durcheinander von Geräten – einige neu, andere überflüssig, manche von anderen Instituten geklaut – funktionierte tatsächlich wie geplant, und Tara musste anerkennen, dass auf der funktionalen Ebene alles in Ordnung war. Harv und Patel – und später dann auch Tara – hatten mit elegantem Design begonnen, waren aber gezwungen gewesen, alles auf dem beschränkten Raum mit der bestehenden Einrichtung und einer bestimmten Anzahl an Steckdosen zusammenzusetzen.
Auf der Grundlage ihrer beschränkten Zeit, der zur Verfügung stehenden Geldmittel und der Tatsache, dass sich hier niemand um Arbeitssicherheit und Brandschutzbestimmungen scherte. Außerdem würden bald die Vorlesungen beginnen, und die Arbeit auf dem Campus würde zehnfach mühseliger. Deshalb hatten sie möglichst schnell gearbeitet, ohne sich Zeit zum Nachdenken zu nehmen.
Jetzt, da sie aus diesem sexbefeuerten Traum erwachte, musste sie sich eingestehen, dass sie mitverantwortlich war für das, was gleich passieren würde. Vielleicht würde sie ja den Nobelpreis bekommen und eine Titelgeschichte in Nature, der Großmutter aller renommierten Wissenschaftszeitschriften. Andererseits war nicht ausgeschlossen, dass man wegen grober Fahrlässigkeit gegen sie ermitteln würde. Wenn sie jetzt weglief, würde dies nichts mehr ändern, deshalb machte sie einfach weiter und bemühte sich nach Kräften, den Plan so fehlerfrei wie möglich umzusetzen.
»Ich fahre den Stuhl jetzt zurück«, sagte Harv. Ein weiteres Zugeständnis: Er würde liegen, wenn das TMS-Signal aktiviert wurde.
»Okay«, sagte Patel überflüssigerweise. Er saß an der anderen Seite des Raums neben dem Notschalter, leicht vorgebeugt, damit er Harv besser sehen konnte, während der Behandlungsstuhl langsam nach hinten kippte, bis er an den Gumminoppen zum Stillstand kam.
Harvs Rechte lag auf dem Schalter des TMS: ein weißer Handschalter ähnlich denen, mit denen Patienten in Krankenhäusern Schmerzmittel aus dem Infusionsschlauch anforderten.
Tara berührte Harvs andere Hand und sagte: »Es ist noch nicht zu spät, einen Rückzieher zu machen.«
»Ich weiß«, sagte er.
Und betätigte den beschissenen Schalter.
Will McCarthy: Zeitflut • Roman • Aus dem Amerikanischen von Norbert Stöbe • Heyne, München 2021 • ca. 448 Seiten • als Paperback und E-Book erhältlich • Preis des E-Books: € 11,99 • im Shop
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