28. Oktober 2019 5 Likes 1

Sind Flugtaxis unvermeidlich?

Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Die eigentlich wichtige Frage ist aber eine ganz andere

Lesezeit: 6 min.

Sollte es irgendwann einmal einen Preis für die fatalste Phrase in der Technologiedebatte geben, dann wäre mein Kandidat folgender Satz: „Das muss die Gesellschaft entscheiden.“

Diesen Satz findet man sehr häufig am Ende von Artikeln, die sich mit „sensationellen“ und zugleich „erschreckenden“ Forschungsergebnissen respektive Experimenten beschäftigen. Und so auffordernd er klingt, so sehr dient er doch zur Beruhigung, denn das Sensationell-Erschreckende rauscht gerade in ziemlich hoher Schlagzahl durch die Medien; da scheint es geboten, das Publikum nicht allzu sehr aus der Fassung zu bringen, sondern das alles erst einmal einem vermeintlich strukturierten Prozess namens gesellschaftliche Diskussion zu überantworten.

(Zuletzt las ich den Satz in einem Artikel über japanische Wissenschaftler, die menschliche Zellen in Mäuse-Embryonen injizieren, um eines Tages Mischwesen zu erzeugen, in denen menschliche Organe wachsen könnten. Das sensationell-erschreckende Stichwort lautete „Chimären“ und mobilisierte entsprechende Ängste, aber, so das Fazit des Textes, es gäbe keinen Grund zur Sorge, denn die Gesellschaft habe noch genug Zeit, darüber zu entscheiden, ob sie eine solche Technologie anwenden will oder nicht.)

Immer wenn ich über diesen Satz stolpere, frage ich mich, wie das eigentlich konkret vor sich geht: Wie diskutiert und entscheidet „die Gesellschaft“ über die Anwendung neuer Technologien? Dass es eine solche Diskussion in etlichen Ländern – etwa in China, wo erst kürzlich sensationell-erschreckende Experimente mit der menschlichen Keimbahn stattfanden – nicht gibt, weil dort keine ausdifferenzierte, in diesem Sinne diskursfähige Gesellschaft existiert, ist nachvollziehbar. Aber diskutieren offene Gesellschaften wie unsere wirklich darüber, welche Technologien sie anwenden wollen und welche nicht? Können Sie sich an einen Wahlkampf erinnern, in dem CRISPR/Cas, Geoengineering oder Quantencomputer thematisiert wurden? War irgendetwas davon schon einmal Gegenstand einer bedeutenden Bundestagsdebatte? Hat man sich in einer Talkshow darüber die Köpfe heißgeredet? Oder, um es etwas niedrigschwelliger anzusiedeln, hat sich jemals Ihr Stadt- oder Gemeinderat mit dergleichen befasst?

Eher nicht, denke ich. Und das liegt keineswegs daran, dass es sich bei alldem um kompliziertes Spezialwissen handelt, über das man sich auf sinnvolle Weise nur in Fachgremien austauschen kann (auch der Krieg in Syrien ist eine äußerst komplizierte Angelegenheit). Nein, der Grund ist, dass wir, wenn es um die „Errungenschaften der Technik“ geht, einer Standarderzählung anhängen, die sich folgendermaßen zusammenfassen lässt: Menschen sind als einzige Erdenwesen dazu in der Lage, ihr Leben mittels Wissenschaft und Technik zu verbessern, also tun sie das auch. Sie haben es immer getan. Und sie werden nie damit aufhören, es zu tun.

Diese Standarderzählung ist der Kern der viel größeren Erzählung vom Siegeszug des Homo sapiens auf dem Planeten und impliziert, dass es parallel zum ewigen Auf und Ab der politisch-ökonomischen Zeitläufte eine unvermeidliche Aufwärtsbewegung namens technischen Fortschritt gab. Wenn man an diese Erzählung glaubt, und die meisten von uns tun das, dann ist Technik nichts, worüber man in der Gesellschaft groß diskutieren könnte, sondern etwas, das sich ereignet.

Diese Standarderzählung allerdings ist eine riesige Illusion. Denn die Etablierung und Nutzung einer bestimmten Technologie war in der Geschichte der Menschheit immer eng mit den jeweils herrschenden politisch-ökonomischen Bedingungen verbunden, ja, das eine ist ohne das andere gar nicht zu denken. (Das erste Dampfboot beispielsweise wurde schon Anfang des 18. Jahrhunderts, also knapp hundert Jahre vor dem Beginn der Dampfschifffahrt, zu Wasser gelassen, aber es wurde von aufgebrachten Schiffern, frühen Maschinenstürmern, die die Konkurrenz der Technik fürchteten, in Trümmer geschlagen.) Und insbesondere ging es dabei um politisch-ökonomische Interessen: Die industrielle Revolution ereignete sich nicht einfach so, sie wurde von der britischen Regierung mit aller Macht in Gang gesetzt, um den Status des Empires zu erhalten, eine Entscheidung, die wiederum die darauffolgenden zweihundert Jahre – Proletarisierung, Marxismus, Weltwirtschaftskrise, Aufstieg des Faschismus – politisch-ökonomisch fundamental beeinflusste.

Die enge Verbindung von technischen Errungenschaften und politisch-ökonomischen Interessen prägt unser Leben, unsere, wie es so schön heißt, „fabric of reality“, weitaus mehr als etliche andere prominente politische Vorgänge. Aber sie wird praktisch nicht wahrgenommen geschweige denn diskutiert. Wer ist sich etwa heute darüber im Klaren – wer war sich damals darüber im Klaren? –, dass Autos nicht einfach vom Himmel gefallen sind, sondern dass ihre massenhafte Einführung erst in den USA, dann in anderen Teilen der Welt das Resultat eines brutalen Feldzugs der Autoindustrie gegen den öffentlichen Nahverkehr war? Wer denkt heute noch daran, dass die zivile Nutzung der Atomenergie nach dem Zweiten Weltkrieg vom wissenschaftlich-industriellen Komplex als alternativlos deklariert und der Gesellschaft geradezu aufoktroyiert wurde? Wer räsoniert heute darüber, ob die grüne Gentechnik wirklich dazu beigetragen hat, den Einsatz von Pestiziden zu verringern, wie es die Firmen einst vollmundig versprochen haben (die Antwort: hat sie nicht)? Die Erinnerung verblasst, über all das wird vielleicht noch in Seminarräumen debattiert, aber bestimmt nicht in „der Gesellschaft“. Die Standarderzählung – die Illusion – ist schlicht und einfach zu attraktiv: „Der Mensch“ baut Autos, zapft die Energie der Atome an und manipuliert Pflanzen, weil das zu seinem Nutzen ist. Weil „der Mensch“ eben so ist und immer so sein wird.

Oder auch nicht. Denn neben der banalen Tatsache, dass Technologien stets auch negative Effekte mit sich bringen, dass also keineswegs für alle immer alles besser wurde, ist noch etwas eine Illusion an der Standarderzählung: dass neue Technologien, wenn sie zu viele negative Effekte mit sich bringen, einfach von noch neueren, noch besseren abgelöst werden. Niemand kann nämlich ausschließen, dass eine neue Technologie unseren Handlungsspielraum so stark einschränkt, dass wir Hunderte von Jahren ausschließlich mit der Schadensbegrenzung befasst sein werden. (Die Manipulation der menschlichen Keimbahn etwa ist dafür mehr als prädestiniert.)

Nun bin ich wahrlich kein Maschinenstürmer; immerhin habe ich eine Spülmaschine daheim und schreibe diesen Text auf einem Laptop. Und selbstverständlich trägt Technologie häufig zur Lösung wichtiger Gegenwarts- und Zukunftsprobleme bei. Aber gerade deshalb halte ich das Nicht-Verhältnis weiter Teile der Öffentlichkeit zu den politisch-ökonomischen Bedingungen technischer Entwicklungen für verhängnisvoll. Dieses Nicht-Verhältnis, diese mehrfach geschichtete Illusion, macht uns nämlich weitgehend blind für den Umstand, dass das, was wir als „Zukunft“ verinnerlicht haben – aktuell eine Welt voll Flugtaxis, Pflegeroboter und künstlicher Hyperintelligenzen –, erst einmal nur die Zukunft ist, die uns die Firmen verkaufen wollen. Es macht uns blind dafür, dass etliches, was unsere Realität jetzt schon massiv formt, aus den Köpfen so neurotischer Typen wie Elon Musk und Mark Zuckerberg, kuriose Wiedergänger der Stahl- und Ölbarone des Gilded Age, kommt oder den Beschlüssen von Konzernvorständen, Kabinetten und Politbüros folgt. Und es macht uns blind dafür, dass Technologien, die wirklich für alle Menschen auf der Erde eine Verbesserung bringen könnten, gar nicht erfunden werden müssen: So verfügen wir längst über Mittel und Methoden, um unsere Energieerzeugung auf eine Weise zu organisieren, die das Klima nicht zum Kippen bringt. Aber noch immer holen wir wie im 19. Jahrhundert Kohle und Öl aus dem Boden, weil mächtige und skrupellose Lobbygruppen wie im 19. Jahrhundert diese fatalen Technologien protegieren.

Sich das alles klar zu machen, ist nicht leicht, denn unsere mentalen Strukturen haben sich nach Jahrhunderten des Fortschrittsrausches weitgehend an die Standarderzählung angepasst. Aber es ist bitter notwendig. Und der erste Schritt in diese Richtung, der erste Schritt, der aus der Phrase „Das muss die Gesellschaft entscheiden“ eine Beschreibung der Wirklichkeit macht, ist, diesen Satz ernst zu nehmen. „Die Gesellschaft“ kann nämlich nur etwas entscheiden, wenn sich die Menschen als Teil der Gesellschaft verstehen. Wenn sie begreifen, dass alles, was in der Gesellschaft geschieht, auch sie betrifft. Wenn sie sich bewusstmachen, dass sich Zukunft nicht „ereignet“, sondern gemacht wird, jetzt, in diesem Moment. Und wenn ihnen deutlich wird, dass es weniger um die Frage geht, ob uns die Technik eine gute Zukunft ermöglichen wird – vielleicht wird das so sein, vielleicht aber auch nicht –, sondern dass andere Fragen viel wichtiger sind. Zum Beispiel: Wer will seine Interessen durchsetzen, und welche Strategien wendet er dafür an? Oder: Kann ich mitreden, und wenn ja, wie?

Vor allem aber die simple Frage: Um was geht es eigentlich?

Sascha Mamczaks Buch „Die Zukunft - Eine Einführung“ ist im Shop erhältlich. Alle Kolumnen von Sascha Mamczak finden Sie hier.

 

Kommentare

Danke Sascha! Starker Text.

Ein wichtiges Thema, vielleicht aktuell das wichtigste überhaupt.

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