11. Februar 2017 3 Likes

Endlich wieder richtig Biss

„The Girl with all the Gifts“ als Revitalisierung des Zombie-Genres

Lesezeit: 6 min.

In den letzten Jahren musste man sich schon wundern, was nicht alles einer umfassenden Zombifizierung unterzogen wurde. Selbst ein völlig unblutiger Klassiker wie das Romanwerk von Jane Austen kam da nicht unzerkaut davon, wobei sich gerade nach Stolz und Vorurteil und Zombies selbst für hartgesottene Genre-Fans die Frage stellen musste, ob die Figur des Zombies bei aller motivischen Flexibilität zwischen intensiver Affektpolitik und subversiver Ideologiekritik nicht langsam an Reiz eingebüßt hat. Denn ganz ehrlich: wer findet denn unsere allseits beliebten, schon so vielfältig dezimierten und immer wieder aufgefüllten Postapokalyptiker von The Walking Dead noch spannend wie vor einigen Jahren? Frischer Wind tut da schon sehr not und auch wenn man dem von Colm McCarthy filmisch stilsicher realisierten The Girl with all the Gifts, das auf dem Roman „Die Berufene“ von Graphic-Novel-Kultautor Mike Carey (The Unwritten) basiert, sicher nicht gleich wieder die Bürde einer Rettung der gesamten Zunft aufhalsen sollte, forciert dieses Werk zumindest einige denkwürdige Volten. Das liegt vor allem an der omnipräsenten Protagonistin Melanie, die als hochintelligenter Kindszombie eine hochgradig ambivalente Mittelposition zwischen Heilsbringerin und Vernichterin einnimmt; zumindest im Bereich dessen, was man im Normalitätsparadigma des innerfiktional skizzierten Weltbildes unter normalem Menschsein versteht. Die Rahmengeschichte ist dabei genretypisch relativ schnell umrissen, da sich auch The Girl with all the Gifts nicht primär über seinen Plot, sondern vielmehr über die latenten bis explosiv ausbrechenden Spannungen innerhalb des übersichtlichen Figurenensembles auszeichnet.

Durch eine Pilzinfektion hat sich fast die gesamte britische Bevölkerung in fleischfressende, Zombie-artige Wesen verwandelt, die „Hungries“ genannt werden. Nur eine kleine Gruppe infizierter Kinder verspricht zumindest einen Funken Hoffnung auf ein Heilmittel: Sie können zwar ihre aggressive Seite kontrollieren, weil ihr Verstand nicht von der Infektion beeinträchtigt wird, dennoch müssen sie aktiv widerstehen, der Natur ihres stark ausgeprägten Fressimpulses nicht nachzugeben. In einer unterirdischen Militärbasis werden die Kinder von der sinistren Biologin Dr. Caldwell (gewohnt grandios zelebriert von Altmeisterin Glenn Close) grausamen Experimenten unterzogen, um ein Heilmittel gegen die Infektion zu finden, während die Kinder parallel dazu bei Tage von Sergeant Parks (Paddy Considine) im Verbund mit seinen Soldaten überwacht und dabei wie Hochsicherheitsgefangene gehalten werden. Dennoch gibt es selbst für diese Kinder eine Art Alltagroutine, die vor allem darin besteht, regelmäßig einen Schulunterricht besuchen zu müssen, bei dem die an Stühlen festgeschnallte Klasse in bester A Clockwork Orange-Manier den Lehrstoff einsaugen darf. Ein bisschen Kultur hat schließlich noch keinem Zombiehybrid geschadet.

Ein Mädchen sticht allerdings selbst unter diesen bereits extrem außergewöhnlichen Umständen aus der Masse heraus: Die junge Melanie (Sennia Nanua) übertrifft ihre Mitschüler an Intelligenz, ist höflich und ihrer Lehrerin Helen Justineau (Gemma Arterton) sehr zugetan. Eine Liebe, die nicht unerwiedert bleibt und das Fundament für eine ungewohnt zärtliche Beziehung innerhalb eines Zombie-Films markiert. Als die Basis von einer Horde Hungries letztlich doch überrannt wird und nahezu alle darin Lebenden auslöscht werden, kann Melanie zusammen mit Helen, Sergeant Parks und Dr. Caldwell gerade noch entkommen, wobei es für Melanie das erste Mal in ihrem Leben ist, dass sie die Außenwelt erkunden darf. Die Gruppe macht sich auf den Weg nach London, um einerseits nach einer Zuflucht, andererseits aber weiterhin nach einem Heilmittel zu suchen. In einer in Chaos versunkenen und völlig zerstörten Welt muss Melanie, die sich zunehmend selbst aus ihrer Rolle der gefangenen Bedrohung heraus emanzipiert und sogar bald aufgrund ihrer Fähigkeiten eine Führungsposition innerhalb der Gemeinschaft übernimmt, bald nicht nur über ihre eigene Zukunft, sondern das Schicksal der gesamten Menschheit entscheiden.

In dieser Gemengelage besticht der Film vor allem mit einem zwar für das Zombie-Motiv nicht ganz neuen, jedoch mithilfe der Kindsfigur äußerst perfide vorgetragenen Gedankenexperiment: welche Folgen hat eine Evolution, die das idealistische Erbe menschlicher Kultur mit der Grausamkeit einer letztlich nicht minder menschlichen (Trieb-)Natur so vereint, dass nur diejenigen langfristig überlebensfähig sind, die sich an diese neue Evolutionsstufe anpassen können? Oder etwas anders perspektiviert: was wird aus dem bisherigen Standard des Menschseins, wenn dieser nicht nur von den Hungries, sondern ebenso von einer besser angepassten Gattung eines neuen Menschen herausgefordert wird? Melanie ist wie die anderen geborenen, bereits im Mutterleib infizierten Hybriden eben kein Monster, das sich unerbittlich konsumistisch durch seine völlig sinnentleerte und damit so einfach als Figuration einer kanalisierten, globalen Konsumkultur aufladbare Zombie-Existenz frisst. Denn sie hat Gefühle, die ihre Mutterfigur Helen auch im Verlauf des Film bestens zu bedienen und weiter zu nähren versteht. Im Mutter-Kind-Patchwork scheint also eine Vermittlung zwischen Mensch und Hybrid möglich. Ein Schelm, wer hier eine letztlich doch sehr klassische Motivkonstellation am Werk zu sehen glaubt.

Speziell in der Beziehung zwischen Melanie und Helen laufen verschiedene Stränge zusammen, da Helen - anders als Dr. Caldwell und Parks - auch als Lehrerin eben für den Rest an Humanität und Bildung steht, der selbst in Zeiten der Postapokalypse als zu bewahrendes Erbe und Möglichkeit einer doch etwas beschönigten Selbstidealisierung der Menschheit fungiert. Kein Wunder also, dass wir zwar in The Girl with all the Gifts einerseits Melanie dabei zusehen dürfen, wie sie mit Helen im Unterricht eine hoch emotional aufgeladene Erzählinterpretation regelrecht zur Schau stellt, während man als Zuschauer später in einer Art Gegenbild zu dieser Kulturisation über die abgezockte Kaltblütigkeit des Kindes erschrickt, das für seine Ziele auch andere Leben bewusst zu opfern bereit und mit einem höchst ausgeprägten Egoismus ausgestattet ist. Dass es dabei der jungen Sennia Nanua gelingt, ihre Darstellung dieser menschlich, allzumenschlichen Melanie schon derart formvollendet zwischen jugendlicher Naivität und glaubhafter Gewaltaffinität vorzutragen, ist schauspielerisch trotz der ohnehin grandiosen - jedoch bei Stars wie Glenn Close, Gemma Arterton und Paddy Considine kaum anders zu erwartenden Leistungen -, schlicht sensationell. Schon wegen Nanua ist The Girl with all the Gifts absolut sehenswert und es wird spannend sein zu verfolgen, ob sie ihren Weg entsprechend hochklassig weitergehen kann.

Filmisch liefert McCarthy (unter anderem für seine Arbeit an der Sherlock-Serie bekannt) mit seiner dramaturgisch bis auf wenige Längen stets konsequent vorangetriebenen Adaption der kongenialen Vorlage von Mike Carey eine innovative, bildgewaltige und zugleich hochgradig subversive Zombie-Apokalypse, wie sie das Kino in dieser Form selten gesehen hat. Sowohl die oft karge, auf das Wesentliche reduzierte Inszenierung einer glaubwürdigen Zombiewelt als auch die gelungene Entwicklungskurve der Charaktere harmonieren geradezu perfekt miteinander und lassen die seltenen Action-Sequenzen ähnlich wie in Danny Boyles wegweisendem Genre-Klassiker 28 Days Later (inklusive Nachfolger) als gut gesetzte Abwechslung hervorragend auf den Zuschauer einwirken. Während man in narrativ weitgehend planlosen bis beliebigen Zombie-Streifen wie Resident Evil jedes Ende der meist geradezu peinlichen Pseudodialoge herbeisehnt und sich auch Teil 6 als aktuelles Beispiel wohl auch erneut nur an seiner Action messen lassen möchte, legt McCarthy mit ruhiger, aber eben zur rechten Zeit ebenso knallharter Kamerahand Akzente, die The Girl with all the Gifts nicht im Dunstkreis austauschbarer B-Movies versauern lassen. Eine Szene wie beispielsweise diejenige, in der die Kinder zum ersten Mal in ihrer Andersartigkeit präsentiert werden, bietet mit ihrer vibrierenden Intensität mehr cineastische Erregung als es die meisten Resident Evil-Filme über ihre gesamte Länge hinweg zustande bringen würden.

Offenbar bewusst angelegt als fulminante Neuausrichtung des zuweilen recht eingefahrenen Zombiefilms der letzten Jahre, entlockt The Girl with all the Gifts schlussendlich insbesondere mithilfe der Figur der Melanie dem Genre eine frische Unerbittlichkeit mit dezentem Tiefgang, die als scharfe Gesellschaftskritik ebenso funktioniert wie als knackig düsterer Horrorthriller. Denn eines sollte bei aller Genresubversität nicht vergessen werden: als Referenz an die blutigen Grundtugenden eines üppig budgetierten Hollywood-Streifens fließt auch hier eine ganze Menge Gedärm die Themse herunter. Und dass es sich Melanie mit einem mehrfach zufriedenen Lächeln merklich schmecken lässt, darf eben gerade als Beleg für die Raffinesse dieses Werks jenseits üblicher Grenzauslotungen zwischen Mensch und Zombie nicht unterschätzt werden. 

„The Girl with all the Gifts“ läuft seit dem 9.2. im Kino. Abb. © Warner Bros.

The Girl with all the Gifts • USA/UK 2016 • Regie: Colm McCarthy • Darsteller: Sennia Nanua, Glenn Close, Gemma Arterton, Paddy Considine

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