13. April 2017 3 Likes

Hallo, wir sind die neuen Nachbarn!

Eine erste Leseprobe von Peter Clines' genialem neuem Horror-Roman „Der Raum“

Lesezeit: 10 min.

Vermutlich zieht niemand gerne um. Kisten packen, Kisten schleppen, Kisten wieder auspacken – es ist die Hölle. Doch normalerweise ist das Schlimmste geschafft, wenn man sich erst einmal in der neuen Wohnung niedergelassen hat. In Nate Tuckers Fall ist das jedoch ein wenig anders. Für den sympathischen Anti-Helden aus Peter Clines‘ neuem Roman „Der Raum“ (im Shop) geht der Albtraum erst los, als er sich etwas genauer in seinem neuen Zuhause umsieht. Peter Clines, der bereits mit „Der Spalt“ (im Shop) die Science-Fiction-Fans  begeisterte, hat mit „Der Raum“ wieder ein absolutes Meisterwerk vorgelegt – nervenzerreißende Spannung garantiert!

Für alle, die jetzt in den Roman hineinschnuppern wollen, gibt es hier eine erste Leseprobe. Wir wünschen viel Vergnügen bei der Lektüre.

 

1

Nate Tucker erfuhr von der Wohnung, wie man oft von Dingen erfährt, die das eigene Leben für immer verändern – durch puren Zufall.

Es geschah bei einer Donnerstagsparty, auf der er gar nicht sein wollte. »Party« war eigentlich ein zu großes Wort dafür, aber »ein paar Bier nach der Arbeit« wäre untertrieben gewesen. Dort waren ein halbes Dutzend Leute, die er kannte, und ein weiteres Dutzend, die er hätte kennen sollen. Er hatte nicht aufgepasst, als sie ihm vorgestellt wurden, und keiner von ihnen schien interessant genug, um ihn später nach seinem Namen zu fragen. Sie saßen an Tischen, die für sie zusammengeschoben worden waren, teilten sich Vorspeisen, von denen später manche behaupten würden, sie hätten sie nicht angerührt, und nippten an überteuerten Drinks, die sie aus exklusiveren Restaurants zu kennen vorgaben.

Nate war vor einer Weile klargeworden, dass sich bei solchen Zusammenkünften niemand richtig unterhielt. Die Leute redeten nur abwechselnd aufeinander ein. Niemand hörte zu. Er wünschte, seine Arbeitskollegen würden ihn nicht mehr einladen.

Auf Nate redete ein Mann ein, den er sich als den Journalisten mit der Scharfen Rothaarigen Freundin gemerkt hatte. Er war ihm vor einem oder zwei Monaten auf einem dieser Treffen vorgestellt worden. Wie alle am Tisch fühlte der Journalist sich der Filmbranche zugehörig, obwohl seine Arbeit, soweit Nate wusste, nicht das Geringste mit der Produktion von Filmen zu tun hatte. Im Moment beklagte er sich über ein abgesagtes Interview. Sein geplanter Gesprächspartner, ein Drehbuchautor, habe irgendwelche Änderungen einarbeiten müssen, die der Produzent in letzter Minute verlangt hatte. Nate fragte sich, ob der Mann solche Sachen in seinen Artikeln unterbringen konnte – idiotische Umarbeitung der Schlüsselszene, um den egozentrischen Produzenten zu beschwichtigen.

Der Journalist unterbrach seinen Monolog, und Nate begriff, dass er auf eine Reaktion wartete. Nate überbrückte die Pause mit einem Husten und einem Schluck von seinem Bier. »Das ist übel«, sagte er. »Fällt es ganz aus, oder kann er an einem anderen Termin?«

Der Journalist zuckte die Achseln. »Weiß nicht. Meine Woche ist ziemlich voll, und er ist bestimmt damit beschäftigt, sich die Haare zu raufen.« Er trank einen Schluck von seinem Drink. »Egal, genug von mir geredet. Was läuft bei dir? Ich habe dich schon seit Ewigkeiten nicht mehr bei diesen Veranstaltungen gesehen.«

Nate, der sich erinnerte, dem Journalisten auf der Beinahe-Party letzte Woche zugewinkt und ein Nicken zurückbekommen zu haben, zuckte ebenfalls mit den Schultern. »Nicht viel«, sagte er.

»Hast du nicht an einem Drehbuch gearbeitet oder so?«

Nate schüttelte den Kopf. »Nein, das war ich nicht. Ist nicht so mein Ding.«

»Was hast du dann getrieben?«

Er trank noch einen Schluck Bier. »Arbeit. Und nach einer neuen Bleibe gesucht.«

Der Journalist zog die Brauen hoch. »Was ist passiert?«

»Meine Mitbewohner haben beschlossen, eigene Wege zu gehen«, sagte Nate. »Einer zieht zurück nach San Francisco, der andere heiratet. Wir hatten ein Haus, aber alleine kann ich es mir nicht leisten.«

»Wo wohnst du gerade?«

»In Silverlake.«

»Suchst du was Bestimmtes?«

Nate dachte einen Augenblick nach. Niemand außer seinen Mitbewohnern hatte ihn bisher danach gefragt. »Ich würde gern in der Nähe von Hollywood bleiben«, sagte er. »Ich brauche nicht viel Platz. Ich suche nach einer Einzimmerwohnung für um die achthundert.«

Der Journalist trank einen weiteren Schluck. »Ich wüsste was.«

»Echt?«

Der Mann nickte. »Ein Freund hat es mir empfohlen, als ich von San Diego hergezogen bin. Ein älteres Haus in der Gegend um die 101, zwischen Koreatown und Los Feliz.«

»Ja, ich weiß, wo das ist. Das ist näher zur Arbeit als von da, wo ich jetzt wohne.«

»Ich habe nur ein paar Monate da gewohnt, aber die Miete war billig, und ich hatte einen tollen Ausblick.«

»Wie billig?«

Der Journalist sah sich um. »Unter uns«, sagte er, »ich habe fünf-fünfzig bezahlt.«

Nate verschluckte sich an seinem Bier. »Fünf-fünfzig im Monat? Mehr nicht?«

Wieder nickte der Journalist.

»Fünfhundertfünfzig?«

»Genau. Inklusive Nebenkosten.«

»Du willst mich verarschen.«

»Nein.«

»Warum bist du ausgezogen?«

Der Journalist grinste und wies mit dem Glas auf seine Scharfe Rothaarige Freundin. Sie saß schräg gegenüber, und eine Frau mit pechschwarzem Haar und ebensolcher Kleidung redete auf sie ein. »Wir haben beschlossen, zusammenzuziehen, und uns was Größeres gesucht. Und …«

Nate zog eine Braue hoch. »Und was?«

»Irgendwie ist die Atmosphäre da seltsam.«

»In der Gegend oder im Haus?«

»Im Haus. Versteh mich nicht falsch, es ist eine gute Wohnung. Sie war nur nicht das Richtige für mich.« Er zog sein Handy heraus und strich über das Farbdisplay. »Ich glaube, ich habe noch die Nummer von der Hausverwaltung, falls du sie haben möchtest.«

 

2

Das Gebäude war ein Quader aus roten Backsteinen mit grauen Mörtelfugen, wie man es in New York oder San Francisco erwarten würde. Im zweiten Stock waren in die Fassade zwei Rechtecke aus Beton eingelassen, die erodierte alte Wappen trugen. Über dem Eingang führte eine Feuerleiter im Zickzack nach oben. Nate wusste, dass es in Los Angeles viele alte Gebäude wie dieses gab. Er arbeitete sogar in einem davon.

Es war auf einem hohen Fundament errichtet, das ohnehin schon auf einem Hügel stand. Zwei Treppen führten zur Tür hinauf. Nate stellte sich sofort vor, wie mühsam es wäre, Möbel dort hinaufzuschleppen. Neben den Stufen standen zwei Bäume und boten den Wohnungen im Erdgeschoss etwas Sichtschutz. Sie waren erst kürzlich gepflanzt worden und nicht so dicht und stämmig wie der Baum neben dem schmiedeeisernen Tor.

Eine kleine Asiatin stand mit einem iPad unter dem Arm neben dem Tor. Sie winkte ihm zu. »Nate?«

Er nickte. »Toni?«

»Ja. Sehr erfreut.« Sie öffnete das Tor und reichte ihm die Hand.

Toni gehörte zu den Frauen, deren Alter man unmöglich schätzen konnte. Sie hätte irgendwas zwischen achtzehn und fünfunddreißig sein können. Der kurze Rock ließ sie jünger wirken. Ihr Auftreten und der Klang ihrer Stimme wiesen auf ein höheres Alter hin.

Sie lächelte, als sie ihn die Treppe hinaufführte. Es war ein fantastisches Lächeln. Falls es unecht war, musste sie es jeden Tag üben. »Es ist ein tolles Haus.« Sie tätschelte liebevoll eine der Säulen neben der Tür. »Über hundert Jahre alt. Eines der ältesten in diesem Teil der Stadt.«

In den Betonsturz über der breiten Tür war in fetter Schrift KAVACH eingraviert. Nate war sich nicht sicher, ob es ein Name war. »Es sieht toll aus.«

»Damals hat man für die Ewigkeit gebaut. Das sagt man doch so, oder?« Sie öffnete die stählerne Sicherheitstür. Die Holztür dahinter stand weit offen. »Kommen Sie rein, dann zeige ich Ihnen das Haus.«

Die kleine Eingangshalle hätte aus einem Film noir sein können. Die Wohnungen 1 und 2 lagen zu beiden Seiten der Haustür. Eine Treppe mit abgewetztem Geländer wand sich in den ersten Stock hinauf. Unter dem Aufgang hingen zwei Reihen von Briefkästen, und darunter lagen hohe Stapel Telefonbücher. Es sah aus, als wären sie schon lange dort.

»Machen Sie sich deswegen keine Gedanken«, sagte Toni. »Normalerweise sorgt Oskar, der Hausmeister, dafür, dass alles sauber ist.«

»Das schreckt mich nicht ab«, entgegnete er.

Als sie ihn erneut anlächelte, hatte er Schmetterlinge im Bauch. Es musste eingeübt sein. Niemand konnte allein mit einem Hochziehen der Mundwinkel und dem Aufblitzen der Zähne so viel ausdrücken.

»Gehen wir nach oben.« Sie warf einen Blick auf ihr iPad. »Wir drehen eine Runde.«

Sie führte ihn die Treppe in den ersten Stock hinauf und den Flur entlang. Alles war dunkelbraun und elfenbeinfarben gestrichen. Sie kamen an einer schmalen Glastür vorbei, die ihn an eine alte Telefonzelle erinnerte. Toni sah über die Schulter zurück und folgte seinem Blick. »Der Aufzug«, erklärte sie. »Er ist gerade außer Betrieb, aber bis Sie einziehen, ist er wahrscheinlich repariert. Allerdings ist er ziemlich klein. Sie müssen Ihre Möbel hochtragen.«

»Zum Glück habe ich nicht so viele.« Er blickte zur anderen Seite des Flurs und sah mehrere Vorhängeschlösser an der Tür mit der Nummer 14, aber Toni war schon weitergegangen. Als er einen Blick zurückwarf, verdeckte der massive Rahmen die Tür.

»Zweiundzwanzig Einheiten«, sagte sie, während sie weiter nach hinten ging. »Acht, sechs und acht.« Sie traten durch eine Brandschutztür in einen Raum, der sich von einer Seite des Hauses bis zur anderen erstreckte. Dort standen drei Sofas und zwei dazu passende Sessel. An der Südwand hing ein Flachbildfernseher mit einer Diagonale von mindestens einem Meter. »Das ist der Gemeinschaftsraum für alle Mieter«, sagte sie. »Es gibt Anschlüsse für Spielkonsolen und Blu-ray und so weiter. Wenn Sie für einen bestimmten Zeitraum reservieren wollen, können Sie einfach einen Zettel hinlegen.«

Am Ende des Gemeinschaftsraums befand sich die Hintertreppe. Sie mutete im Gegensatz zur Vordertreppe industriell an und führte im Zickzack in kurzen Fluchten nach oben. Toni ging weiter hinauf. Der Flur im zweiten Stock sah genauso aus wie der darunterliegende. Links und rechts des Absatzes befanden sich die Türen mit den Nummern 27 und 28. Toni holte einen Schlüssel hervor und öffnete die 28.

Die Wohnung war nicht riesig, aber groß genug. Nate stellte sich vor, wie Abbilder von ihm Kopf an Fuß auf dem Holzboden lagen, und schätzte den Raum auf sechs mal sechs Meter. Vielleicht etwas tiefer als breit. Zwei Schnüre hingen vom Deckenventilator in der Mitte herab. In der Backsteinmauer gegenüber der Tür befanden sich zwei Fenster, die so groß waren, dass er darin hätte stehen können. Es waren altmodische, in der Mitte unterteilte Fenster mit Seilzügen und in den Rahmen verborgenen Gegengewichten.

Durch die Scheiben konnte er auf Los Angeles sehen. Wegen des kleinen Hügels und des hohen Fundaments war er fast auf Höhe des vierten Stocks. Er konnte über das Nachbargebäude hinweg auf den Freeway 101 ein paar Straßen weiter nördlich blicken. In der Ferne konnte er das Griffith Observatory erkennen.

Tonis Absätze klapperten über den Boden. »Nicht schlecht, die Aussicht, oder?«

»Das ist großartig.« Er ging mit dem Kopf dicht an die Scheibe. Zur Linken standen die großen weißen Buchstaben des Hollywood-Schriftzugs.

Toni ging durch die offene Tür in die Küche. Die Arbeitsfläche war mit weißen und blauen Fliesen in einem Schachbrettmuster dekoriert, das der Linoleumboden aufgriff. »Zur Wohnung gehören ein Kühlschrank und eine Standbadewanne«, sagte sie. »Im Keller ist eine Waschküche. Und es gibt eine Dachterrasse. Wir beginnen mit einem Sechs-Monats-Vertrag, der sich danach immer um einen Monat verlängert. Sobald Sie die Bonitätsprüfung bestanden haben, brauchen wir die erste Miete plus eine Monatsmiete Kaution.«

Nate versuchte, seine Begeisterung zu verbergen, als er in die Küche ging. Er öffnete ein paar Schränke und sah dann auf die Arbeitsfläche, um sich nicht von ihrem Lächeln blenden zu lassen. »Und wie hoch ist die Miete?«, fragte er. »Der Typ, der mir von der Wohnung erzählt hat, meinte, sie wäre eher günstig.«

»Tja, leider hatten wir gerade eine Erhöhung«, sagte Toni. »Es ist also nicht mehr ganz so billig.«

Nate sah zurück in das Zimmer und stellte sich vor, wie seine Möbel an den Wänden standen. »Das ist verständlich«, sagte er. »Und was kostet es jetzt?«

»Fünfhundertfünfundsechzig«, sagte sie. »Inklusive Nebenkosten.«

»Welche?«

»Alle.«

Er wagte, in ihr Lächeln zu blicken. »Fünfhundertfünfundsechzig Dollar insgesamt?«

»Ja«, sagte sie. »Sind Sie interessiert?«

»Scheiße, ja«, sagte er. »Entschuldigung.«

Tonis Lächeln flackerte einen Moment, und er bemerkte, dass ein echtes das eingeübte überlagert hatte. »Kein Problem«, sagte sie. »Ich bin dafür bekannt, dass ich fluche wie ein Seemann, wenn es nicht so läuft, wie ich will.«

Sie holte eine Visitenkarte sowie einen Stift aus ihrer Tasche und benutzte das iPad als Unterlage, als sie etwas auf die Karte schrieb. »Gehen Sie auf die Website von Locke Management, und loggen Sie sich mit diesem Code ein. Das ganze Bewerbungsverfahren läuft online. Wenn Sie sich heute anmelden, können wir Montag die Bonitätsprüfung durchführen. Und in einer Woche können Sie einziehen.«

»Großartig«, sagte er. »Die Bonitätsprüfung sollte kein Problem sein.«

»Prima«, sagte sie. »Ich rufe Sie nächste Woche an und …« Ihr Lächeln begann zu zerbröseln. Sie trat einen Schritt zurück und hatte sich sofort wieder unter Kontrolle.

Eine Kakerlake war auf der Arbeitsfläche aufgetaucht. Es war keine der riesigen, die Nate manchmal nachts auf den Bürgersteigen sah, aber sie war groß genug – halb so lang wie sein Daumen. Ihre Antennen wippten, als sie sich im Zickzack über die Theke bewegte.

»Es tut mir so leid«, sagte Toni. Sie warf einen Blick auf ihr iPad. »Wir lassen jeden Monat einen Kammerjäger kommen, aber es ist einfach unmöglich, sie auszurotten.«

Das Insekt blieb in einem Streifen Sonnenlicht stehen, um sie anzusehen, und Nate hatte Gelegenheit, es ebenfalls zu betrachten. Dann quetschte es sich hinter die Abschlussleiste und war verschwunden. »War die Kakerlake hellgrün?«

Toni zuckte die Achseln, und ihr Lächeln behauptete sich wieder. »Vielleicht. Es ist ein altes Gebäude. Da muss man mit Seltsamkeiten rechnen.«

 

 

Peter Clines: „Der Raum“ ∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Marcel Häußler ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2017 ∙ 592 Seiten ∙ Preis des E-Books € 8,99 (im Shop)

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.