Matrix meets Metro
Eine exklusive Leseprobe aus Marion Herzogs Science-Fiction-Debüt „Algorytmica“
Die Zukunft: Das Leben an der Erdoberfläche ist unmöglich geworden, und die letzten Menschen haben sich in riesige Bunkeranlagen tief unter der Erde zurückgezogen, wo sie vierundzwanzig Stunden am Tag in virtuelle Welten eingeloggt sind und vergessen, dass sie in winzigen Zellen an lebenserhaltende Systeme angeschlossen sind. Doch dann gerät die scheinbar so heile digitale Welt ins Wanken …
So düster wie Dmitri Glukhovskys „Metro“ und so visionär wie „Matrix“ – in ihrem ersten Science-Fiction-Roman „Algorytmica“ entwirft Marion Herzog eine faszinierende Zukunftswelt, die den Leser nicht mehr loslässt. „Algorytmica“ erscheint am 13.12.2021, und wir freuen uns, Ihnen vorab eine erste Leseprobe zur Verfügung stellen zu können.
Prolog
Samuel Crowe beobachtete konzentriert die vier Monitore. Endlich war es so weit. Seine Drohne begann nach einem langen Heimweg mit dem Landeanflug, und obwohl ihm eine ermüdende Nachtschicht in den Knochen steckte, durfte er jetzt keinen Fehler machen. Immerhin war es seine einzige Aufgabe, das Flugzeug sicher nach Hause zu bringen.
Es war ungewöhnlich ruhig auf der Lotsenbrücke. Ein angekündigter Sturm war der Grund dafür. Die meisten seiner Kollegen hatten ihre Babys längst ins Dock geholt und waren in die Sicherheit der tieferen Ebenen verschwunden. Außer ihm selbst waren nur noch vier weitere Drohnenpiloten anwesend. Cathy, Miriam und Don verfolgten an ihren Pulten zwei Reihen vor ihm die Flugbahnen ihrer eigenen Schützlinge. Auch die drei anderen Drohnen waren nicht mehr weit entfernt. Sie würden es rechtzeitig in die Arche schaffen.
Auf dem Platz direkt neben Samuel war Riley vor seinem virtuellen Cockpit eingeschlafen. Wie sein bester Freund es schaffte, seelenruhig vor sich hinzuschnarchen, während sein Flugzeug meilenweit entfernt unterwegs war, konnte Samuel nicht verstehen. Aber es war typisch für ihn. Was Riley nicht ändern konnte, das interessierte ihn auch nicht. Wäre es Samuels Drohne gewesen, die direkt auf einen Jahrhundertsturm zusteuerte, er hätte keine ruhige Minute gehabt. Doch die Sorge um sein ferngesteuertes Auge war nicht der einzige Grund für seine Nervosität an diesem Abend.
Das Blinken auf seinem Monitor zeigte ihm an, dass DX.567.34, oder Dottie, wie er sie liebevoll nannte, den Signalradius der Arche erreicht hatte. Nur wenige Sekunden später flackerte die Übertragung ihrer Außenkamera über den Screen. Wackelnd, vom Wind hin- und hergezerrt, schoss Dottie auf der südlichen Einflugschneise auf das Schott zu. Angespannt nagte Sam an seiner Unterlippe. Der Sturm war näher als gedacht und stärker. Samuel hatte das Landemanöver schon viele Hundert Male durchgeführt, und doch war er immer wieder nervös, als wäre es sein erster Flug. Sein Blick hüpfte zwischen den Bildschirmen hin und her. Er kontrollierte abwechselnd die Daten der errechneten Flugbahn, das Cockpit seiner Drohne und die Bilder, die sie ihm aus der Luft zeigte. Viel war darauf nicht zu erkennen. Der dichte rote Feinstaub schränkte die Sicht bis auf wenige Meter ein. Zudem funktionierte Dotties Liveübertragung nur in unmittelbarer Nähe der Arche. Je weiter sich die Drohne entfernte, desto schwächer wurde ihr Funksignal. Schon nach wenigen Kilometern war sie nicht mehr zu steuern und konnte nur noch ihrer vorprogrammierten Flugbahn folgen.
Nur eine der vielen Herausforderungen, die da draußen auf die Flieger wartete. Es kam immer wieder vor, dass Lotsen ihre Drohnen an die Oberfläche verloren. Samuel war das noch nie passiert, und es würde ihm auch heute nicht passieren. Seine Finger hüpften zwischen den Screens hin und her und justierten auf der transparenten Oberfläche die Koordinaten immer wieder neu. In schnellem Zickzack raste Dottie tief am Boden über aschgrauen Stein und rote Staubhügel, bis wie aus dem Nichts die Tore der Südschleuse auftauchten. Im selben Moment, in dem die Bilder Samuels Monitor erreichten, öffnete er mit einer geübten Handbewegung die Tore und ließ sein Baby ins Innere der Arche einfliegen.
Sobald sich die meterdicken Tore hinter der Drohne geschlossen hatten, wurde das Übertragungsvideo deutlicher. Samuel sah, wie Dotties Scheinwerfer den grauen Stahl in weißes Licht tauchten. Erleichtert atmete er auf. Sie hatten es wieder einmal geschafft. Dottie war sicher im Hafen. Ein paar Minuten noch, dann würde der Aufzug den Hangar auf Level –1 erreichen, und sie war zu Hause.
Samuel legte den Kopf in den Nacken und blickte nach oben an die graue Betondecke. Wie viele Meter Stein trennten ihn von seiner Drohne? Und von den Schotts auf Level 0? Was hatte Dottie diesmal gesehen, welche Bilder würde sie mit ihm teilen?
»Riley, hey Riley, wach auf!« Er boxte seinen Freund in die Seite. »Dottie ist zurück. Es ist so weit.«
Der schlafende Pilot röchelte genervt durch die Nase und blinzelte müde mit einem Auge zu ihm hoch.
»Bist du dir sicher? Das ist das dritte Mal heute, dass du den Vogel gesehen hast.«
Samuel nickte überzeugt. »Sie ist es. Sieh selbst.« Er deutete auf seine Monitore.
Riley wischte sich mit dem Ärmel seiner Uniform ein dünnes Rinnsal Speichel vom Kinn und stemmte sich von seinem Stuhl hoch. Mit gerunzelter Stirn betrachtete er die Daten und schließlich die Bilder aus dem Lastenaufzug.
»Hallo hallo, alte Freundin, da bist du ja wieder«, murmelte er. Ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. »Na? Was hast du da draußen gesehen? Hast du uns etwas Interessantes mitgebracht?« Er wandte sich an Samuel und sagte: »Dann wollen wir mal nach oben. Lange genug hat es gedauert. Hoffentlich hat sich die Warterei diesmal gelohnt. Langsam frage ich mich, warum wir das hier eigentlich machen. Ob wir überhaupt je etwas finden.«
»Pst«, zischte Samuel und warf einen hektischen Blick über die Schulter in Richtung der anderen Piloten.
»Ach, komm schon«, beruhigte ihn Riley und verdrehte die Augen. »Als ob es hier jemanden interessiert, was wir treiben.« Aus der Innentasche seiner Jacke zog er einen kleinen Flachmann. Er nahm einen kräftigen Schluck und zog scharf die Luft ein. »Puh, das Zeug wird auch nicht besser. Aber bei den Preisen, die Miller verlangt …« Er bot Samuel einen Schluck an, aber der schüttelte nur den Kopf.
»Lieber nicht. Ich bin nervös genug.«
»Eben darum.« Riley steckte den Flachmann wieder weg. »Komm, wir wollen dein Baby nicht warten lassen. Vielleicht hat sie uns ja tatsächlich etwas Neues mitgebracht.«
Zielstrebig überquerten sie die Brücke in Richtung der beiden Aufzüge.
»Habt ihr einen Heimkehrer?«, fragte Miriam Bold und hob den Blick für einen Moment von ihren eigenen Daten.
»Jepp, er hier«, erklärte Riley und klopfte Samuel auf die Schulter. »Mein Miststück treibt sich noch da draußen rum. Ich denke nicht, dass sie es nach Hause schafft, bevor es richtig ungemütlich wird. Wie sieht es bei euch aus?«
»Cathy könnte Glück haben. Ihr Vogel ist nur noch ein paar Stunden entfernt. Don rechnet nicht mehr mit einer Rückkehr. Sein letztes Signal ist fast acht Stunden alt. Die ursprüngliche Route führt mitten in den Sturm, und er kann nicht umlenken. Bei mir sieht es nicht viel besser aus. Ich bin zwar nur noch vier Stunden von der Arche entfernt, aber ich hab kaum noch Energie. Ich kann versuchen durchzufliegen«, sie zuckte mit den Achseln, »aber ihr wisst ja selbst, wie die Chancen stehen. Ich werde den Sturm abwarten. Vielleicht kann ich landen und in ein paar Tagen eine Bergungsmaschine schicken. Warst du weit weg, Samuel?«
Samuel warf Riley einen Blick zu, als wünschte er, sein Freund würde für ihn antworten. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, die übliche Tour.« Nervös rieb er seine Handflächen aneinander.
»Na dann, herzlichen Glückwunsch zur Heimkehr. Hab ein gutes Charching. Wir werden wohl mindestens eine Woche nicht starten. Ich kann eine Pause gut gebrauchen. Vielleicht sehen wir uns ja die Tage im Holovit?«
»Darauf kannst du wetten«, sagte Riley. »Guten Flug, Mir.«
Gemeinsam verschwanden Riley und Samuel im Fahrstuhl. Riley drückte den Knopf für die Ebene –1. Nachdem er seine ID in das Display getippt hatte, schlossen sich die Türen. Schulter an Schulter standen die beiden Männer nebeneinander, bis sich die Türen mit einem leichten Ruck wieder öffneten.
»Level –1. Drohnenhangar«, kündigte eine freundliche Frauenstimme an.
Samuel straffte die Schultern. Gemeinsam mit Riley verließ er den Aufzug, und im Gleichschritt durchquerten sie die weitläufige Halle.
Wie immer, wenn er so nahe an der Oberfläche war, fühlte Samuel sich unbehaglich. Ausgeliefert und schutzlos angesichts der tödlichen Welt, die direkt über seinem Kopf lauerte. Aber da war noch etwas anderes. Eine bizarre Neugier, eine Sehnsucht nach dieser unbekannten, unendlichen Weite. Die Hoffnung auf Freiheit, für die er immer wieder sein Leben aufs Spiel setzte.
»Langsam könnte man hier auch mal umparken«, knurrte Riley, während sie mit langen Schritten den stillgelegten Teil der Halle mit Personenflugzeugen durchquerten. »Die Dinger waren seit Jahren nicht mehr in der Luft. Die können auch woanders verrosten. Und ich würde mir ein paar Meter sparen.«
»Bewegung ist gesund für Körper und Geist«, entgegnete Samuel. Nachdenklich betrachtete er die in die Jahre gekommene Passagierflotte der Arche, knapp dreißig Falcon Jets, ein Dutzend kleinere Senkrechtstarter und fünf Boeing Modelle der A800er-Familie. Seit dem Amtsantritt von Präsidentin Smith war keines der Flugzeuge mehr gewartet worden. Zehn Jahre war das nun her. Würden die Maschinen überhaupt noch fliegen? War genügend Treibstoff vorhanden? Wie viele Menschen könnte man damit in die Freiheit tragen?
Tausend?
Etwas mehr? Etwas weniger?
Das waren nur etwa 0,5 Prozent der Menschen, die in dieser Arche lebten. »Träumst du?«, fragte Riley und holte ihn zurück in die Realität. Samuel schüttelte den Kopf, auch, um die sinnlosen Gedankenspiele zu beenden. Selbst wenn die Flugzeuge starteten, selbst wenn einem kleinen Teil der Bewohner eine Flucht gelang – wo sollten sie hin? In eine der anderen beiden Archen? Es war überall gleich. Nur dass die Präsidenten und die Mitglieder des Rats dort andere Namen trugen.
»Dann beeil dich. Sie kommt runter«, drängte Riley und ging schneller. Sie hatten die gegenüberliegende Wand des Hangars erreicht. In diesem Teil der Anlage parkten die deutlich kleineren, unbemannten Drohnen. Bis auf wenige Ausnahmen lagen alle DX Detectors an ihren Docks.
»Hey Dottie, willkommen zu Hause, meine Hübsche«, flüsterte Samuel, als sich die breiten Türen des Lastenaufzugs öffneten. Lautlos rollte das vier Meter lange Flugobjekt durch die Halle an seinen Platz. Ihre dünnen Flügel aus Leichtmetall hatte sie bereits im Landeschacht auf ein Drittel des Durchmessers eingeklappt. Elegant schob sich der schlanke Körper zwischen die beiden Drohnen rechts und links, bis sie eine Handbreit von den beiden Männern entfernt zum Stehen kam. Ihre Rotoren surrten leise.
Samuel lächelte. Liebevoll legte er seine flache Hand auf die Nase ihres breiten Kopfs. Auf der kalten weißen Oberfläche begannen bunte Lichter zu tanzen, Dottie hatte die Datenübertragung aktiviert. Die Scio-Linsen auf Samuels Augen zeigten ihm das Cockpit der Drohne und die wichtigsten technischen Daten.
»Der Treibstoff ist bis auf den letzten Tropfen aufgebraucht, sie hat es gerade noch geschafft«, informierte er Riley. »Die Route zeigt einen kleinen Umweg, wahrscheinlich musste sie wetterbedingt ausweichen. Sonst scheint alles in Ordnung zu sein. Sehen wir uns die Daten mal an.«
Riley nickte und folgte ihm an die Flanke des Schiffs. Samuel presste seine Finger eine Handbreit unter dem linken Flügel gegen das Metall. Der Kontakt aktivierte einen Mechanismus im Inneren der Drohne, und mit einem leisen Zischen öffnete sich eine Klappe. Wollte man den Motor als Herz seines Schiffs betrachten, dann war dies der direkte Zugriff auf Dotties Hirn. Vorsichtig hakte Samuel nacheinander die vier Festplatten aus der Verankerung des Rechners. Neben ihm öffnete Riley den mitgebrachten Koffer mit den leeren Tauschplatten. Ihre Arbeitsschritte waren routiniert und viel geübt. Alle eingehenden Drohnendaten mussten laut Regelwerk im Vier-Augen-Prinzip abgenommen werden. Die Kontrollpartner wechselten ständig und wurden per Zufallsprinzip zugeteilt. Es war nicht einfach gewesen, den Mechanismus zu umgehen, um Samuel und Riley für diesen Tag zusammenzubringen.
Samuel reichte Riley die erste Platte, nahm eine neue entgegen und schob sie zurück in die Halterung. Seine Hände zitterten nur ein klein wenig. Den Vorgang wiederholten die beiden Männer mit der zweiten und dritten Platte. Bevor er den vierten Datenträger aus dem Bauch des Flugzeugs holte, warf er seinem Partner einen fragenden Blick zu. Wollten sie es wirklich ein weiteres Mal durchziehen? Wieder alles riskieren, ohne zu wissen, wonach sie eigentlich Ausschau hielten? Riley nickte kaum merklich. Es musste also sein. Samuel atmete tief durch und schloss für einen Moment die Augen. Aus seiner Uniformtasche zog er einen kleinen runden Gegenstand, kaum größer als eine Münze und ebenso flach.
Als würde er lediglich sein Gewicht verlagern, machte er einen Schritt zur Seite hinter den Flügel der Drohne. Samuel wusste um den toten Winkel, er hatte ihn lange gesucht. Keine Kamera des Hangars konnte ihn hier komplett erfassen. Blitzschnell presste er den Störer in seiner Hand fest hinter sein linkes Ohr. Sofort spürte er einen unangenehmen Druck. Das LifeChip-Implantat in seinem Kopf war von dem Magneten erfasst worden und klebte nun von innen an seiner Haut. Solange der Chip mit dem Störer verbunden war, konnte er keine Daten aufzeichnen. Für einen kurzen Moment war Samuel frei.
Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich Riley am Kopf kratzte. Niemand würde vermuten, dass auch er einen Störer befestigt hatte. Ab jetzt zählte jede Sekunde. Eine größere Datenlücke auf ihren Chips würde auffallen; sie hatten für den letzten Austausch knapp eine Minute Zeit. Ruhig reichte Samuel Riley die entscheidende Hardware und beugte sich nach unten, um mit dem Rücken für einen Augenblick die Sicht auf den Koffer zu verdecken. In Windeseile tauschte Riley die Platte gegen eine Dublette aus, die er aus dem doppelten Boden des Koffers hervorholte. Das Original verschwand, die Kopie legte er zu den restlichen drei Festplatten, während Samuel den letzten leeren Träger in der Drohne fixierte. Mit einer unauffälligen Handbewegung fuhr er sich durch die Haare und entfernte den Störer. Die Kopfschmerzen verschwanden sofort. Die kleine Platte wanderte zurück in seine Tasche. Das ganze Manöver hatte keine zwanzig Sekunden gedauert. Eine kleine Schweißperle rollte über seine Stirn bis zur Nase. Er atmete tief ein und aus, um sein Stresslevel zu senken, denn der LifeChip zeichnete seinen Puls wieder auf. Riley verschloss den Koffer, während Samuel Dotties Wartungsprogramm aktivierte. Ein letztes Mal streichelte er über ihre glatte Oberfläche. Er genoss das Gefühl, etwas zu berühren, das tatsächlich in der Welt da draußen gewesen war. Vielleicht war es auch für ihn noch nicht zu spät. Vielleicht würde auch er eines Tages dieses unterirdische Gefängnis verlassen. Vielleicht hatte Dottie dieses Mal etwas gefunden, das Anlass zur Hoffnung gab. Einen Silberstreif am Horizont, eine Taube, die den Olivenzweig in die Arche brachte?
Marion Herzog: Algorytmica • Roman • Wilhelm Heyne Verlag, München 2021 • 432 Seiten • Preis des E-Books: € 13,00 (im Shop)
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