22. Juni 2017 3 Likes

Eine Frage der Affinität

Robert Charles Wilsons neuer SF-Thriller „Netzwerk“

Lesezeit: 3 min.

Robert Charles Wilson (im Shop) wurde 1953 in Kalifornien geboren, verbrachte jedoch einen Großteil seines Lebens weiter nördlich, in Kanada, wo er heute noch mit seiner Familie lebt. Für seinen berühmtesten Science-Fiction-Roman „Spin“ (im Shop) wurde er 2005 mit dem Hugo Award ausgezeichnet, außerdem findet man in seinem Trophäenschrank den John W. Campbell Memorial Award, den Theodore Sturgeon Memorial Award und den Philip K. Dick Award. Jetzt ist bei Heyne mit „Netzwerk“ Wilsons Roman „Affinities“ aus dem Jahre 2015 in der Übertragung von Friedrich Mader auf Deutsch erschienen. Darin extrapoliert Wilson die sozialwissenschaftliche Theorie der Teleodynamik, die der biologische Anthropologe Terrence W. Deacon 2011 vorgestellt hat. Aber natürlich geht Wilson in seiner SF-Vision sozialer Forschung, Zuordnung, Organisation, Synergie und Interaktion viel, viel weiter …

Sein Protagonist und Ich-Erzähler Adam Fisk kommt aus einer konservativen, unglücklichen Patchwork-Familie, die von einem dominanten Vater und einem scheinheiligen älteren Bruder dominiert wird. Doch auch Adams Grafikdesign-Studium und sein Privatleben in Toronto geben ihm nicht gerade Grund zum Jubeln. Deshalb entschließt Adam sich, den Persönlichkeitstest der aufstrebenden Data-Mining-Firma InterAlia zu machen. Mit ihrem wissenschaftlichen, von einem komplexen Algorithmus gelenkten Verfahren prüft InterAlia, ob ein Mensch von seinem Charakter und seinen Neigungen her einer der zweiundzwanzig festgelegten Affinitätsgruppen zugeordnet werden kann. Bei Adam ist das der Fall, und als Mitglied der Tau-Affinität erfüllt sich für ihn ein Traum, ja lernt er mehr Liebe und Zusammenhalt kennen als in seiner eigenen Familie, die wiederum zu einem lästigen Anhängsel und schierem Ballast wird.

Für Adam läuft es anfangs prima. Genügend Menschen außerhalb der Affinitäten finden es allerdings verwerflich und ärgerlich, dass die von einem Persönlichkeitstest vernetzten Gruppen weltweit immer beliebter und einflussreicher werden, die Zusammenschließung von gleich tickenden Personen diesen allerhand persönliche, sexuelle und nicht zuletzt ökonomischen Vorteile verschafft. Die soziale Evolution, die einige zu eingeschworenen Clubmitgliedern und alle anderen zu Außenseitern degradiert, weckt zudem den Widerstand von etablierten religiösen und politischen Gruppen, die ihre Felle davonschwimmen sehen. Und während der aus Israel stammende Erfinder des Affinitätstest darum kämpft, dass sein Verfahren – sein Vermächtnis – allen Menschen zugänglich gemacht wird, werden Adam und seine Tau-Familie in einen regelrechten Krieg der Affinitäten gezogen, in dem Adams Prinzipien und seine wissenschaftlich belegte Loyalität auf eine harte Probe gestellt werden …

Als erfahrener, u. a. von Stephen King gepriesener Storyteller weiß Robert Charles Wilson, wie man eine spannende Geschichte effektiv erzählt, und genau das spürt man als Leser von „Netzwerk“ auf jeder der knapp 400 Seiten. Obwohl sich der Roman, der an den richtigen Stellen größere Zeitsprünge setzt und so die Entwicklungen in der Welt von Morgen voranschreiten lässt, knackig weg liest, behandelt Wilson im Subtext große Themen: Soziale Netzwerke, die aufgrund von digitalen Datensätzen und -Vergleichen Einfluss auf das wahre Leben nehmen. Das Gefühl der Verlorenheit und der Kampf um Zugehörigkeit. Familien und ihre Probleme. Die Freiheit aller Informationen. Lobbyismus. Science-Fiction-Fans können sich überdies an Wilsons naher Zukunft erfreuen: Derweil er im Vordergrund den Aufstieg, die Ära und den Krieg der Affinitäten beschreibt, spricht er im Hintergrund von Klimakatastrophen, Hunger, Bildtelefonen und einem drohenden Atom- bzw. Cyber-Krieg zwischen Indien und Pakistan, das von China unterstützt wird. Deshalb findet der Showdown von „Netzwerk“ auch unter geradezu endzeitlichen Voraussetzungen statt …

Dieser rasante, super erzählte Roman von Robert Charles Wilson ist ein richtig cooler, packender SF-Thriller, der Genre-Fans genauso schnell die Seiten umblättern lässt wie Mainstream-Leser – dass einem „Netzwerk“ gefällt, ist also gewiss keine Frage der literarischen Affinität.

Robert Charles Wilson: Netzwerk • Aus dem Englischen von Friedrich Mader • Heyne, München 2017 • 377 Seiten • E-Book: 8,99 Euro (im Shop)

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