21. August 2017 2 Likes

Zukunftsberuf Zeitkurier

Werden wir eines Tages wie Wesley Chus Romanheld James Griffin Mars durch die Zeit reisen?

Lesezeit: 6 min.

1895 veröffentlichte der britische Schriftsteller H. G. Wells seinen Roman Die Zeitmaschine und begründete damit eines der beliebtesten Themen in der Science-Fiction. Seitdem reisen Figuren nicht nur durchs All, sondern auch munter durch die Zeit – ob nun in die ferne Zukunft wie bei H.G. Wells oder in die ferne Vergangenheit wie die Historiker bei Connie Willis (im Shop) oder James Griffin-Mars, der Zeitkurier aus Wesley Chus gleichnamigem Roman (im Shop). Und nicht nur in der fantastischen Literatur taucht die Idee immer wieder auf, auch ernsthafte Wissenschaftler denken immer wieder darüber nach. Dabei hat sich die Grundeinstellung über die Jahre hinweg fundamental geändert, von der strikten Ablehnung der Möglichkeit von Zeitreisen hin zu der vorsichtig formulierten Annahme, dass sie zumindest auf dem Papier möglich sind (ein solches Papier trägt den Titel Traversable acausal retrograde domains in spacetime – bilden Sie ruhig das Akronym!). Werden unsere Nachfahren also eines Tages einfach in eine schicke Maschine steigen und je nach Lust und Laune durch die Zeit reisen? Wäre das nach allem, was wir bisher wissen, möglich?

Zehn Jahre nach Wells‘ Zeitmaschine stellte ein anderer Mann alles, was wir bisher über Raum und Zeit zu wissen glaubten, auf den Kopf. Vor Albert Einsteins spezieller Relativitätstheorie dachte man, dass Zeit eine Konstante sei, also dass eine Sekunde immer eine Sekunde ist, egal, ob auf der Erde oder auf dem Mars. Verteilte man Uhren über das komplette Universum, sie würden immer dieselbe Zeit anzeigen. Doch Einstein erklärte, dass die Zeit keine Konstante sei, sondern sich verändert, je nachdem, wie schnell man sich relativ zu einem Bezugspunkt durch den Raum bewegt. Dazu kommt, dass sich die Zeit umso mehr dehnt, je näher man einem massereichen (und damit sozusagen „gravitationsausübenden“) Objekt ist. Kurz: Unbewegte Uhren auf einem Planeten ticken schneller als Uhren in sich bewegenden Raumschiffen. Deswegen vergeht für den Astronauten aus dem berühmten Beispiel, der mit annähernd Lichtgeschwindigkeit reist, die Zeit viel langsamer als für seinen Zwillingsbruder auf der Erde. Diesen Effekt nennt man Zeitdilatation.

Vor Einstein hatte der Raum drei Dimensionen, Länge, Breite und Höhe, anhand derer man feststellen kann, an welchem Ort man sich befindet. Einstein fügte eine vierte Dimension hinzu, die Zeit, die die Richtung angibt, in die wir uns bewegen – nämlich voran. Die vierdimensionale Raumzeit erlaubt also nicht, dass wir an einen bestimmten Zeitpunkt zurückkehren, weil die Zeit sich vor uns ausbreitet wie ein Kegel, an dessen Spitze wir stehen. So gesehen sind Zeitreisen in die Zukunft für Einstein kein Problem – und es gibt sogar Menschen, die eine solche Reise bereits hinter sich haben. Die ersten waren 1971 die beiden Physiker Joseph Hafele und Richard Keating, die ostwärts einmal um die Welt flogen. Im Gepäck hatten sie vier Atomuhren, die sie nach ihrer Rückkehr mit einer Uhr im U.S. Naval Observatory in Washington verglichen. Die weltgereisten Uhren gingen nach – die Physiker waren in die Zukunft gereist, wenn auch nur für knapp 60 Nanosekunden. Den bisherigen Zeitreise-Rekord hält der Kosmonaut Sergei Konstantinowitsch Krikaljow, der insgesamt 803 Tage im Weltraum verbracht hat. Weil sich die Raumstation Mir, auf der Krikaljow Dienst tat, ähnlich wie die ISS mit rund 27.000 km/h um die Erde bewegt, ist er im Laufe seiner Dienstzeit um den 48. Teil einer Sekunde weniger gealtert als seine Mitmenschen auf der Erde – und damit eine achtundvierzigstel Sekunde in die Zukunft gereist.

Das ist nicht sonderlich viel, was vor allem daran liegt, dass sich selbst die Raumstationen relativ langsam bewegen. Je schneller man ist, desto langsamer vergeht nach Einsteins Gleichungen die Zeit. Für einen Astronauten, der mit knapp 300.000 Kilometern pro Sekunde – also annähernd Lichtgeschwindigkeit – zur 520 Lichtjahre entfernten Sonne Beteigeuze unterwegs wäre, vergingen während des Fluges gerade mal 10 Jahre, während für die Menschheit auf der Erde über 1.000 Jahre vorbei sind, bis er zurückkehrt. Wenn wir also ernsthaft in die Zukunft reisen wollen, müssen wir einen Zahn zulegen. Ob wir besonders schnell um ein Schwarzes Loch fliegen, dessen gewaltige Masse die Raumzeit krümmt, oder in Spiralen gigantische raumzeitverbiegende Kosmische Strings umrunden, ein weiteres Problem bleibt: Einstein zufolge hat jeder Körper, der sich so schnell bewegt, eine Länge von Null – was physikalisch unmöglich ist. Ganz ausgereift ist das Reisen in die Zukunft also noch nicht.

Was aber ist mit Reisen in die Vergangenheit, mit denen sich Wesley Chus Zeitkurier seinen Lebensunterhalt verdient? Albert Einstein gefiel diese Idee gar nicht, auch wegen der Paradoxa, die sich daraus ergeben. (Wenn Sie tiefer in diese Thematik eintauchen wollen, lesen Sie am besten Robert A. Heinleins Kurzroman Predestination (im Shop) – mehr Paradoxa gehen nicht!) Allerdings ließ Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie verschiedene Lösungen zu, von denen einige Reisen in die Vergangenheit erlaubten. Sehr zu Alberts Verdruss war es ausgerechnet sein Nachbar und enger Freund in Princeton, der brillante Mathematiker Kurt Gödel, der als erster eine solche Lösung fand (die er Einstein auch 1949 noch zum 70. Geburtstag präsentierte). Gödel postulierte ein rotierendes, geschlossenes, stationäres Universum, bei dem die Zentrifugalkraft die Gravitationskraft ausgleicht. Durch die rotierende Masse wird die Raumzeit allerdings so stark verkrümmt, dass sich sogenannte geschlossene zeitartige Schleifen bilden. Folgt man einer ausreichend großen Schleife mit einem schnellen Raumschiff, kommt man irgendwann nicht nur wieder an seinem Ausgangspunkt im Raum an, sondern auch zum oder sogar vor dem Zeitpunkt, an dem man abgeflogen ist.

Gödels Lösung gilt allerdings nur für Gödels Universum – ein Gedanke, der Einstein sehr beruhigte, denn bekanntlich rotiert unser Universum nicht, sondern dehnt sich aus. Wir können also nicht in Gödels Universum leben, demzufolge sind Zeitreisen unmöglich. Damit hat Einstein die Rechnung ohne den Wirt gemacht, denn seit Gödel wurden noch etliche andere Lösungen für seine Gleichungen gefunden, von denen einige Universen postulieren, in denen Zeitreisen möglich sind, die sich aber nicht ganz so stark von dem unsrigen unterscheiden. Einige schlagen die Existenz sogenannter Wurmlöcher vor, die Einsteins Gleichungen zulassen und die theoretisch die Eigenschaft haben, eine Art Tunnel durch die Raumzeit zu formen. Andere versuchen, die Quantenphysik mit Einsteins Gleichungen in Einklang zu bringen. Auf Quantenebene können Partikel mit Überlichtgeschwindigkeit interagieren, was Einstein zufolge unmöglich sein müsste. Die Antwort auf diese Frage könnte ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Zeitmaschine sein. Obendrein kann in der Quantenphysik ein Objekt gleichzeitig unterschiedliche Zustände haben – man denke an Professor Schrödingers berühmte Katze. Derselben Logik zufolge könnte man in der Zeit zurückreisen und beispielsweise das Attentat auf John F. Kennedy verhindert, würde dadurch aber ein Paralleluniversum erzeugen. „Unser“ JFK wäre immer noch tot – und gleichzeitig noch am Leben.

Sind Zeitreisen also doch möglich? Wenn ja, hätten wir dann nicht schon längst Besuch aus der Zukunft erhalten haben müssen? Alle, die sich mit dem Thema befassen, sind sich einig, dass man eine wie auch immer geartete Maschine bräuchte, um durch die Zeit zu reisen. Und die wiederum würde vermutlich eine gigantische Menge Energie verschlingen. Unsere Nachfahren müssten lernen, wie man sich die Energie der Sonne zunutze machen kann, wollten sie durch die Zeit reisen. Aber mal ehrlich, eine Zivilisation, die das kann, würde sich für uns Primitivlinge doch gar nicht interessieren. Es sei denn, ihr technisches Wissen geht eines Tages verloren, und sie bräuchten einen Zeitkurier, der in die Vergangenheit reist, um es zu bergen …

Wesley Chu: Zeitkurier • Roman • Aus dem Amerikanischen von Jürgen Langowski • Wilhelm Heyne Verlag München 2017 • Paperback • 496 Seiten • € 14,99 • im Shopzur Leseprobe

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