5. August 2019 1 Likes

Rammstein, Mozart, Currywurst

Zeitreisen sind nur auf eine einzige Art und Weise wirklich möglich

Lesezeit: 4 min.

Neulich trat bei uns im schönen Gelsenkirchen eine Jungensgitarrenkapelle auf, die mein Sohn gerne einmal leibhaftig auf der Bühne hören wollte. Sie gastierten in der Spielstätte des hier sonst vor vielen begeisterten Zuschauern antretenden Ballspielvereins Schalke 04, dessen Spieler sich auch „die Knappen“ nennen ‒ ob wegen der meist knappen Ergebnisse oder weil sie vor den Spielen noch unter Tage zu malochen hatten, man weiß es nicht.

Musik, die nicht aus dem Radio tönt, sondern eigens und frisch zubreitet wird wie in manchen feinen Restaurants das in Orangenlikör flambierte Crêpe Suzette, birgt ja ein gewisses Risiko: Man kann als Hörer nicht ohne Weiteres ab- oder umschalten oder bei zu leisen Stellen lauter machen. Mein Sohn meinte, darüber, dass die Musikgruppe – Rammstein nennt sie sich, wohl nach ihrem Geburtsort – allzu oft allzu leise spiele, habe sich noch niemand beschwert. Und das Schunkelrisiko? Das Schunkelrisiko liege im niedrigen einstelligen Bereich.

Es war ein regnerischer Dienstagmorgen; das Konzert sollte gegen zwanzig Uhr beginnen. Ob es denn noch Karten gebe? Ja sicher, Karten gebe es doch immer, direkt in der Verkaufsstelle am Stadion. Wir also kurz entschlossen hin und zwei Karten gekauft, das Stück 275 Euro, aus hochwertigem und recyclebarem Papier, darin enthalten ein Parkplatz im Parkhaus oder eine Fahrt mit der Straßenbahn, außerdem die Verpflegung vor Ort: Currywurst, Coc au vin (also: Hahn im Wein) und anderer Schmaus, Waffeln, Popcorn und Getränke.

Viel Volk tummelte sich, Saaltöchter ohne Zahl, raubeinige Fans, Familien, Großeltern mit ihren Enkeln, Holländer; einmal meinte ich, Wolfgang Amadeus Mozart zu sehen, der noch ein Schälchen Coc Nachschlag nahm und sich mokierte, warum es hier kein Wiener Schnitzel mit lauwarmem Kartoffelsalat gebe, aber nur aus Spaß. War das da drüben nicht Stürmerlegende Klaas-Jan Huntelaar in seinem blauen Trikot mit der Rückennummer 25? Und das in seiner schwarzen Kutte Armin Laschet? Paffte da Rudi Assauer nicht seine ewige Zigarre? Und da – Tim Mälzer oder Ingo Appelt (ich verwechsele die beiden immer)! Man stand und staunte.

Ein Konzert von Rammstein, erklärte mir mein Sohn, zieht eben Publikum aus aller Herren Länder an. Und wohl auch solche, die irgendwie aus der Zeit gefallen waren. Apropos Zeit: Es wurde Zeit. Wir nahmen unsere Plätze ein. Glückauf!

Hinter uns saß oder thronte ein wuchtiger Geselle, die Nackenpartie mit Eisernen Kreuzen bemalt, wie es Friedrich Wilhelm III. einst seiner verstorbenen Gemahlin Luise posthum verliehen hatte; saß also, vielleicht der Vorsitzende des örtlichen Königin-Luisenbundes, etwas verdrossen, vielleicht, weil er in der Kürze der Zeit nicht genug vom Hahn im Wein hatte kosten können, und etwas stieren Blickes, vielleicht, weil er vom Hahn im Wein immer nur den Wein geschlürft, diesen aber nicht auf feste Nahrung gebettet hatte. Ein im ganzen eher unsteter Mensch übrigens, den es immer wieder in den gastronomischen Bereich trieb, von wo er mit Gerstensaft üppig versorgt zurück in den Konzertsaal strebte.

Was nicht ganz ohne Weiteres geschah: Zwischen den Sitzplätzen (oben) und der Gastronomie (unten) hatte es nämlich Stufen, die, wenn man dem beweinten Hahn entsprechend zugesprochen hatte, nicht ganz ohne waren. Und so purzelte die bemalte Wucht in Leder denn auch mit großem Getöse, kantapper kantapper, die Treppe hinab, immerhin zu dem Lied „Deutschland“, das die Kapelle gerade zum Besten gab.

Überhaupt, die Musiker: Die sangen nicht nur „Hier kommt die Sonne“ („Fürchtet euch nicht!“) und andere Weisen, sondern flambierten ihre Lieder und sich selbst geradezu, brannten ein Feuerwerk ab, tönten und dröhnten wie ein Vulkan.

Ich weiß nicht mehr, wann ich bemerkte, dass Mozart neben mir Platz genommen hatte. Er hielt ein Pappschälchen mit der (hier übrigens ausgezeichneten) Currywurst in der Hand und hantierte souverän mit dem Gäbelchen aus Holz, mit dem er manchmal den Takt schlug.

Ich fasste mir ein Herz und sprach ihn an. „Und?“, fragte ich. „Wie is?“

„Lecker“, antwortete Mozart.

„Ich meinte das Konzert“, meinte ich.

„Ich auch“, sagte Mozart. Auf der Bühne lief eben „Mein Teil“, der Sänger sang in ruhigem Bass: „Heute treff‘ ich einen Herrn / Der hat mich zum Fressen gern / Weiche Teile und auch harte / Stehen auf der Speisekarte.“ Derweil wurde auf der Bühne unter einem überlebensgroßen Kessel Feuer gemacht.

„Is lecker“, wiederholte Mozart. „Schnörkellos. Brachial. Die Stimme des Sängers auf Wanderschaft: Bass, Bariton, manchmal hinauf in Tenor und Alt. So hätte Kollege Schubert geklungen, hätte er keine Brille getragen, der Schmuddel. Diese Mucke hat was, würde ich sagen.“

Ich nickte. „Mein Sohn hat mir das Konzert empfohlen“, sagte ich.

Mozart nickte. „Söhne sind gut“, sagte er. „Töchter auch. Überhaupt, Kinder. Die einzige Art von Zeitreisen, die wirklich möglich sind.“

Ich habe mir dann noch ein T-Shirt gekauft und eine Rammstein-Tasche. Die Rückfahrt mit der Elektrischen geschah ohne besondere Vorkommnisse.

Würde mich nun jemand fragen: Hat sich der Abend denn gelohnt, alles in allem? Ich würde sagen: Ja. Rammstein ist eine fantastische Live-Band. Die Currywurst war 1A. Und wann und wo hat man sonst die Gelegenheit, Männer wie Mozart oder Armin Laschet zu treffen, die ja in der Musikwelt einen gewissen Namen haben?

Aber mich fragt ja keiner.

 

Hartmut Kasper ist promovierter Germanist, proliferanter Fantast und seines Zeichens profilierter Kolumnist. Alle Kolumnen von Hartmut Kasper finden Sie hier.

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