8. September 2017 2 Likes

Sie sind gekommen, um unsere Kinder zu holen

Eine erste Leseprobe von Pierre Bordages neuem Roman „Die Sphären“

Lesezeit: 9 min.

„Es wäre ein Fehler, Pierre Bordage nicht zu lesen!“, sagte einst Andreas Eschbach über den französischen Bestsellerautor. Und recht hat er damit. Nachdem uns Pierre Bordage mit seiner „Krieger der Stille“-Trilogie (im Shop) noch in entfernte Galaxien entführte, stellt er nun mit seinem neuen Buch „Die Sphären“ (im Shop) seine Vielseitigkeit unter Beweis. Die Geschichte spielt im Westen Frankreichs, wo eines Tages eine riesige weiße Kugel auftaucht. Niemand weiß, woher sie kommt, oder was es mit dem rätselhaften Phänomen auf sich hat. Dann verschwindet ein dreijähriger Junge spurlos. Seine Mutter ist verzweifelt, denn die weiße Kugel scheint den Kleinen regelrecht „verschluckt“ zu haben. Doch das ist erst der Anfang: überall auf der Welt tauchen diese Kugeln auf, überall verschwinden Kinder …

Mit „Die Sphären“ hat Pierre Bordage einen innovativen und auch ziemlich unheimlichen Science-Fiction-Roman geschrieben, der einem beim Lesen das ein oder andere Mal eine gewaltige Gänsehaut beschert. Das Buch ist ab dem 11.09.2017 erhältlich, und für alle, die schon mal reinschnuppern möchten, gibt es hier eine erste Leseprobe.

 

LÉO

 

»Maman, was ist das?«

Léo stand auf einem Stuhl am Küchenfenster und zeigte mit dem Finger auf etwas Weißes, das gerade aus dem Morgennebel auftauchte. Élodie, noch nicht ganz wach, versteckte sich hinter ihren Haaren, die ihr vors Gesicht fielen, und rührte weiter in ihrem Kaffee, ohne auf die Frage ihres Sohnes einzugehen. Léo stellte jeden Tag unzählige Fragen, und sie hatte weder die Zeit, noch die Energie, sie alle zu beantworten.

»Komm da runter, bevor du dir noch wehtust.«

Léo stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte sein Gesicht an die Fensterscheibe. Sein Atem ließ sie beschlagen.

»Sieht aus wie der Hut eines Knollenblätterpilzes, aber dafür ist es zu groß.«

Mit seinen drei Jahren und fünf Monaten redete Léo ununterbrochen und verfügte über einen außergewöhnlich großen Wortschatz, als ob er sich von Worten ernähren würde. Sein ohrenbetäubendes Geplapper ärgerte die Erwachsenen, die zu Besuch kamen, und reduzierte die Zahl seiner Freunde. Er hatte nur Baptiste, den sechsjährigen autistischen Nachbarsjungen. Élodie hatte sich Sorgen gemacht, dass auch Léo am Asperger-Syndrom leiden könnte, aber die Untersuchungen beim Kinderpsychiater bestätigten nur eine »normale Frühreife«. Wahrscheinlich würde er eine spezielle Schule besuchen müssen.

Der Junge starrte seine Mutter solange an, bis sie den Blick hob und ihn auch ansah.

»Komm her, Maman, und sieh dir das an!«

Sein Befehlston klang alarmierend. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus, dann stand sie auf und ging zu Léo ans Fenster.

»Hatte ich dir nicht gesagt, du sollst von dem Stuhl heruntersteigen? Was hast du denn jetzt schon wieder gesehen?«

Ihr Blick wanderte in die Richtung, in die Léo zeigte. Nun sah auch sie das weiße Ding, das aus dem dichten Nebel emporragte: eine perfekte Kugel, die sie sofort an den bedrohlichen Ballon aus der alten Fernsehserie Nummer 6 denken ließ. Schaudernd legte sie die Hand auf die Schulter ihres Sohns und zog ihn an sich.

»Was ist das, Maman?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Wollen wir uns das Ding aus der Nähe ansehen?«

»Ich bin nicht sicher, ob das eine gute Idee ist …«

Léo riss sich von seiner Mutter los, sprang vom Stuhl und lief zur Tür, die einen Spalt offen stand, damit Pyjam, ein alter, streunender Kater mit schmutzigem Fell, in die Wohnung konnte.

»Komm zurück!«

Wie ein Wiesel schnellte Léo über die Steinterrasse, die den halben Garten einnahm. Hinter der kleinen Straße, die an Lorbeerhecken entlangführte, erstreckten sich brachliegende Wiesen, umgeben von einem Metallzaun. Nur wenige Autos kamen hier vorbei, und doch fürchtete Élodie ständig, dass eines von ihnen ihren Sohn überfahren könnte. Seit sie allen Männern abgeschworen hatte, galt ihre gesamte Liebe und Aufmerksamkeit allein Léo. Sie war sechsunddreißig und in den Augen ihrer Freunde und Ex-Liebhaber eine hübsche Frau, die auf ihre Figur und auf ein gepflegtes Äußeres achtete, sich aber hinter den Enttäuschungen, die sie erlebt hatte, versteckte.

»Léo, komm zurück!«

Sie zog den Gürtel ihres Morgenmantels fest, schlüpfte aus den Hausschuhen und rannte ihm hinterher, stolperte aber über die Türschwelle und fiel der Länge nach auf die Steine.

»Ich blöde Kuh!«

Sie ignorierte den Schmerz im rechten Fuß und im linken Knie, stand auf und folgte humpelnd Léos Spuren. Sie sah ihren Sohn durch das offene Gartentor rennen, das auf die Straße hinausging. Das Brummen eines Motors ließ ihre Angst blitzschnell ansteigen.

»Komm sofort hierher!«

Sie beschleunigte das Tempo und lief kurz nach ihrem Sohn durch das Gartentor. Auf der anderen Straßenseite zwängte sich Léo zwischen zwei Zaunpfosten hindurch. Ein weißes Auto raste die Hecke entlang und verschwand nur dreißig Meter weiter in einer Rechtskurve.

»Hast du gehört, was ich gesagt habe?«

Léo stapfte mit großen Schritten durch das feuchte Gras, genau auf die weiße Kugel zu. Élodie hatte den Eindruck, dass die Kugel auf einmal größer geworden war, als wäre sie von einem riesigen Gebläse im Inneren aufgebläht worden. Das Gefühl einer unmittelbar drohenden Gefahr wurde immer stärker. Sie überquerte die Straße. Ihre nackten Füße berührten den schlammigen Boden der Böschung. Sie verhedderte sich im Zaun. Sobald sie auf die Weide gelangt war, musste sie den Morgenmantel, unter dem sie vollkommen nackt war, wieder richtig schließen. Sie zitterte vor Kälte, Wut und Angst. Der Schmerz ihres aufgeschlagenen Knies fuhr ihr durch das ganze Bein.

»Komm sofort zurück, oder ich werde wirklich böse!«

Mit Léo schimpfen? Dazu war sie gar nicht fähig. Ein Blick von ihm, ein Lächeln, eine Grimasse genügte, und sie gab sich geschlagen. Der Kinderpsychiater hatte ihr empfohlen, entschieden und unerschütterlich ruhig im Umgang mit dem Kind zu sein, aber jedes Mal, wenn er sich weigerte, eine ihrer Anweisungen zu befolgen, hatte sie so starke Schuldgefühle, dass sie den Launen ihres Sohnes nachgab. Sie tat dann jedes Mal so, als würde sie den verärgerten Gesichtsausdruck und die zusammengekniffenen Lippen ihrer Freundinnen, die sehr genaue Vorstellungen von Erziehung hatten, nicht bemerken.

Léo war der weißen Kugel jetzt gefährlich nahe gekommen und verschwand einen Moment lang hinter Büschen und Felsen. Élodie unterdrückte das wachsende Gefühl der Angst gerade noch rechtzeitig, bevor es sich in Panik verwandelte. Die Morgenkälte schnitt ihr in die Fußsohlen, kroch ihre Schenkel hinauf und ließ ihren Unterleib gefühllos und steif werden. Sie würde zu spät ins Büro kommen. Sie musste noch duschen und sich anziehen, Léo anziehen, ihn mit dem Auto zur Tagesmutter bringen, sich dann in den dichten Verkehr der Umgehungsstraße einordnen, einen Platz auf dem Firmenparkplatz finden – sie würde nach 8 Uhr 30, dem lebensentscheidenden Zeitpunkt, eintreffen und müsste dem Abteilungsleiter, einem Typ mit Glatze, feuchten Händen und fiesem Blick, eine beschämende Erklärung liefern.

Verdammter Mist.

»Léo!«

Sie holte auf. Er drehte sich nicht um, lief weiter geradewegs auf sein Ziel zu. Die Kugel wurde immer größer, als würde sie sich ausdehnen, um dem Kind entgegenzukommen. Sie sah wie ein riesengroßer Luftballon aus. Die Oberfläche wies keine Unebenheit, keinen einzigen Riss auf. Die Kugel wich den Felsen und anderen Erhebungen, die vor ihr auftauchten, nicht aus; sie nahm sie schlicht und einfach in sich auf, als wären sie vollkommen gegenstandslos. Eine Baumgruppe mit rotbraunen Blättern verschwand aus Élodies Blickfeld.

Jetzt trennten sie nur noch zehn Meter von Léo. Sie streckte die Hand aus, um ihn am Arm zu packen. Ihre Angst verwandelte sich in Wut. Eine Riesenwut. Ein unbändige Lust ihn zu schlagen ergriff sie. Gerade als sie nach ihm greifen wollte, blieb ihr Fuß in einer Kuhle stecken. Sie verlor das Gleichgewicht und rollte über den nassen Boden. Im Fallen öffnete sich ihr Morgenmantel. Das feuchte, kalte Gras schlug ihr gegen den Bauch, den Hintern und den Rücken. Vor Zorn schrie sie laut auf. Das Gefühl, das sich etwas in ihrer unmittelbaren Nähe befand, brachte sie schnell wieder auf die Beine und sie schloss ihren Morgenmantel wieder. Als sie die gewölbte Außenwand der Kugel, die schon an die zwanzig Meter hoch war, ganz nah bei sich bemerkte, musste sie vor Entsetzen heftig schlucken.

»Léo?«

Sie suchte die Umgebung mit den Augen ab.

Keine Spur von ihrem Sohn.

Sie ging einige Schritte zurück, um die Umgebung besser überblicken zu können. Sie konnte ihn nirgends entdecken, weder im hohen Gras, noch zwischen den großen, runden, moosbedeckten Felsen. Sie unterdrückte einen ersten Panikanfall. Zweifellos war Léo auf die andere Seite der Kugel gelaufen. Sie beschloss, um das Ding herumzugehen, ohne sich ihm zu nähern. Die weiße Kugel auf der Weide strahlte etwas Unheilvolles aus, wie ein von Titanen zurückgelassener Ballon.

Das Herz blieb ihr beinahe stehen, als Élodie erkannte, dass ihr Sohn auch nicht auf der anderen Seite der Kugel war.

»Komm raus, mein Kleiner, ich sterbe fast vor Angst. Bitte …«

Tränen traten ihr in die Augen. Obwohl der Gedanke, der unvorstellbare Gedanke angesichts der Macht der Realität immer mehr zur Gewissheit wurde, suchte sie weiter die Wiese ab. Die eisige, feuchte Kälte an diesem Novembermorgen kümmerte sie nicht mehr, sie zog immer weitere Kreise und schrie Léos Namen. Als sie sich schweren Herzens eingestand, dass ihr Mutterinstinkt sie nicht getäuscht hatte, kehrte sie zu der Kugel zurück: Dieses schreckliche Ding hatte, ebenso wie Felsen und Bäume, ihren Sohn verschlungen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich zu Léo auf die andere Seite der weißen, glatten Wand zu begeben.

Élodie näherte sich der Kugel und wartete darauf, dass sie sich dehnte, um auch sie in sich aufzunehmen.

»Gib mir meinen Sohn zurück!«

Der Schrei kam mit der gewaltigen Kraft eines Geysirs aus ihrer Kehle. Die Kugel bewegte sich so wenig wie eine satte Schlange. Élodie überwand ihre Angst und legte beide Hände auf die Außenwand. Sie war überrascht, wie weich sie war. Schließlich drückte sie auch ihre Stirn an die glatte Fläche. Sie weinte jetzt stärker als zuvor, aber immer noch lautlos.

»Gib mir meinen Sohn zurück …«

Sie warf sich mit der Schulter gegen die Kugel, die etwas nachgab, wie eine Luftmatratze. Dann hieb sie mit den Fäusten auf die glatte Fläche ein, ohne das weiche Material auch nur im Geringsten zu beschädigen. Sie wollte das Ding wie einen Ballon zum Platzen bringen. Sie zögerte. Bis sie die Forke mit den vier Zinken geholt hatte, die sie zum Graben im Garten benutzte, wäre die Kugel vielleicht schon verschwunden. Sie bedauerte, dass sie nach dem Aufstehen nicht gleich ihr Smartphone in die Tasche des Morgenmantels gesteckt hatte. Eine ganze Weile blieb sie unentschlossen stehen, sie zitterte vor Kummer und Sorge, vor Schreck und Kälte. Dann erblickte sie im Gras einen dicken, toten Ast, knorrig und mit spitzen Zweigen. Sie hob ihn auf, holte weit aus und stach mit aller Kraft auf die runde Hülle ein. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihren Arm und ihre Schulter, als ob sich die ganze Kraft ihres Schlags gegen sie gewandt hätte. Sie entdeckte keinen einzigen Riss, nicht einmal einen Abdruck auf der weichen Oberfläche.

»Léo! Léo! Hörst du mich?«

Keine Antwort. Noch einmal suchte sie die Umgebung mit den Augen ab, in der Hoffnung, irgendwo ihren Sohn zu entdecken. Nichts bewegte sich, bis auf die Zweige und Grasstängel, die der kalte Nordwind niederdrückte. Ihr blieb keine andere Wahl, als nach Hause zu gehen und die Polizei zu rufen.

Sie starrte die Kugel herausfordernd an.

»Wenn du meinen Sohn verschlungen hast, wieso verschlingst du dann nicht auch mich?«

Als Antwort bekam sie nur Krähengeschrei.

 

Pierre Bordage: „Die Sphären“ ∙ Roman ∙ Aus dem Französischen von Carola Fischer ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München, 2017 ∙ 448 Seiten ∙ Preis des E-Books € 8,99 (im Shop)

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