13. November 2017 4 Likes

Wie Neandertal sind wir?

Die Suche nach dem Rätsel um die andere Menschen-Spezies beginnt in unserer eigenen DNA

Lesezeit: 4 min.

Die Neandertaler starben vor rund 30.000 Jahren aus und wir, Homo sapiens, blieben als einzige Menschenart übrig. Warum wir das Rennen machten und nicht sie, ist eines der größten Rätsel der Menschheitsgeschichte.

Die Neandertaler waren nicht unsere Vorfahren, sondern ein paralleler Zweig der menschlichen Evolution – eine andere Menschenart, eine Variante von uns. Sie und wir hatten gemeinsame Vorfahren, die vor etwa 600.000 Jahren in Afrika lebte. Ein paar dieser Vorfahren wanderten damals nach Europa aus und entwickelten sich während der Eiszeit zum muskelbepackten, hellhäutigen und glatthaarigen Homo neanderthalensis. Die in Afrika verbliebene Population jedoch wurde in dieser Zeit zu uns, Homo sapiens, einer zierlichen, dunkelhäutigen, kraushaarigen Art von Ur-Afrikanern. Vor rund 100.000 Jahren verließen unsere Vorfahren dann Afrika und trafen vor etwa 50.000 Jahren in Europa auf ihre vergessenen Vettern.

Was wohl in beiden Menschenarten vorgegangen sein muss, als sie nach einer halben Million Jahre getrennter Evolution schließlich das allererste Mal aufeinandertrafen? Hatten sie Angst? Waren sie neugierig aufeinander? Erkannten sie einander überhaupt als Ihresgleichen? Ein denkwürdiger Moment der Menschheitsgeschichte, für immer verloren in der Zeit.

Wenige Jahrtausende später sollten die Neandertaler aussterben. Haben wir sie verdrängt? Ihnen die Nahrung weggejagt? Haben wir sie selbst gejagt und ausgerottet?

Diese Fragen sind schwierig zu beantworten. Eines aber wissen wir: Unsere Vorfahren haben sich damals mit ihnen gekreuzt. Wir Europäer haben deswegen noch heute Neandertaler-Erbgut in uns. Wir alle sind die Nachkommen der Mischlinge von Homo sapiens und Neandertalern – wir alle sind ein bisschen Neandertaler. Was hat ihr genetisches Erbe mit uns gemacht? Waren ihre Gene vorteilhaft für uns eingewanderte Afrikaner in dieser neuen, fremden Welt Europa?

Jens Lubbadeh: NeanderthalDiese Fragen nehme ich in meinem Roman „Neanderthal“ (im Shop) auf und spiele ein Gedankenexperiment durch: Was wäre, wenn wir die Neandertaler zurückbringen würden?

Das klingt ungeheuerlich – aber der Gentechnik-Pionier George Church hat schon 2013 vorgschlagen, den Neandertaler zu klonen. Church ist kein Spinner, er ist Professor an der Harvard Medical School und dem MIT und hat sich seit vielen Jahren verdient gemacht auf verschiedenen Feldern der Erbgut-Forschung und der synthetischen Biologie.

Die notwendigen Voraussetzungen sind vorhanden: 2010 wurde das Erbgut des Neandertalers entziffert. 2012 wurde das neue Gentechnik-Werkzeug „Crispr“ entdeckt, das Manipulationen in der DNA sehr einfach macht. Es wäre theoretisch schon jetzt möglich, den Neandertaler zu klonen, wenngleich es ethisch hoch umstritten wäre.

Einer anderen Menschenart gegenüberzustehen wäre faszinierend, und zwar aus mehrerlei Gründen: 500.000 Jahre getrennte Evolution haben bedeutsame körperliche Unterschiede zwischen ihnen und uns hervorgebracht. Aber auch ihr Gehirn war größer als unseres. Das heißt nicht, dass sie unbedingt schlauer waren, das größere Gehirn könnte einfach ein Resultat ihres massigeren Körperbaus gewesen sein. Möglich ist auch, dass es im Aufbau Unterschiede aufwies, was Auswirkungen auf ihr Denken und ihr Verhalten gehabt haben könnte. Sahen die Neandertaler die Welt vielleicht ganz anders als wir? Waren sie womöglich die weniger aggressive, die bessere Menschenversion – und sind uns deshalb zum Opfer gefallen?

All diese spannenden Fragen spiele ich in „Neanderthal“ durch. Wie würde unsere Gesellschaft wohl mit lebenden Neandertalern umgehen? Auf dem Planeten Erde lebt nur noch eine einzige Menschenart. Dennoch fühlen wir uns nicht global verbunden, Rassismus und Fremdenangst stecken tief in uns und haben letztlich der AfD und anderen extremen Parteien in Europa zu ihrem Aufstieg verholfen. Welche Ironie! Wir, die einstmals selbst aus Afrika nach Europa einwanderten, sind es nun, die sich vor Menschen aus Afrika fürchten. Haben sich die Neandertaler damals auch vor uns gefürchtet?

Ja, pessimistisch betrachtet stünde zu befürchten, dass sich Geschichte wiederholen könnte. Wenn es uns schon so schwerfällt, unsere eigenen Artgenossen respektvoll und gleichberechtigt zu behandeln – wie schwer würden wir uns mit ihnen tun. Aber eine andere Menschenart wäre auch eine Bereicherung. Endlich wäre da jemand, mit dem wir reden könnten! Eine ebenbürtige Intelligenz, ein ebenbürtiges Bewusstsein mit einer womöglich anderen Sichtweise auf die Welt und auf sich selbst. Die Neandertaler würden uns zwingen, auch uns selbst neu zu sehen. Wir würden direkt mit der unangenehmen Wahrheit konfrontiert, dass es nicht nur eine einzige „Krone der Schöpfung“ gegeben hat. Dass wir nicht so einmalig sind, wie wir glauben. Dass wir vielleicht einfach nur Glück hatten, dass wir überlebt haben und sie nicht. Eine weitere Menschenversion würde die Relationen zurechtrücken, eine dringend notwendige Korrektur angesichts der Hybris, die unsere Art an den Tag gelegt hat und noch immer legt. Womöglich würde uns das wieder mehr Demut lehren – auch unseren Mitlebewesen gegenüber, den Tieren.

Und vielleicht würden wir uns wieder mit ihnen kreuzen. Wer weiß, was das mit der Menschheit machen würde. Eine Antwort darauf habe ich in „Neanderthal“ gefunden.
 

Jens Lubbadeh ist freier Journalist und Romanautor. Er hat bereits für Die Zeit, NZZ, Bild der Wissenschaft, Technology ReviewSpiegel Online und viele weitere Print- und Digitalmedien geschrieben und wurde mit dem Herbert Quandt Medien-Preis ausgezeichnet. Sein packender Science-Thriller „Neanderthal“ erzählt vom größten Rätsel der Menschheitsgeschichte – und von unserer Zukunft.

Jens Lubbadeh: Neanderthal ∙ Roman ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2017 ∙ 528 Seiten ∙ Preis des E-Books € 11,99 (im Shop)

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