10. April 2018

Überwinden Motten das Raum-Zeit-Kontinuum?

Wie immer eine Klasse für sich: Eugen Egners „Die wahren Zusammenhänge“

Lesezeit: 3 min.

Beobachten verkleidete Außerirdische die Menschheit? Welche Rolle spielt angsterweckendes Gras beim Besuch entlegener Inseln? Ist es möglich, dass ein Seelenteil „verderben“ kann, weil sich dort ein Parasit eingenistet hat? Fragen wie diese beschäftigen Eugen Egner in seinem aktuellen Erzählungsband „Die wahren Zusammenhänge“, der ihn erneut als Großmeister der grotesk-literarischen Phantastik bestätigt.

Eugen Egner: Die wahren ZusammenhängeIn „Neue Wege der Tonaufzeichnung“ beschreibt Egner, wie der Erzähler ein neogotisches Tonstudio betritt und dort seinen eigenen Leichnam sieht, der unter einem mannshohen Glassturz aufbewahrt wird. Seiner revolutionären Idee, Mikrofone durch Glühbirnen zu ersetzen, ist jedoch kein Erfolg beschieden. „Das Problem“ handelt vom Verschwinden eines Mottenspezialisten, der felsenfest davon überzeugt ist, dass die Tiere das Raum-Zeit-Kontinuum überwinden und daher beispielsweise aus geschlossenen Glasbehältern entfliehen können. Doch nun ist der Mann selber seit zwei Jahren unauffindbar, während sich in regelmäßigen Abständen verkleinerte Versionen von ihm in seiner Wohnung materialisieren – deutlich gealtert und nicht überlebensfähig, aber eindeutig identifizierbar. Ein verarmter Dichter erfährt in „Hilfe kommt“, dass sein Großvater einen Verlag besaß, den nun er leiten soll. Die Geschäftsführerin trägt ihm jedoch auf, ein seltsames Objekt – es hatte „ungefähr die Maße eines dicken Taschenbuchs, war aber weicher und fühlte sich warm an“ – über die Straße zu tragen; dabei wird er von borstigen Kreaturen behindert, die sehr dunkel, aber stellenweise mit gelbem Puder beschichtet sind. Ein kleines Mädchen hilft ihm, wobei der Dichter rasch davon überzeugt ist, „dass der Stock seiner Begleiterin einen Weg durch jede Art von Weltuntergang bahnen konnte“.

Weltuntergänge sind das, was bei Egner permanent stattfindet – nur nicht in der Gestalt handelsüblicher Apokalypsen, sondern reduziert auf das Umfeld der jeweiligen Hauptfigur, was die Vorgänge kaum weniger bedrohlich erscheinen lässt. Die Charaktere sind hochgradig unbehaust, und zwar auch dann, wenn es ihnen materiell gut geht; ständig müssen sie damit rechnen, dass ihnen der sprichwörtliche Boden der Realität unter den Füßen weggezogen wird. Das kann sicheres Terrain betreffen, wenn der Erzähler im Keller seines Einfamilienhauses auf einen seriös wirkenden Mann trifft, der eine überaus seltsame Modelleisenbahnanlage betreibt („Das irre Lachen in den Häuschen“), oder den ohnehin als instabil beschriebenen Bereich des Reisens, wenn plötzlich die Zugschienen verschwunden sind und der Eindruck entsteht, der Komponist Johannes Brahms habe es auf die Hauptfigur abgesehen („Der Außenposten“). Dazu kommt das Gefühl sozialer Isolation: In „Vielleicht leben deine Eltern in einem anderen Stadtteil weiter“ erhält der Erzähler zwar den titelgebenden Hinweis, als er sich auf die Suche nach seinen toten Erzeugern macht; doch als diese mutmaßlich auftauchen, „stellte sich wieder das alte Unbehagen ein und der übermäßige Wunsch, fortzulaufen“. Nähe und Kontakt scheitern ebenso wie bei den Versuchen der beinahe durchgehend männlichen Figuren, mit dem anderen Geschlecht anzubändeln. In „Katharina“ gelingt es Lothar zwar, eine leicht desorientiert wirkende Frau nach einem Autounfall zu sich nach Hause zu nehmen, doch wenige Tage später werden von ihm nur „verweste menschliche Überreste gefunden, die aussahen, als seien sie vom Mahl eines großen Raubtiers übriggeblieben“. Was Egner fortwährend unternimmt, ist eine Art Neubewertung der Verhältnisse, bei der sich die Unsicherheit als einzige Konstante herausstellt.

Der 1951 geborene Schriftsteller, Zeichner und Musiker Eugen Egner arbeitet seit Jahrzehnten an einem unverwechselbaren künstlerischen Werk, das sich gekonnt zwischen allen Stühlen platziert hat: Für „ernsthafte“ Literatur zu entlegen und zu exzentrisch, für den Genrebereich zu verwirrend und abseits vertrauter Handlungsmuster. „Die wahren Zusammenhänge“ bildet hier keine Ausnahme: Die zumeist sehr knappen und motivisch miteinander verzahnten Kurzgeschichten enthalten durchaus Science-Fiction-Elemente, lassen sich jedoch nur bedingt unter dieser Rubrik zusammenfassen; für Horror hingegen ist Egner zu skurril – immer dann, wenn sich ein ernsthafter Schreckensmoment aufbaut, wird dieser garantiert durch eine brillante Absurdität unterlaufen. Entsprechend haben sich sein Sprachstil, sein Wortwitz und sein Sinn für groteske Themen längst als eigenständige Marke etabliert.

Egner-Fans besitzen den neuen Band natürlich schon. Wer noch nicht mit dem Autor vertraut ist, findet in „Die wahren Zusammenhänge“ eine vorzügliche Einladung, um mit seinem Werk bekannt zu werden – und sich danach in aller Ruhe auf Egners Gesamtwerk einzulassen.

Eugen Egner: Die wahren Zusammenhänge • Phantastische Erzählungen • Edition Phantasia, Bellheim 2018 • € 22,-

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