14. Juni 2018 1 Likes

Wie weit würdest du für eine bessere Welt gehen?

Eine erste Leseprobe aus Cory Doctorows brandneuem Meisterwerk „Walkaway“

Lesezeit: 25 min.

Schön ist die Welt, in der Hubert, Seth und Natalie leben nun wirklich nicht. Der Planet ist vom Klimawandel gezeichnet, die Ultra-Reichen regieren die Gesellschaft, während sich die Städte in Gefängnisse für den normalen Bürger verwandelt haben. Doch warum in einem System verharren, das die Freiheit des Einzelnen beschränkt? Hubert, Seth und Natalie beschließen, einfach zu gehen … in eine möglicherweise bessere Zukunft. In „Walkaway“ (im Shop) schickt Cory Doctorow seine Helden nicht nur in ein hochspannendes Abenteuer, er hat damit auch eine ebenso faszinierende wie brandaktuelle Zukunftswelt erschaffen. Damit Sie sich ein erstes Bild machen können, gibt es hier eine kleine Kostprobe.

 

Hubert Vernon Rudolph Clayton Irving Wilson Alva Anton Jeff Harley Timothy Curtis Cleveland Cecil Ollie Edmund Eli Wiley Marvin Ellis Espinoza war zu alt, um auf einer kommunistischen Party zu sein. Mit seinen siebenundzwanzig Jahren war er sieben Jahre älter als der nächstjüngere Gast. Er spürte die demografische Kluft. Nur zu gern hätte er sich hinter einer der riesigen schmutzigen Maschinen versteckt, die in der verfallenen Fabrik herumstanden. Nur zu gern wäre er den unverhohlen neugierigen Blicken der schönen Kinder in allen Schattierungen und Größen entgangen, die nicht verstehen konnten, warum sich hier ein alter Mann herumtrieb.

»Lass uns hier verschwinden«, sagte er zu Seth, der ihn zu der Party geschleppt hatte. Seth hatte Angst, dem demografischen Reich der schönen Kinder zu entwachsen und in die Welt der Nichtarbeiter einzutreten. Er besaß einen untrüglichen Instinkt dafür, die extravagantesten, abgefahrensten, unbotmäßigsten Veranstaltungen der Kinder zu finden, die allmählich im Rückspiegel entschwanden. Hubert Etcetera Espinoza trieb sich nur mit Seth herum, weil er die eigene Kindheit ebenso wenig loslassen konnte wie die Freunde der Kindheit. Wenn Seth auf etwas bestand, ließ sich Hubert Etcetera leicht umstimmen.

»Gleich geht es zur Sache«, verkündete Seth. »Kannst du uns nicht ein paar Bier holen?«

Genau das wollte Hubert Etcetera auf gar keinen Fall tun. Am Bierstand drängten sich die unbekümmerten Jugendlichen, tummelten sich fröhlich und bizarr wie Tropenfische. Einer war elfenhafter und tragischer als der andere. Hubert Etcetera erinnerte sich an dieses Alter und an die Gewissheit, dass nur ein Idiot auf die Idee kommen konnte, die kaputte Welt und ihre Sachzwänge als gegeben hinzunehmen. Oft stellte er sich seinem Spiegelbild auf dem Screen im Bad, starrte sich in die Augen, die in einem Nest von Runzeln saßen, und erinnerte sich daran, dass er einmal ein Mensch gewesen war, der jede Minute damit verbracht hatte, die Legitimität der Welt zu bestreiten, in die er jetzt verstrickt war. Hubert Etcetera konnte sich nicht einreden, dieses Wissen existiere nicht. Jeder, der unter zwanzig war, konnte es auf der Stelle bemerken.

»Nun mach schon, Mann, geh. Ich habe dich auf die Party mitgenommen, und das ist das Mindeste, was du tun kannst.« Hubert Etcetera schenkte sich die naheliegende Antwort, dass er sowieso nicht hatte mitkommen wollen und außerdem kein Bier mochte. Ein Streit mit Seth führte leicht in alle möglichen witzlosen Sackgassen. Der hatte sein Peter-Pan-Gesicht aufgesetzt und war bereit, laut zu lachen und bis zur völligen Erschöpfung nichts und niemand auf der Welt ernst zu nehmen, während Hubert Etcetera schon vor Beginn des Abends müde gewesen war.

»Ich habe kein Geld«, erklärte Hubert Etcetera.

Seth sah ihn von der Seite an.

»Oh, richtig«, fuhr Hubert Etcetera fort. »Kommunistenparty, was?«

Seth gab ihm zwei rote Partybecher. Die Farbe war sicher kein Zufall.

Als Hubert Etcetera zu den Zapfhähnen ging – sie waren an einen Stahlträger gedengelt, der vom Boden bis zum Dachfirst reichte, mit gelben Sicherheits-Strichcodes beklebt, voller Korrosionsflecken und von den flackernden Lichtern des DJs beleuchtet –, überlegte er, welches der schönen Kinder der Barkeeper, das Faktotum oder der Kommissar war. Niemand rührte sich, um ihm zu helfen, und niemand versperrte ihm den Weg, als er sich näher heranschob. Drei Kinder hielten allerdings inne und beobachteten ihn aufmerksam.

Alle drei trugen Marx-Brothers-Brillen sowie die zugehörigen großen, buschigen Bärte wie in den Vocoder-Videos und strahlten eine surreale Drohung aus. Die Bärte waren bunt gefärbt, in einem steckte noch etwas anderes – ein Modellierdraht? –, der ihn bewegte wie Tentakel.

Hubert Etcetera füllte unbeholfen einen Becher, den das Mädchen hielt, während er das Bier in den zweiten laufen ließ. Das Bier war selbstleuchtend oder biolumineszent. Hubert Etcetera fragte sich besorgt, was wohl in den transgenen Jesusmikroben stecken mochte, die fähig waren, Wasser in Bier zu verwandeln. Das Mädchen beobachtete ihn durch die Brille, im flackernden Discolicht war ihr Augenausdruck nicht zu erkennen. Er trank einen Schluck.

»Nicht übel.« Er rülpste, gleich darauf noch einmal. »Aber etwas viel Kohlensäure.«

»Das liegt an der schnellen Reaktion. Vor einer Stunde war es noch Gullywasser. Wir haben es gefiltert, auf Raumtemperatur gebracht und die Kultur darauf losgelassen. Übrigens lebt es auch. Kippe einen Präkursor rein, und es legt los. Es überlebt sogar im Urin. Wenn du noch mehr Bier machen willst, musst du einfach etwas davon aufheben.«

»Kommunistenbier?«, fragte Hubert Etcetera. Das beste Bonmot, das ihm in dieser Situation einfallen wollte. Wenn er Zeit zum Nachdenken hatte, war er besser.

»Na sdorowje.« Sie stieß mit ihm an und trank aus, danach brach ein markerschütterndes Rülpsen aus ihr hervor. Sie pochte sich auf das Brustbein und ließ noch einige kleinere Rülpser folgen. Anschließend schenkte sie sich nach.

»Wenn es noch in der Pisse ist«, überlegte Hubert Etcetera, »was passiert dann, wenn jemand den Präkursor in die Kanalisation kippt? Wird das ganze Abwasser dann auch zu Bier?«

Voll jugendlicher Verachtung sah sie ihn an. »Das wäre dumm. Sobald es verdünnt ist, kann es den Präkursor nicht mehr verstoffwechseln. Wenn du auf dem Klo abziehst, ist es einfach nur Pisse. Die Viecher sterben nach ein oder zwei Stunden, damit sich die Latrine nicht in ein Reservoir langlebiger existenzieller Bedrohungen für die Wasserversorgung verwandelt. Es ist doch bloß Bier.« Sie rülpste. »Bier mit viel Kohlensäure.«

Hubert Etcetera nippte daran. Es schmeckte ziemlich gut, überhaupt nicht nach Pisse. »Dann ist das Bier sozusagen nur geliehen, was?«

»Das meiste Bier schon. Das hier ist frei. Du weißt schon: frei wie in ›kostenloses Bier‹.« Sie trank den halben Becher aus, ein Teil landete im Bart und perlte auf die zerknitterten Flüchtlingssachen hinunter. »Du bist nicht oft auf Kommunistenpartys.«

Hubert Etcetera zuckte mit den Achseln. »Nein«, gab er zu. »Ich bin alt und langweilig. Vor acht Jahren haben wir so was noch nicht gemacht.«

»Was hast du denn gemacht, Opa?« Es war nicht böse gemeint, aber ihre beiden Freunde – ein Mädchen von der gleichen Hautfarbe wie Seth und ein Typ mit schönen Katzenaugen – kicherten.

»Wir hoffen, einen Job auf den Zeppelinen zu bekommen!« Seth schlang einen Arm um Hubert Etceteras Hals. »Ich bin übrigens Seth, und das ist Hubert Etcetera.«

»Etcetera?« Das Mädchen lächelte leicht. Hubert Etcetera mochte sie. Wahrscheinlich war sie ja im Grunde ganz nett und hielt ihn nicht unbedingt für einen Deppen, nur weil er ein paar Jahre älter war und noch nichts von ihrem bevorzugten synthetischen Bier gehört hatte. Natürlich beruhte diese Einschätzung einerseits auf der Theorie, die meisten Menschen seien im Grunde gut, andererseits aber auch auf einer schrecklichen, bedrückenden Einsamkeit und ganz allgemein auf einer unspezifischen Geilheit. Hubert Etcetera war klug, was die Sache nicht immer leichter machte, und er hatte seine Psyche einigermaßen im Griff, was es ihm schwermachte, sich in die Tasche zu lügen.

»Erzähle es ihr, Mann«, forderte Seth ihn auf. »Mach schon, es ist eine super Geschichte.«

»So großartig ist sie gar nicht«, wehrte Hubert Etcetera ab. »Meine Eltern haben mir viele Mittelnamen gegeben. Das ist alles.«

»Wie viele sind ›viele‹?«

»Zwanzig«, sagte er. »Die beliebtesten zwanzig Namen laut Volkszählung von 1890.«

»Dann sind es nur neunzehn«, antwortete sie sofort. »Und dazu ein richtiger Vorname.«

Seth lachte, als wäre es das Witzigste, was er seit langer Zeit gehört hatte. Sogar Hubert Etcetera musste lächeln. »Die meisten Menschen begreifen das nicht. Genau genommen habe ich tatsächlich neunzehn Mittelnamen und einen Vornamen.«

»Warum haben dir deine Eltern neunzehn Mittelnamen und einen Vornamen gegeben?«, fragte sie. »Bist du überhaupt sicher, dass es neunzehn Mittelnamen sind? Vielleicht hast du zehn Vornamen und zehn Mittelnamen.«

»Ich glaube, man kann nicht wirklich behaupten, man hätte mehr als einen Vornamen, weil der Vorname eine Besonderheit darstellt, die den Mittelnamen fehlt. Ungeachtet natürlich der Mary Anns und Jean Marcs und so weiter, die normalerweise aber mit Bindestrichen geschrieben werden.«

»Guter Einwand«, räumte sie ein. »Doch wenn Mary Ann ein Vorname ist, warum ist dann nicht Mary Ann Tanya Jessie Hastdunichtgesehn Affenkotze und so weiter auch ein Vorname?«

»Meine Eltern würden dir zustimmen. Sie wollten mit den Namen eine klare Stellungnahme abgeben, nachdem Anonymous den Realnamenzwang eingeführt hatte. Sie waren beide Aktivisten, wollten eine politische Partei gründen und waren ausgesprochen sauer. Sie dachten, wenn man ›Anonymous‹ ist, kann man keinen Realnamenzwang einführen, und beschlossen, ihrem Sohn einen einzigartigen Namen zu geben, der nie in irgendeine Datenbank passt, sodass er automatisch das Recht bekommt, eine ganze Reihe von Namenskombinationen zu benutzen. Bis ich das verstanden hatte, war ich allerdings schon so an ›Hubert‹ gewöhnt, dass ich dabei geblieben bin.«

Seth nahm Hubert den Becher ab, trank daraus und rülpste. »Ich nenne dich aber schon immer Hubert Etcetera. Das ist cool und einfacher auszusprechen.«

»Das stört mich nicht.«

»Nun mach schon, ja?«

»Was denn?« Hubert Etcetera kannte die Antwort bereits.

»Sag die Namen. Das muss man gehört haben.«

»Du musst nicht, wenn du nicht willst«, sprang sie ihm bei.

»Irgendwie muss ich wohl doch, weil du dir sonst ewig Gedanken machst.« Er hatte sich damit abgefunden. So war es eben, wenn man erwachsen wurde. »Hubert Vernon Rudolph Clayton Irving Wilson Alva Anton Jeff Harley Timothy Curtis Cleveland Cecil Ollie Edmund Eli Wiley Marvin Ellis Espinoza.«

Sie legte den Kopf schief und nickte. »Ziemlich abartig.«

»Damit haben sie dich in der Schule sicher oft aufgezogen, oder?«, meinte Seth.

Jetzt wurde Hubert Etcetera wütend. Es war dumm, und es war eine wiederkehrende Dummheit. »Das ist nicht dein Ernst, oder? Glaubst du wirklich, Kinder werden wegen ihrer Namen aufgezogen? Der Kausalzusammenhang weist in eine andere Richtung. Wenn sich die Kinder über deinen Namen lustig machen, dann nur, weil du unbeliebt bist – aber du bist nicht wegen deines Namens unbeliebt. Wenn der coolste Junge auf der Schule ›Harry Sackträger‹ heißt, nennen sie ihn Harold. Wenn die Schulzicke ›Lisa Brown‹ heißt, nennen sie sie ›Kackfleck‹.« Beinahe hätte er hinzugefügt: »Also ehrlich, sei kein Arsch.« Er schenkte es sich. Er legte Wert darauf, ein Erwachsener zu sein. Seth scherte sich sowieso nicht um die Gefahr, er könne als Arschloch gelten.

»Wie heißt du denn?«, fragte Seth das Mädchen.

»Lisa Brown«, antwortete sie. Hubert Etcetera kicherte.

»Ehrlich?«

»Nein.«

Er wartete, ob sie doch noch ihren Namen nannte, zuckte schließlich mit den Achseln. »Ich bin Seth.« Dann ging er zu ihren Freunden, die etwas näher gekommen waren. Einer von ihnen schüttelte ihm artig und mit absolut schmerzfreier Begeisterung die Hand. Hubert Etcetera beneidete ihn darum und wurde gleichzeitig verlegen.

Die Tanzmusik wurde lauter. Seth füllte Hubert Etceteras Becher nach und nahm ihn mit zur Tanzfläche. Nun war Hubert der Einzige, der keinen Becher hatte. Das Mädchen füllte ihren eigenen auf und reichte ihm das Bier.

»Guter Stoff«, rief sie. Ihr Atem kitzelte seine Wange. Die Musik war jetzt wirklich laut, es war ein automatisierter DJ- Mix, der mithilfe von Lidar und Wärmebilderkennung die Reaktionen der Gäste erfasste und die Mischung optimierte, damit möglichst alle zur Tanzfläche strömten. Das hatte es schon gegeben, als Hubert Etcetera noch jung genug gewesen war, um tanzen zu gehen. Sie hatten das Programm für die Mischung »Rule 34« genannt, aber damals war nur Kitsch herausgekommen. Heute war es äußerst angesagt.

»Ziemlich hopfig.«

»Der Geschmack leidet unter den Enzymen. Das Zeug hilft allerdings dem Körper, das Bier zu zerlegen, und verhindert, dass es sich im Blut in Formaldehyd verwandelt. Hilft auch gegen den Kater. Es ist etwas Türkisches.«

»Türkisch?«

»Na ja, mehr oder weniger. Es stammt von Flüchtlingen in Syrien. Sie haben da ein Labor. Es heißt ›Gezi‹. Falls du Interesse hast, kann ich dir etwas dazu schicken.«

Wollte sie ihn anmachen? Vor acht Jahren wäre das eine Einladung gewesen, jemandem die Kontaktdaten zu geben. Vielleicht ging man heute lockerer mit den persönlichen Daten und nicht ganz so locker mit sexuellen Kontakten um. Hubert Etcetera wünschte, er hätte eine Zusammenfassung über die Soziologie der Zwanzigjährigen gelesen. Er rieb über den Interfacestreifen am Ringfinger und murmelte: »Kontaktdaten.« Dann streckte er die Hand aus. Ihre Hand war warm, rau und klein. Sie berührte einen Streifen, den sie als Choker trug, und flüsterte etwas, worauf sein System als Bestätigung ein Summen von sich gab. Anschließend summte es noch zweimal, weil sie entsprechend geantwortet hatte.

»Dann setze mich auf die Whitelist.«

Hubert Etcetera fragte sich, ob sie viel Ärger mit Spam hatte, da sie derart freigebig mit ihren Kontaktdaten umging, oder …

»Du warst noch nie auf so einer Party«, sagte sie. Ihr Gesicht war dicht neben seinem Ohr.

»Nein«, rief er. Ihre Haare rochen nach verbrannten Reifen und Lakritz.

»Komm mit, das wird dir gefallen. Lass uns nach vorne gehen, es wird bald beginnen.«

Sie fasste noch einmal seine Hand, und als ihre Schwielen über seine Haut schürften, spürte er ein weiteres Summen. Es war endogen und hatte nichts mit seinem Interface zu tun.

 

Sie gingen um die Tänzer herum, wirbelten beim Gehen Blätter und Staubflocken hoch, die in den Lichtern tanzten. Glitzernde Teilchen, die den Eindruck erweckten, jemand hätte Feenstaub in die Luft gesprüht. Hubert Etcetera warf Seth einen kurzen Blick zu. Seth erwiderte den Blick und begriff sofort, was im Gange war – das Mädchen, die Hände, das Drängeln durch dunkle Ecken, um einen abgeschiedenen Ort zu erreichen –, und schien vorübergehend neidisch, bevor er lüstern grinste und die Daumen hob. Die automatisch erzeugte Musik wummerte. Cantopop und Rumba, erzeugt und ausgeworfen von Rule 34 beim willkürlich-gezielten Streifzug durch die Musikgeschichte.

»Hier ist es gut«, sagte sie und zog ihn zu einem Laufsteg. Die schmierige alte Leiter hinterließ Roststreifen auf Hubert Etceteras Handflächen. Trotz der lauten Musik konnten sie sich verständigen. Hubert Etcetera atmete schneller, sein Puls raste.

»Behalte das da im Auge.« Sie zeigte auf eine Maschine auf der anderen Seite. Hubert Etcetera kniff die Augen zusammen und sah ihre Freunde, die sich dort in der Nähe bewegten. »Sie machen Möbel, überwiegend Regale. Im Lager war haufenweise Rohmaterial.«

»Hast du geholfen, das hier zu organisieren?« Er machte eine ausholende Geste, die die ganze Fabrik und die Tänzer einschloss.

Sie legte einen Finger an die Gumminase und zwinkerte langsam. »Der Oberste Sowjet«, sagte sie. Dann tippte sie seitlich an die Brille. Er sah ein leichtes Flimmern, als die Vergrößerung mit Falschfarben und die Stabilisierung aktiviert wurden. »Die verstehen was davon.« Mitten im Takt brach die Musik ab.

Ein Grollen im Gerippe der Fabrik ließ den Laufsteg beben. Die Tänzer sahen sich nach der Quelle um, dann lief die zunehmende Aufmerksamkeit wie eine Woge durch die Menge, als ein Blick dem anderen folgte und alle sich auf die Maschine konzentrierten, die sich rührte und den Staub abschüttelte. Die Discostrahler erfassten sie und die Staubflocken. Ein neuer Geruch breitete sich aus, ein Geruch nach Holz und voll gefährlicher flüchtiger Stoffe, die aus den Tiefen der Maschine herauskochten, während sie zum Leben erwachte. Das Schweigen in dem Raum brach, als die erste Verbundplatte auf die Fertigungsebene fiel. Tausende winzige mechanische Finger korrigierten die Lage, bevor die nächste Platte herabfiel. In regelmäßigen Abständen folgten weitere, ein ganzer Stapel dünner, kräftiger Pressspanbretter, denen bald darauf Querstreben folgten, die ebenfalls in Position gebracht wurden. Klickend rasteten die vorgefertigten Verbindungselemente ein. Die Finger hoben den Rahmen, schoben ihn auf dem Fließband weiter, und gleich danach wurde das nächste Stück ebenso schnell zusammengefügt. Dann wurden die größeren Teile miteinander verbunden.

Weitere Elemente kamen zum Vorschein, anschließend wurde eine Schlinge aus Stoff ausgeworfen, aufgefangen und um den Rahmen gelegt. Das fertige Stück wurde schließlich zur Seite geschoben. Eine Minute später war schon das nächste bereit. Eine Tänzerin schlenderte zum ausgegebenen Stapel, hob mühelos das fertiggestellte Bauteil hoch und trug es mit einer Hand zur Tanzfläche. Mit einem Messer, das im Licht der Spots schimmerte, löste sie die Verzurrung. Das Bett – denn genau das war es – klappte selbsttätig auf und war bereit, die Matratze aufzunehmen. Die Tänzerin stieg auf den Lattenrost und hüpfte. Er federte wie ein Trampolin, und bald darauf grätschte sie, kam mit dem Gesäß auf und wagte sogar einen Salto.

Das Mädchen lehnte sich zurück und kratzte sich mit einem Finger am Bart. »Gutes Teil.« Hubert Etcetera war sicher, dass sie lächelte.

»Das ist ein schönes Bettgestell«, antwortete Hubert Etcetera, weil ihm nichts Besseres einfiel.

»Eines der besten, die es gibt«, bekräftigte sie. »Die Fabrik konnte viele profitable Produkte herstellen, aber Betten liefen am besten. Besonders Hotels haben sie gern genommen, weil sie praktisch unzerstörbar und federleicht sind.«

»Warum werden sie nicht mehr produziert?«

»Oh, die Produktion geht weiter. Vor sechs Monaten hat Muji diese Fabrik geschlossen und ist nach Alberta umgezogen. Sie haben dafür enorme Subventionen kassiert. Ontario konnte nicht mithalten. Sie waren nur zwei Jahre hier und hatten insgesamt nur zwanzig Leute beschäftigt, dann war die zweijährige Steuerstundung vorbei. Seitdem steht der Schuppen leer. Wir können hier Mujis gesamtes Möbelprogramm produzieren, sogar die No-Name-Produkte, die sie für Nestlé oder Standard & Poors und Moët & Chandon hergestellt haben. Stühle, Tische, Bücherschränke, Regale. In Orangeville gibt es eine verlassene Materialfabrik, in der wir die nächste Party feiern wollen. Rohmaterial für die Produktionskette. Wenn wir nicht erwischt werden, können wir genug Möbel für zweitausend Familien herstellen.«

»Nehmt ihr denn nichts dafür?«

Sie sah ihn lange an. »Kommunistenparty. Schon vergessen?«

»Ja, aber was esst ihr und so weiter?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Das ergibt sich. Dieses und jenes. Freundliche Fremde.«

»Also geben euch die Leute etwas zu essen, und ihr gebt ihnen die Sachen?«

»Nein«, erwiderte sie. »Es ist kein Tauschgeschäft. Das hier sind Geschenke. Eine Wirtschaft, die auf Geschenken beruht. Alles wird kostenlos weggegeben, wir erwarten keine Gegenleistung.«

Nun war Hubert Etcetera an der Reihe. »Wie oft bekommt ihr ungefähr zur gleichen Zeit, wenn ihr etwas hiervon weggebt, auch selbst ein Geschenk? Wer brächte nicht etwas mit, wenn er etwas abholt?«

»Natürlich. Es ist schwer, die Menschen von der Mangelwirtschaft und diesem Zug-um-Zug-Denken abzubringen. Aber wir stehen dazu, dass sie nichts mitbringen müssen. Hast du heute Abend etwas mitgebracht?«

Er klopfte seine Taschen ab. »Ich habe zwei Millionen Dollar, nichts Besonderes.«

»Behalte sie. Geld ist das Einzige, was wir auf keinen Fall annehmen. Meine Mom sagte immer, Geld sei das beschissenste Geschenk überhaupt. Jeder, der hier versucht, Geld zu verschenken oder zu bekommen, wird auf Nimmerwiedersehen hinausgeworfen.«

»Dann behalte ich die Wertsachen in der Hose.«

»Gute Idee.« Sie war so freundlich, die unbeabsichtigte Anspielung, die Hubert Etcetera erröten ließ, einfach zu ignorieren. »Ich bin übrigens Pranksterella.«

»Und ich dachte, meine Eltern wären bekloppt.«

Der Bart wackelte fast unmerklich. »Den Namen haben mir meine Eltern gar nicht gegeben«, antwortete sie. »Das ist mein Parteiname.«

»Wie bei Trotzki«, überlegte er. »Eigentlich hieß er Lew Davidowitsch. Im elften Schuljahr habe ich einen Kurs über Bolschewismus belegt, aber das hier ist viel interessanter.«

»Es heißt, der alte Karl hatte die richtige Diagnose, aber das falsche Mittel.« Sie zuckte mit den Achseln. »Trotzdem, es könnte ein guter Ansatz sein, die kommunistische Partei als riesige Party zu begreifen. Entschieden ist noch nichts, wahrscheinlich implodieren wir einfach. So ist es doch auch euch gegangen, oder? Den Zeppelinen?«

»Zeppeline explodieren«, widersprach er.

»Ha-ha.«

»Entschuldige.« Er streckte die Beine und lehnte sich an ein Geländer; es knarrte, hielt aber. Ihm wurde bewusst, dass er beinahe abgestürzt und zehn Meter tief auf den Betonboden gefallen wäre. »Aber es stimmt schon, die Zeppeline haben nicht funktioniert.« Auf dem Papier hatten sie sich hervorragend gemacht. All die mit viel Zeit und wenig Geld gesegneten Menschen, die viele Freunde auf der ganzen Welt besaßen. Zeppeline konnte man unglaublich billig betreiben, wenn es egal war, wohin oder wie schnell man fuhr. Hunderte Start-ups waren entstanden und hatten für klimaschonende Transportmöglichkeiten und das »neue Zeitalter der Fliegerei« geworben. Trotz allem hatte rasch der fatale Eindruck um sich gegriffen, dass eine Art Goldrausch ausgebrochen war. Es war eine Art Reise nach Jerusalem, die nur damit enden konnte, dass ein paar glückliche Seelen genügend Geld anhäuften, um letzten Endes einen Dreck auf alle Arten der Fliegerei zu geben und sich nur noch für die Spielarten zu interessieren, bei denen man mit Champagner begrüßt wurde und gleich nach dem Start eine warme Gesichtspackung bekam. Viel Geld wurde verschoben, es gab viel Gerede von den Regierungen, man müsse doch die lokalen Firmen unterstützen und sich auf die neue Realität in dieser Branche einstellen. Begleitet wurde das Palaver von gewaltigen Abschreibungsmöglichkeiten für Forschung und Entwicklung und noch mehr Investorengeldern.

Nach drei Jahren, in denen Hubert Etcetera und alle anderen, die er kannte, alles aufgegeben hatten, um mit aller Kraft riesige schwebende Zigarren in den Himmel zu hieven, platzte die Blase. Nur wenige Jahre später war es eine Marotte vergangener Zeiten. In einem Werbespot für geschmackvolle Inneneinrichtung hatte Hubert Etcetera eine »echte Mark-II- Zeppelin-Komfortsuite« gesehen. Man hatte die mühsam restaurierten Schlafsaalmöbel umgebaut, damit sich dort statt Dutzenden ziellos umherfliegender Landstreicher zwei reiche Dauergäste einrichten konnten. Einmal hatte Hubert Etcetera drei Monate lang in einer Kooperative gearbeitet, die die Suiten gebaut hatte. Die Module konnten einfach in die Laderäume der Luftschiffe eingepasst werden. Sein schweißtreibendes Engagement sollte angeblich damit belohnt werden, dass er jedes Jahr eine gewisse Zeit auf einem Schiff fliegen durfte, das eine von der Kooperative gefertigte Einheit an Bord hatte, um sich von den wechselnden Winden wer weiß wohin wehen zu lassen.

»War nicht deine Schuld. Es liegt in der Natur der Sache, dass man an Blasen glaubt und denkt, man könne allein dank seines unternehmerischen Geschicks überleben.« Sie nahm den Bart und die Brille ab. Sie hatte ein Gesicht wie ein Fuchs, lauter spitze Punkte. Die schwere Brille hatte Dellen hinterlassen, auf der Haut glänzte der Schweiß. Sie wischte ihn mit dem Hemdzipfel ab. Er konnte einen kurzen Blick auf ihren Nabel werfen, neben dem sich ein Muttermal befand.

»Und ihr hier?« Jetzt hätte er gern noch ein Bier getrunken. Gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass er pinkeln musste. Er fragte sich, ob er es zurückhalten sollte, um später Nachschub herzustellen.

»Wir werden uns nicht durch unternehmerisches Geschick aus der Affäre ziehen. Darum geht es uns überhaupt nicht.«

»Mit einer unternehmerfeindlichen Haltung hat man es auch schon mal probiert. Denkfaule Nachahmung bringt euch bestimmt nicht weiter.«

»Wir haben nichts gegen Unternehmer. Wir sind auf die gleiche Weise nichtunternehmerisch, wie Baseball kein Tic- Tac-Toe ist. Wir spielen ein ganz anderes Spiel.«

»Welches denn?«

»Post-Knappheit«, verkündete sie mit fast religiöser Inbrunst. Anscheinend gelang es ihm nicht, äußerlich unbewegt zu bleiben, denn sie schien verärgert. »Entschuldige.« Hubert Etcetera war der geborene Sich-Entschuldiger. Einmal hatte ein Hausgenosse zu Halloween kleine Grabsteine aus Pappe gemacht und an den Küchenschränken aufgehängt. Auf Huberts Etceteras Exemplar hatte gestanden: »Entschuldigung.«

»Komm mir nicht damit. Hör mal, Etcetera, auf dem Papier ist diese Fabrik nutzlos. Die Sachen, die hier vom Fließband laufen, müssten zerstört werden. Es ist eine Verletzung des Markenschutzes, obwohl die Sachen aus einer offiziellen Muji-Anlage kommen und mit Muji-Material hergestellt wurden. Aber wir haben keine Muji-Lizenz, und deshalb ist diese Konfiguration von Zellulose und Leim ein Verbrechen. Das ist so grundlegend kaputt und beschissen, dass jeder, der darauf Wert legt, das falsche Spiel spielt und keinerlei Aufmerksamkeit verdient. Wer behauptet, die Welt sei ein besserer Ort, wenn man dieses Gebäude verfallen lässt …«

»Ich glaube, das ist nicht der Punkt«, meinte Hubert Etcetera. Früher hatte er diese Diskussion öfter geführt. Er war nicht mehr jung und avantgardistisch, aber er verstand es. »Wenn man den Leuten vorschreibt, was sie mit den Sachen tun sollen, kommen schlechtere Ergebnisse heraus, als wenn man sie dumme Sachen machen lässt, damit der Markt die guten Ideen von den schlechten …«

»Willst du wirklich behaupten, dass irgendjemand noch so etwas glaubt? Weißt du, warum die Leute, die Möbel brauchen, hier nicht einfach die Tür aufbrechen? Das hat nichts mit Marktgesetzen zu tun.«

»Natürlich nicht. Sie haben Angst.«

»Und sie haben jedes Recht, Angst zu haben. In dieser Welt bist du ein Versager, wenn du keinen Erfolg hast. Wenn du nicht ganz oben stehst, dann bist du unten. Wenn du irgendwo dazwischen bist, krallst du dich mit den Fingernägeln fest und hoffst, eine bessere Position zu finden, ehe dich die Kräfte verlassen. Alle, die sich festhalten, haben Angst loszulassen. Alle, die ganz unten stehen, sind zu erschöpft, um es überhaupt zu versuchen. Aber die Leute ganz oben … die sind davon abhängig, dass alles so bleibt, wie es ist.«

»Wie nennst du dann deine Philosophie? Post-Angst?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Der Name ist mir egal. Es gibt viele Namen dafür. Das spielt alles keine Rolle. Nur das hier ist mir wichtig.« Sie deutete auf die Tänzer und die Betten. Inzwischen hatte eine weitere Maschine den Betrieb aufgenommen und stellte Klapptische mit Stühlen her.

»Was ist mit dem Kommunismus?«

»Was soll damit sein?«

»Das ist ein sehr geschichtsträchtiges Etikett. Ihr könntet Kommunisten sein.«

Sie wedelte mit ihrem Bart. »Kommunistische Party. Damit sind wir so wenig Kommunisten, wie jemand ein Geburtstagist ist, der eine Geburtstagsparty gibt. Kommunismus ist eine interessante Sache, die man umsetzen kann, aber nichts, womit ich etwas zu tun haben möchte.«

Die Leiter klapperte, und der Laufgang vibrierte wie eine Stimmgabel. Sie blickten über die Kante, als Seth auftauchte. »Hallo, ihr Turteltauben«, sagte er. Er ging schwankend und zittrig, als hätte er irgendetwas Spannendes genommen. Hubert Etcetera packte ihn, ehe er über das Geländer stürzte. Dann kam noch jemand herauf. Es war einer aus dem bärtigen Trio, das ihm an der Theke begegnet war.

»He, he!« Auch er war offenbar bedröhnt, aber Hubert Etcetera konnte nicht erkennen, wovon.

»Das ist der Mann«, sagte Seth. »Der Mann mit den Namen.«

»Du bist Etcetera.« Der Mann breitete die Arme aus, als wollte er einen verlorenen Bruder begrüßen. »Ich bin Billiam.« Er umarmte Hubert Etcetera so innig, wie es nur Betrunkene konnten. Hubert Etcetera war auch mit Männern ins Bett gegangen und grundsätzlich offen für solche Angebote, aber Billiam war, von den wunderschönen Katzenaugen abgesehen, überhaupt nicht sein Typ und im Moment sowieso zu bedröhnt, um irgendwie infrage zu kommen. Hubert Etcetera schälte ihn energisch von sich ab. Das Mädchen half ihm.

»Billiam«, sagte sie, »was habt ihr zwei denn so getrieben?« Billiam und Seth wechselten einen Blick und kicherten hysterisch.

Sie knuffte Billiam freundschaftlich, worauf er sich langlegte. Ein Fuß baumelte vom Laufsteg.

»Meta«, sagte sie. »Oder etwas in dieser Art.«

Er hatte davon gehört. Man gewann durch die Droge ironische Distanz – eine sehr angesagte Form des Rauschs. Die Verschwörungstheoretiker waren der Ansicht, es entspräche viel zu sehr dem Zeitgeist, als dass es sich um einen Zufall handeln könnte, und behaupteten, es würde nur verbreitet, um die Bevölkerung von ihrem armseligen Los abzulenken. Zu seiner Zeit – vor acht Jahren – hatte die Geißel der Menschheit »Now« geheißen. Sie hatten die Droge Quellcoderevisoren und Drohnenpiloten gegeben, damit sie sich wie Roboter konzentrieren konnten. Er hatte bei der Arbeit an den Zeppelinen selbst eine halbe Tonne davon eingeworfen und sich wie ein fröhlicher Androide gefühlt. Die Verschwörungsfuzzis hatten über »Now« das Gleiche gesagt wie über Meta. Letzten Endes diente alles, was einem half, die objektive Realität zu vergessen und sich vor allem auf einen inneren geistigen Zustand zu konzentrieren, zugleich dem Überleben und dem Status quo.

»Wie heißt du?«, fragte Hubert Etcetera.

»Ist das wichtig?«, fragte sie zurück.

»Es macht mich verrückt«, gab er zu.

»Das steht in deinem Adressbuch«, erinnerte sie ihn.

Er verdrehte die Augen. Natürlich. Er rieb über den Inter- facestreifen auf dem Ärmel und fummelte einen Moment darauf herum. »Natalie Redwater?«, fragte er. »Doch nicht die Redwaters?«

»Es gibt viele Redwaters«, entgegnete sie. »Wir sind eben eine Familie, die so heißt. Nur nicht die, an die du denkst.«

»Aber nahe«, verkündete Billiam aus seiner bedröhnten, hingestreckten, ironischen Welt. »Cousinen?«

»Cousinen«, bestätigte sie.

Hubert Etcetera bemühte sich sehr, Begriffe wie »Trustafarians« und »Fauxhemiens« aus seinem Bewusstsein zu verdrängen. Es gelang ihm nicht recht. Sie war nicht glücklich darüber, dass ihr Name bekannt geworden war.

»Cousinen wie in: die armen Verwandten vom Lande?«, fragte Seth, der sich wie ein Fötus gekrümmt hatte. »Oder Cousinen wie in: Gewöhne dich endlich an das kleine Flugzeug?«

Hubert Etcetera fühlte sich mies. Nicht nur, weil er sich in sie verknallt hatte. In der Zeppelin-Szene war er vielen privilegierten Menschen begegnet. Einige waren nette Leute, deren hervorstechendste Eigenschaften nichts mit ererbten Privilegien zu tun hatten. Normalerweise benahm Seth sich nicht auf diese Weise daneben. Genauer gesagt, war das der Bereich, in dem er sich eigentlich nie danebenbenahm. Aber er war high.

»Cousinen wie in: Wir sind besorgt, sie könnten entführt werden, aber nicht so besorgt, dass wir das Lösegeld zahlen«, antwortete sie mit der Miene eines Menschen, der wieder einmal etwas wiederholen musste, das ihm längst zum Überdruss geworden war.

Die Ankunft der beiden bedröhnten Typen hatte den Zauber der Nacht zerstört. Unten fanden die Maschinen einen stetigen Rhythmus, und Rule 34 kam wieder auf Touren, vermischte Witch House und New Romantic und synchronisierte sich mit dem Arbeitstakt der Anlage. Das zog nicht besonders viele Tänzer an, aber ein paar Unverwüstliche waren noch dabei, sahen gut aus und bewegten sich. Hubert Etcetera starrte sie an.

Drei Dinge geschahen: Die Musik veränderte sich (Psycho- billy und Dubstep), er öffnete den Mund und wollte etwas sagen, und Billiam stieß einen kichernden Singsang aus: »Erwi-hiiischt!«. Dabei deutete er auf die Decke.

Sie folgten dem Hinweis und sahen einen Schwarm Drohnen herabschweben. Die Geräte legten die Flügel an und stürzten kreischend abwärts. Natalie rückte den Bart zurecht, und Billiam vergewisserte sich, dass auch seiner richtig saß.

»Seth, die Masken!« Hubert Etcetera schüttelte seinen Freund. Es gab einen guten Grund dafür, dass Seth ihre Masken verwahrte, aber er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Seth richtete sich auf, zog die Augenbrauen hoch und grinste schief. Hubert Etcetera bückte sich, beugte sich über Seth und durchwühlte unsanft dessen Taschen. Endlich klatschte er sich die Maske ins Gesicht und spürte, wie der Stoff sich anpasste und den Konturen folgte, wie der Atem ihn glättete und das Ober- flächenfett der Haut den Stoff tränkte. Dann versorgte er Seth.

»Das musst du nicht tun«, meinte Seth.

»Stimmt«, sagte Hubert Etcetera. »Ich mache das aus reiner Herzensgüte.«

»Du hast Angst, sie untersuchen meine Sozialkontakte und finden dich in der nur einen Schritt entfernten hochintensiven Zone.« Seths Lächeln, das im dunklen Gesicht förmlich glühte, war aufreizend gelassen. Dann verschwand es hinter der Maske. Es lag an dem dummen Meta. »Du wärst im Arsch. Mann, sie würden deine Datenspur Jahre zurückverfolgen, bis sie etwas finden. Sie finden immer irgendetwas. Sie setzen dir die Daumenschrauben an und drohen dir mit allen möglichen Schrecken, bis du durchdrehst und freiwillig in die Gummizelle einziehst …«

Hubert Etcetera gab Seth einen unnötig festen Klaps auf den Kopf. Seth sagte leise »Autsch!« und hörte zu reden auf. Die Drohnen flogen ein Suchmuster wie Tauben auf Meth. Hubert Etceteras Interfaceflächen vibrierten, als sie Einbruchsversuche feststellten und sich abschalteten. Hubert Etcetera lud regelmäßig Gegenmaßnahmen herunter, und sei es nur, um Drive-by-Identitätsdiebstähle durch kleine Ganoven zu verhindern. Trotzdem schauderte er und fragte sich, ob er wirklich besser gerüstet war als die Cop-Bots.

Die Party fand ein abruptes Ende. Die Tänzer flohen, einige schleppten Möbel mit. Die Musik wurde fast schmerzhaft laut, bis einem sogar die Augen wehtaten. Hubert Etcetera presste sich die Hände auf die Ohren, als eine Drohne gegen einen Querträger prallte, ins Trudeln geriet und auf den Boden krachte. Eine Drohne flog einen Kamikazeangriff auf die Musikanlage und warf sie um. Die Musik lief weiter. Hubert Etcetera zog Seth in eine sitzende Position hoch und deutete auf die Leiter. Sie kletterten hinunter. Der brutale Lautstärkepegel war die reine Folter, sogar das Metall vibrierte schmerzhaft unter Händen und Füßen. Natalie sprang herab und zeigte auf eine Tür.

Etwas Schweres streifte schmerzhaft Hubert Etceteras Kopf und die Schulter, er ging auf die Knie und stützte sich mit allen vieren ab. Dann kam er wieder hoch. Hinter der Maske kreisten Sternchen.

Er sah sich nach dem um, was ihn getroffen hatte. Es dauerte einen Augenblick, bis er verstand, was ihm die Augen zeigten. Billiam lag am Boden, die Gliedmaßen wie ein bizarres Hakenkreuz ausgebreitet. Der Kopf war offenbar verformt, im Zwielicht breitete sich eine dunkle Blutlache aus. Während er noch gegen die Benommenheit und die Schmerzen wegen des Lärms ankämpfte, beugte er sich über Billiam und zog behutsam den Bart hoch. Er war voller Blut. Billiams Gesicht war zerschmettert und kaum mehr als eine Parodie menschlicher Gesichtszüge. Auf der Stirn war eine hässliche Delle zu erkennen, die sich bis zu einem Auge erstreckte. Hubert Etcetera tastete am Handgelenk und an der Kehle nach dem Puls, spürte aber nichts außer den Vibrationen der Musik. Dann legte er Billiam die Hand auf die Brust, um zu fühlen, ob der Mann noch atmete. Er war nicht sicher.

Schließlich blickte er auf. Seth und Natalie waren schon an der Tür. Anscheinend hatten sie Billiams Sturz nicht beobachtet und nicht gesehen, dass er gegen Hubert Etcetera geprallt war. Eine Drohne zauste Hubert Etceteras Haare. Hubert Etcetera wollte weinen. Er unterdrückte das Gefühl und rief sich ins Gedächtnis, was er über Erste Hilfe wusste. Er durfte Billiam nicht bewegen. Aber wenn er blieb, wurde er geschnappt. Vielleicht war es sogar schon zu spät. Der Teil seines Gehirns, der für feige Rechtfertigungen zuständig war, plapperte unentwegt. Warum nicht einfach weggehen? Du kannst ja sowieso nichts mehr tun. Vielleicht ist er schon tot. Er sieht ziemlich tot aus.

Hubert Etcetera untersuchte die Äußerungen dieser Stimme gründlich und kam zu dem Schluss, dass sie ein Arschloch war. Dann überlegte er, was es außer selbstsüchtigen Rationalisierungen sonst noch gab. Er nahm sich eine Tasche, die irgendjemand liegen gelassen hatte, und drehte Billiam sanft in die stabile Seitenlage. Die Tasche schob er ihm unter den Kopf. Mit zusammengekniffenen Augen und pochendem Schädel stützte er Billiam mit einem zerbrochenen Stuhl und einem Stück Rohrleitung ab. Da packte ihn jemand an der Schulter. Fast hätte er sich übergeben. Dies war der Tag, den er sein Leben lang hatte kommen sehen. Der Tag, an dem er ins Gefängnis gehen würde.

Es war jedoch kein Cop, sondern Natalie. Sie sagte etwas, das er wegen der lauten Musik nicht verstehen konnte. Er deutete auf Billiam. Sie kniete nieder und machte Licht. Dann übergab sie sich, hatte aber genug Geistesgegenwart, um in ihre Handtasche zu zielen. Hubert Etcetera registrierte mehr nebenbei, dass sie offenbar an Zellmaterial der Speiseröhre und DNA-Rückstände dachte. Dieser ferne Teil seines Bewusstseins bewunderte ihre Weitsicht. Dann stand sie auf, fasste ihn noch einmal behutsam am verletzten Arm und zog heftig daran. Er schrie vor Schmerzen auf, der Laut ging allerdings in dem Getöse unter. Endlich folgte er dem Drängen und ließ Billiam liegen.

 

Cory Doctorow: „Walkaway“ ∙ Roman ∙ Aus dem Englischen von Jürgen Langowski ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2018 ∙ 736 Seiten ∙ Preis des E-Books € 13,99 (im Shop)

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