12. Juli 2019 1 Likes

Mit dieser Heldin müssen Sie rechnen

Eine erste Leseprobe aus S.L. Huangs Roman „Nullsummenspiel“

Lesezeit: 15 min.

Debütautorin S.L. Huang ist nicht nur ein bekennender Mathe-Geek, sondern war außerdem als Stuntfrau in Hollywood, wo sie unter anderem an der Kultserie „Battlestar Galactica“ mitarbeitete. Dass sie auch noch ziemlich gut schreiben kann, hat sie nun mit ihrem ersten Roman „Nullsummenspiel“ (im Shop) unter Beweis gestellt. Ihre Hauptfigur, Privatermittlerin Cas Russell, ist natürlich sehr gut in Mathe – und zwar so gut, dass selbst der härteste Gegner chancenlos gegen sie ist …

 

1

 

Auf der ganzen Welt gab es nur einen Menschen, dem ich vertraute.

Und der schlug mir gerade ins Gesicht.

Zahlen stoben um Rios Faust, als sie mir entgegenflog. Ich konnte dabei zusehen, wie sich die Werte in einem rasenden Tempo veränderten und Gleichungen sich lösten. Der Mistkerl hielt sich nicht zurück, sondern schlug mit aller Gewalt zu. Ich sah exakt voraus, wo er mich treffen und dass er mir mit seiner Schlagkraft den Kiefer brechen würde.

Wenn ich es zuließ.

Winkel und Kräfte. Vektorsummen. Ein Kinderspiel. Ich drückte meinen Körper gegen den Stuhl, an den ich gefesselt war, stemmte meine Handgelenke gegen den Strick und senkte den Kopf nur etwas weniger, als es gebraucht hätte, um den Hieb in einen zärtlichen Knuff zu verwandeln. So schlug mir Rio zwar die Lippe blutig, zertrümmerte mir aber nicht den Kiefer.

Die Wucht des Schlags schleuderte meinen Kopf nach hinten. Mein Mund füllte sich mit Blut. Ich würgte, hustete und spuckte auf den Betonboden aus. Verdammt.

»Sechzehn Männer«, sagte eine verächtliche Stimme mit deutlichem Akzent ein paar Schritte vor mir, »gegen ein hässliches kleines Mädchen. Wie ist das möglich? Wer bist du?«

»Neunzehn«, korrigierte ich und brachte das Wort vor lauter Blut kaum heraus. Nun bereute ich, dass ich mir die Lippe hatte blutig schlagen lassen. »Prüfen Sie es nach. Ich habe neunzehn von Ihren Männern getötet.« Und es wären noch viel mehr gewesen, hätte mich nicht ein plötzlich aus dem Nichts auftauchender Rio außer Gefecht gesetzt. Verdammter Hurensohn. Er hatte mir diesen Auftrag doch verschafft. Warum hatte er mir nicht gesagt, dass er sich undercover in das Drogenkartell eingeschleust hatte?

Der Kolumbianer, der mich verhörte, atmete scharf ein und nickte einem seiner Lakaien knapp zu, der daraufhin eilig den Raum verließ. Die restlichen drei Drogenschmuggler blieben, wo sie waren, spielten mit ihren Micro-Uzis und setzen dazu eine Miene auf, die sie wohl für einschüchternd hielten.

Vollidioten. Ich rieb meine Handgelenke gegen den rauen Strick, mit dem Rio mir die Hände auf den Rücken gebunden hatte. Er hatte mir dabei gerade so viel Spielraum gelassen, dass ich mich innerhalb eines Sekundenbruchteils befreien konnte. Zahlen und Vektoren schossen in alle Richtungen – von mir zu dem Kolumbianer, zu seinen drei hirnlosen Lakaien, zu Rio. Mein sechster Sinn für mathematische Zusammenhänge, der irgendwo zwischen Sehen und Fühlen angesiedelt war, füllte die Welt um mich herum unablässig mit Berechnungen, sodass ich beständig in dieser Flut aus Daten zu ertrinken drohte.

Und er zeigte mir, wie man am besten tötete.

Kräfte. Bewegungen. Reaktionszeiten. Dieser idiotische Drogenschmuggler stand seinen Jungs direkt in der Schusslinie. Ich hätte ihn sofort ausschalten können, allerdings hätte Rio dann mich ausschalten müssen. Mir war völlig klar, dass er seine Tarnung nicht meinetwegen preisgeben würde.

»Sag mir, was ich wissen will, sonst wirst du es bereuen. Das hier ist mein kleines Schoßhündchen.« Der Kolumbianer wies mit einem kurzen Nicken auf Rio. »Wenn ich den auf dich loslasse, wirst du uns am Ende um den Tod anflehen. Er bringt gern Leute zum Schreien. Das gefällt ihm. Das macht ihm … wie sagt man doch gleich? Einen Mordsspaß.« Der Kolumbianer grinste höhnisch, stützte die Hände auf die Armlehnen des Stuhls und beugte sich so weit zu mir vor, dass sein heißer Atem mein Gesicht streifte.

Jetzt hatte er es geschafft, ich war stinksauer. Ich warf Rio einen kurzen Blick zu. Er trug wie immer seinen beigen Westernmantel und stand teilnahmslos da, wie ein knallharter asiatischer Cowboy. Gleichgültig. Er nahm nicht einmal wahr, dass er beleidigt wurde.

Aber das war mir egal. Wer Rio schlechtmachte, bekam es mit mir zu tun. Auch wenn das alles in Rios Augen bedeutungslos war. Auch wenn es die Wahrheit war.

Ich ließ meinen Kopf zurückfallen und dann ruckartig wieder nach vorne schnellen. Meine Stirn krachte mit einem großartigen Knacken gegen die Nase des Kolumbianers.

Er quietschte und schnaubte wie ein Esel, der Bekanntschaft mit einem Elektrozaun gemacht hat, ruderte mit den Armen und grapschte nach etwas an seinem Rücken, das sich als eine kleine, kompakte Maschinenpistole entpuppte. Ich konnte gerade noch Oh, Scheiße denken, da hatte er sie schon auf mich gerichtet. Doch er konnte nicht abdrücken, weil Rio hinter mir stand. Wild mit der Waffe fuchtelnd bedeutete ihm der Kolumbianer, aus dem Weg zu treten. In diesem Moment formierten sich die Zahlen neu und die Mathematik eröffnete mir ein Aktionsfenster vom Bruchteil einer Sekunde.

Noch bevor Rio einen dritten Schritt tun und der Kolumbianer abdrücken konnte, hatte ich meine Hände aus den Stricken gewunden und mich zur Seite fallen lassen. Aus der Waffe ratterten die Schüsse. Ich ging in die Hocke, wirbelte herum und trat mit einer genau berechneten Bewegung, die die Energie meiner Drehung nutzte, gegen den Metallstuhl - Drehmoment, Impuls, zack. Sorry, Rio. Der Kolumbianer kämpfte mit seiner zuckenden Waffe. Durch den Rückstoß hatte er Schwierigkeiten, mich wieder ins Visier zu nehmen. Ich schnellte hoch, krachte gegen ihn und bekam seine Arme zu fassen. Dann fielen wir gemeinsam in einem genau kalkulierten Bogen zu Boden, der dafür sorgte, dass die Salve aus seiner Maschinenpistole die gegenüberliegende Wand traf.

Der Kopf des Mannes schlug hart auf dem Boden auf, die Waffe glitt aus seinen kraftlosen Fingern und fiel scheppernd auf den Beton. Ohne hinzusehen wusste ich, dass die anderen drei Männer ebenfalls zu Boden gegangen waren. Die Kugeln aus der Waffe ihres Chefs hatten sie durchsiebt, bevor sie auch nur einen Schuss abgegeben hatten. Rio lag mit blutüberströmter Stirn bewusstlos an der Tür. Geschah ihm nur recht, schließlich hatte er mir mehrmals ins Gesicht geschlagen.

Die Tür flog auf. Mehrere Männer schrien etwas auf Spanisch und brachten ihre Uzis und AKs in Anschlag.

Impuls, Geschwindigkeit, Objekte in Bewegung. Ich sah die tödliche Flugbahn ihrer Kugeln, noch bevor sie den Abzug betätigten – wirbelnde Linien aus Kräften und Bewegungen, die meine Sinne erfüllten und den Raum in ein Kaleidoskop von Vektordiagrammen verwandelten.

Als die ersten Schüsse fielen, rannte ich auf die Wand zu und sprang.

Ich traf in genau dem Winkel auf das Fenster, in dem mich die Glassplitter nicht aufschlitzen würden. Das Scheppern der zerspringenden Scheibe direkt neben meinem Kopf war beinahe noch ohrenbetäubender als die Schüsse. Dann landete ich unsanft mit der Schulter auf dem harten Boden, rollte mich ab und lief ohne zu zögern los.

Der Unterschlupf der Drogenschmuggler wurde von einer kleinen Armee bewacht. Am schlauesten wäre es gewesen, sofort zu verschwinden. Aber ich war hier eingebrochen, weil ich einen verdammten Auftrag zu erledigen hatte. Und ich würde nicht bezahlt werden, wenn ich ihn nicht zu Ende brachte.

Die Gebäude warfen lange Schatten in der untergehenden Sonne. Ich blieb abrupt vor einem metallenen Geräteschuppen stehen und riss die Schiebetür auf. Die Zielperson dieses Auftrags, der mir so viele Kopfschmerzen bereitete, eine gewisse Courtney Polk, fuhr hoch und wich so weit vor mir zurück, wie es ihr mit den an ein Rohr gefesselten Händen nur möglich war. Dann erkannte sie mich, und ihr Blick verfinsterte sich. Als die Kolumbianer kurz davor gewesen waren, uns zu schnappen, hatte ich sie hier übergangsweise eingesperrt.

Ich hob den Schlüssel zu den Handschellen auf, den ich neben der Tür in den Staub hatte fallen lassen, und befreite sie. »Zeit abzuhauen.«

»Lass mich los«, fauchte sie und wich wieder zurück. Ich bekam ihren Arm zu fassen und verdrehte ihn. Polk winselte.

»Ich bin für so was gerade echt nicht in Stimmung«, sagte ich. »Wenn du nicht still bist, schlage ich dich bewusstlos und trage dich hier raus. Verstanden?«

Sie starrte mich wütend an.

Ich verdrehte ihren Arm noch ein Stückchen weiter. Nur drei Grad mehr hätten ihr die Schulter ausgekugelt.

»Okay, okay!« Sie versuchte, unbeeindruckt zu klingen, aber dafür war ihr Stimmchen vor Schmerz zu dünn und schrill.

Ich ließ sie los. »Auf geht’s.«

Sie war in weit besserer körperlicher Verfassung, als sie mit ihren schlaksigen Ärmchen und Beinchen auf den ersten Blick wirkte, und so erreichten wir in weniger als drei Minuten den äußeren Absperrzaun des Geländes. Ich schubste sie hinter einer Gebäudeecke zu Boden, um in Ruhe nach dem besten Weg nach draußen Ausschau halten zu können. Die Bewegungsmuster der Wachen wurden zu Vektoren, Zahlenreihen dehnten sich, bis sie am Zaun explodierten. In meinem Kopf drehten sich Kalkulationen in unendlich vielen Kombinationen. Wir würden es schaffen.

Dann tauchte ein Schatten zwischen zwei Gebäuden auf: ein großer, gut aussehender schwarzer Mann. Seine Dienstmarke war unter der Lederjacke nicht sichtbar, aber das war auch nicht nötig. Die Art, wie er sich bewegte, verriet mir alles, was ich wissen musste. Ein Cop mitten in einem Drogenschmugglerversteck.

Ich griff nach Polk, aber es war zu spät. Der Cop fuhr herum und sah mir aus fünfzehn Meter Entfernung direkt in die Augen. Und er wusste sofort, dass er aufgeflogen war.

Er war schnell. Kaum hatten sich unsere Blicke getroffen, ließ er die Hand auch schon in seine Jacke gleiten.

Meine Stiefelspitze sauste nach vorne und traf einen Stein. Der Cop musste es für einen irrwitzigen Glückstreffer halten. Noch während er in seine Jacke griff, traf ihn der Stein wie aus dem Nichts an der Stirn. Sein Kopf wurde nach hinten geschleudert, dann bekam er Schlagseite und ging zu Boden.

Gott segne die Newton’schen Gesetze.

Polk zuckte zurück. »Was zum Teufel war das?«

»Das war ein Cop«, fuhr ich sie an. Nach nur fünf Minuten mit der Kleinen war meine Geduld bereits am Ende.

»Was? Aber warum hast du …? Er hätte uns helfen können!«

Ich musste mich beherrschen, ihr keine Ohrfeige zu verpassen. »Du bist eine Drogenschmugglerin

»Nicht absichtlich!«

»Als ob das einen Unterschied macht. Den Cops ist ganz egal, dass die Kolumbianer nicht mehr gut auf dich zu sprechen sind. Und du weißt zu wenig, um einen Deal auszuhandeln, also werden wir dich auf eine einsame Insel verfrachten, wenn das alles vorbei ist. Und jetzt halt die Klappe.« Der Zaun war nur noch einen kurzen Sprint entfernt, und Steine würden bei den Wachen genauso gut funktionieren. Ich hob ein paar davon auf, wobei meine Hände sofort deren exakte Masse erfassten. Wurfbewegung: meine Größe, ihre Größe, Erdbeschleunigung, Luftwiderstand nicht vergessen, und dann die notwendige Anfangsgeschwindigkeit wählen, damit beim Aufprall auf den menschlichen Schädel genau die nötige Kraft freigesetzt wurde, um einen erwachsenen Mann außer Gefecht zu setzen.

Eins, zwei, drei. Die Wachen gingen nacheinander zu Boden.

Polk unterdrückte einen Schrei und stolperte von mir weg. Ich verdrehte die Augen, packte sie am schmalen Handgelenk und schleifte sie hinter mir her.

Weniger als eine Minute später saßen wir in einem gestohlenen Jeep und entfernten uns von den Lichtern und dem zunehmend alarmierten Gebrüll der Wachen. Um uns senkte sich purpurn die Nacht über die kalifornische Wüste. Ich fuhr einige Male kreuz und quer durch das Gestrüpp, um etwaige Verfolger abzuschütteln, war mir aber ziemlich sicher, dass die Kolumbianer unsere Spur verloren hatten. Bald waren wir allein mit der Wüste und der Nacht. Ich ließ die Scheinwerfer zur Sicherheit ausgeschaltet und navigierte das holpernde Vehikel nur mithilfe des Mondlichts und der mathematischen Extrapolation durch Felsen und Gebüsch. Nichts einfacher als das. Autos sind auch nur Kräfte in Bewegung.

Der Fahrtwind in dem offenen Jeep ließ die Schnitte in meinem Gesicht brennen, und als das Adrenalin nachließ, machte sich Ärger bei mir breit. Ich war davon ausgegangen, dass dieser Job ein Spaziergang sein würde. Polks Schwester hatte mich engagiert, nachdem Rio sie kontaktiert und ihr klargemacht hatte, dass sie ihre Schwester nur dann lebend wiedersehen würde, wenn sie mich mit ihrer Rettung beauftragte. Ich selbst hatte Rio seit Monaten nicht gesehen – bis er mich heute als Punchingball missbraucht hatte –, aber ich konnte mir alles zusammenreimen: Rio operierte undercover innerhalb des Kartells, war auf Polk aufmerksam geworden und hatte entschieden, dass sie es verdiente, gerettet zu werden, und dann mich ins Spiel gebracht. Natürlich war ich dankbar für den Auftrag, aber ich hätte lieber vorher gewusst, dass Rio dort war. Es war verfluchtes Pech gewesen, ihm direkt in die Arme zu laufen. Ohne ihn hätten mich die Kolumbianer nie gekriegt.

Auf dem Beifahrersitz versuchte Polk, sich so gut es ging festzuhalten. Da wir weiterhin querfeldein fuhren, wurde sie unsanft hin und her geschleudert. »Ich werde nicht auf eine einsame Insel ziehen«, sagte sie plötzlich mit unglücklicher Miene.

Ich seufzte. »Von einsam war auch nie die Rede. Und es muss ja keine Insel sein. Vielleicht können wir dich ja auch irgendwo in Argentinien in der Pampa parken oder so.«

Sie verschränkte ihre spindeldürren Arme gegen die kalte Nachtluft vor dem Körper. »Egal. Ich gehe nicht weg. Ich will nicht, dass das Kartell gewinnt.«

Ich musste mich beherrschen, den Jeep nicht absichtlich irgendwo dagegen zu fahren. Nicht, dass es viele Hindernisse gegeben hätte, in die ich ihn hätte lenken können, aber es wäre schon machbar gewesen. Mit dem richtigen Winkel gegen einen kleinen Strauch …

»Dir ist schon klar, dass sie nicht die Einzigen sind, die sich für dich interessieren? Für den Fall, dass deine lieben Freunde vom Kartell vergessen haben, es dir zu sagen, bevor sie dich in den Keller da geworfen haben: Du wirst in ganz Kalifornien wegen Drogenhandels und Mordes gesucht. Ist das jetzt Pflicht, wenn man zu den coolen Kids gehören will?«

Sie verzog das Gesicht und machte sich noch kleiner. »Ich schwöre, ich wusste nicht, dass sie Drogen im Lieferwagen versteckt hatten. Ich hab doch nur meinen Chef angerufen, als sie mich angehalten haben, weil sie uns das gesagt haben. Es ist nicht meine Schuld.«

Ja, klar. Ihre Schwester hatte mir weinend den Polizeibericht gezeigt: Die Beamten hatten eine Fahrerin angehalten, weil sie eine rote Ampel nicht beachtet hatte, und Drogen im Fahrzeug gefunden. Weitere Gangmitglieder tauchten auf, eröffneten das Feuer auf die Beamten und nahmen den Lieferwagen und die Fahrerin mit. Der Bericht belastete Courtney schwer.

Dawna Polk, die mich beauftragt hatte, war sich sehr sicher gewesen, dass ihre Schwester unschuldig war. Mir persönlich war das ziemlich egal. Schuldig oder nicht, Auftrag ist Auftrag.

»Pass auf, ich mach das hier nur, weil ich dafür bezahlt werde«, sagte ich. »Wenn deine Schwester der Meinung ist, du sollst dein Leben wegschmeißen und in den Knast gehen, ist mir das total egal.«

»Ich habe den Lieferwagen nur gefahren. Ich habe doch nicht nachgesehen, was drin ist«, beharrte Courtney. »Dafür können sie mich nicht verantwortlich machen.«

»Wenn du glaubst, dass das so läuft, bist du ziemlich bescheuert.«

»Die Polizei ist mir jedenfalls lieber als du!«, gab sie zurück. »Bei den Cops habe ich wenigstens Rechte! Und da gibt es auch keine gruseligen Feng-Shui-Killer!«

Dann drückte sie sich wieder in die Ecke und biss sich auf die Lippe. Vermutlich überlegte sie, ob sie zu weit gegangen war und ich sie nun ebenfalls mit meinen Feng-Shui-Kräften killen würde.

Blödsinn.

Ich holte tief Luft. »Mein Name ist Cas Russell. Ich bin im Wiederbeschaffungsgeschäft. Das bedeutet, ich beschaffe für meine Auftraggeber alles Mögliche wieder. Das ist mein Job.« Ich schluckte. »Deine Schwester hat mich damit beauftragt, dich wiederzubeschaffen, okay? Ich werde dir nichts tun.«

»Du hast mich eingesperrt.«

»Ich wollte nicht, dass du abhaust. Damit ich dich später holen konnte«, versuchte ich zu erklären.

Courtney hielt die Arme immer noch über der Brust verschränkt und biss sich auf die Lippen. »Und was ist mit all dem anderen Zeug, das du gemacht hast?«, fragte sie schließlich. »Mit den Kartell-Wachen, den Steinen, mit dem Cop …«

Ich warf einen Blick auf die Sternenkonstellationen über uns und lenkte den Jeep nach Osten in Richtung Highway. Die Sterne brannten in meinen Augen, Elevation, Azimut und scheinbare Helligkeit waren neben jedem einzelnen kleinen Lichtpunkt in den Himmel gestempelt. Ein Satellit kam in Sicht. Ich sah sofort, wie weit er von der Erde entfernt und wie hoch seine Umlaufgeschwindigkeit gerade war.

»Ich bin wirklich gut in Mathe«, sagte ich. Zu gut. »Das ist alles.«

Polk schnaubte verächtlich, als würde ich sie auf den Arm nehmen. Dann verzog sie wieder das Gesicht, und ich spürte, wie sie mich aus der Dunkelheit heraus anstarrte. Oh Mann, mir war es wirklich lieber, wenn ich Gegenstände wiederbeschaffen konnte. Menschen waren einfach nervtötend.

Gegen Morgen hatten wir aufgrund meiner ausgeklügelten Sicherheitsmaßnahmen erst die halbe Strecke nach L. A. geschafft. Wir hatten zweimal das Auto gewechselt und waren dreimal in eine völlig andere Richtung gefahren. Das alles war vielleicht etwas paranoid, beruhigte aber meine Nerven.

Die Wüstennacht war kalt. Zum Glück saßen wir mittlerweile nicht mehr im offenen Jeep, sondern in einem schrottreifen alten Kombi, auch wenn die Heizung kaum mehr als einen lauwarmen Hauch produzierte. Polk hatte ihre knochigen Knie hochgezogen und ihren Kopf dazwischen vergraben. Sie hatte seit Stunden nicht mehr gesprochen.

Ich war froh darum. Dieser Auftrag war schon schwierig genug, auch ohne dass ich mich andauernd vor einer undankbaren Göre rechtfertigen musste.

Als die Sonne das erste Morgenlicht verbreitete, setzte sich Polk auf. »Du hast gesagt, du bist im Wiederbeschaffungsgeschäft.«

»Ja«, sagte ich.

»Du holst für deinen Auftraggeber etwas zurück.«

»Das bedeutet ›Wiederbeschaffung‹.«

»Ich hab einen Auftrag für dich.« Ihr jugendliches Gesicht nahm nun einen eigensinnigen Zug an.

Großartig. Sie hatte Glück, dass ich nicht besonders wählerisch in Bezug auf meine Klienten war. Und dass ich nach diesem Job einen neuen Auftrag brauchte. »Um was geht es?«

»Ich will mein Leben zurück.«

»Hm, dafür bezahlt mich deine Schwester schon«, erinnerte ich sie. »Aber hey, wenn du noch etwas drauflegen möchtest, habe ich nichts dagegen.«

»Nein. Ich meine, dass ich nicht nach Argentinien will. Ich will mein Leben zurück.«

»Wie? Du willst, dass ich dir eine weiße Weste beschaffe?« Sie litt eindeutig an akutem Realitätsverlust. »Kleine, das ist nicht …«

»Ich habe Geld«, unterbrach sie mich und senkte dann die Augen. »Ich bin echt gut bezahlt worden für einen Lieferwagenfahrer.«

Ich schnaubte verächtlich. »Wie viel bekommt man denn heutzutage so fürs Drogenschmuggeln?«

»Mir egal, was du von mir hältst«, sagte Polk, lief aber rot an. Sie senkte den Kopf, und der krause Pferdeschwanz fiel ihr übers Gesicht. »Menschen machen Fehler.«

Na klar. Mir kamen gleich die Tränen. Ich ignorierte die Stimme in meinem Kopf, die mich dazu drängte, den blöden Auftrag trotzdem anzunehmen. »Retterin in der Not zu spielen ist nicht so mein Ding. Sorry, Kleine.«

»Denkst du wenigstens mal drüber nach? Und hör auf, mich ›Kleine‹ zu nennen, ich bin dreiundzwanzig.«

Sie wirkte wie höchstens achtzehn, naiv und noch nicht ganz trocken hinter den Ohren. Aber wer war ich, mir ein Urteil zu bilden, mich hielten die Leute auch oft noch für einen Teenager – und tatsächlich war ich kaum älter als Courtney. Aber das Alter bemisst sich nicht nur nach der Summe der Lebensjahre. Manchmal musste ich jemandem erst meine .45er unter die Nase halten, bevor er das kapierte.

Dann fiel mir wieder ein, dass ich meinen Colt 1911 bei der Befreiungsaktion eingebüßt hatte. Verdammt. Das tat weh. Die Waffe würde ich Dawna in Rechnung stellen.

»Also? Denkst du drüber nach?«

»Ich denke gerade an meine Lieblingswaffe.«

»Musst du ständig so fies sein?«, murmelte Courtney, den Kopf gesenkt. »Mir ist klar, dass ich Hilfe brauche, deswegen frage ich dich ja.«

Oh, fuck. Courtney Polk war eine Riesennervensäge, und den guten Namen von dummen Kindern reinzuwaschen, die sich mit Drogenkartellen einließen, gehörte nun wirklich nicht zu meinen Aufgaben. Ich hatte mich schon sehr darauf gefreut, sie schnellstmöglich bei ihrer Schwester abzuliefern und zu verschwinden.

Aber die kleine Stimme in meinem Kopf wollte nicht verstummen: Wohin denn verschwinden?

Nach diesem Auftrag war ich erst mal arbeitslos. Und ohne Arbeit kam ich nicht so besonders gut zurecht.

Genau. Ohne Auftrag bist du jedes Mal ein völliges Wrack.

Ich blendete die Stimme aus und konzentrierte mich aufs Finanzielle. Eines meiner Lieblingsthemen. »Wie viel Kohle hast du? In bar.«

»Heißt das ja?« Ihr Gesicht hellte sich auf, und sie setzte sich wieder gerade hin. »Danke! Wirklich, im Ernst, danke!«

Ich grummelte irgendetwas vor mich hin, das nicht einmal halb so enthusiastisch klang. Dann ließ ich den Motor des Kombis aufheulen, und wir schossen den noch leeren Freeway entlang. Auszutüfteln, wie man ihren guten Ruf wiederherstellen konnte, hörte sich nicht gerade nach Spaß an, besonders nicht so früh am Morgen.

Die Stimme in meinem Kopf lachte spöttisch. Als ob du es dir leisten könntest, wählerisch zu sein.

 

S.L. Huang: „Nullsummenspiel“ ∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Stefanie Adam und Kristof Kurz ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 ∙ 432 Seiten ∙ Preis des E-Books € 9,99 (im Shop)

 

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