7. August 2019 3 Likes

Die Monster in dir

Das Berliner Studio Jo-Mei legt mit „Sea of Solitude“ eine der stimmungsstärksten Game-Balladen der letzten Jahre vor

Lesezeit: 5 min.

Obwohl sich in den letzten knapp zehn Jahren eine ganze Reihe an Spielen gerade aus der Indie-Abteilung daran versucht hat, den Begriff der Kunst oder den der Poesie im Gaming-Kosmos so zu etablieren, dass selbst die breite Öffentlichkeit einige ihrer liebgewonnenen Klischees über das ewige Geballere und Gedaddele endlich überdenkt, bleiben Spiele mit wirklich ernsten Sujets dennoch eher in der Minderheit.

Erzählungen über Depression, Missbrauch, Tod oder Alkoholsucht findet man zwar in Titeln wie Papo & Yo, What Remains of Edith Finch oder Last Day of June, allerdings dominieren diese und weitere eher kleinere Beispiele eher weniger die Wahrnehmung vieler Spieler selbst im Indie-Bereich. Bekanntere Vertreter wie Journey oder Limbo erweisen sich bei genauerer Betrachtung speziell mit ihren frei belegbaren Selbstfindungs- und Reisemetaphoriken als interpretationsoffener und aufgrund ihres hohen Abstraktionsgrades für mehr Perspektiven zugänglich als wie die eben genannten Kollegen, deren Fokus eindeutiger definiert ist.

Beide hier nur knapp umrissenen, natürlich nicht für die ganze Bandbreite an Indies repräsentativen Tendenzen, mindern keineswegs die Qualität der jeweiligen Spiele oder gar ihr Standing im Gaming-Diskurs, jedoch markiert diese Unterscheidung eine Differenz, der sich auch Jo-Meis Anfang Juli für PS4, Xbox One und PC erschienenes Adventure Sea of Solitude zu stellen hat. Denn auch hier treffen stark verdichtete, dennoch sehr greifbare Thematiken wie Trauer, Mobbing oder familiärer Trennungsschmerz auf hochgradig symbolische Repräsentationen in Gestalt von Monstern und einer (Unter-)Wasserstadt, in der sich die Emotionen unserer Hauptfigur in überraschend vielschichtigen Verfremdungen widerspiegeln.

Unsere Heldin hört auf den Namen Kay und durchlebt in Sea of Solitude eine wahre Achterbahn(see)fahrt der Gefühle, die sie nur mit einem Rucksack und einem kleinen Boot bewältigen muss. Chefautorin Cornelia Geppert und ihre Kollegen vom Berliner Studio Jo-Mei brachten zusammen mit EA im Rahmen der EA Originals-Reihe (u.a. Fe und Unravel) für aktuell knapp 20 Euro ein Adventure auf den Markt, in dem es wie bei den meisten Indies der ästhetisch gehobeneren, technisch feinpolierten Kategorie mehr um das Erleben als um forderndes Gameplay geht. So basiert das gut fünfstündige Abenteuer auf einer geschickten Lenkung von Gefühlen, der wir uns mit Kay durch insgesamt elf knapp gehaltene Kapitel stellen.

Zum Repertoire von Kay gehören neben laufen, springen, schwimmen, eine Lichtkugel verschießen und dem Aufsammeln der wenigen Gegenstände wie den in der Spielwelt versteckten Flaschenposten oder dem Aufscheuchen versteckter Möwen noch einige relevante Aktionen wie etwa relativ spät im Spiel das Herumtragen von Maskenteilen, um damit Eiswände schmelzen zu lassen.

Wirklich sterben oder scheitern können wir eigentlich nicht, denn selbst wenn wir einem der wenigen Feinde mangels Verteidigung oder Angriffsmöglichkeit erliegen (aka gefressen werden), versetzt uns das Spiel nach sehr kurzer Ladezeit direkt wieder an besagte Stelle innerhalb der Kapitel. Mittels automatischer, sehr kleinteiliger Speicherung, die uns schon während des ersten Durchlaufs erlaubt, via Menü gezielt zu einzelnen Passagen zurückzukehren, kommt in Sea of Solitude eigentlich nur dann kurzzeitig Frust auf, wenn man nicht sofort weiß, was das Spiel gerade von uns verlangt.

Stimmigerweise haben die Macher im Verbund mit Kays Reise nämlich auf Tutorials, Karten oder zu deutliche Hinweise verzichtet, sodass wir gerade auf hoher See das Gefühl der Isolation unserer Figur sehr gut nachvollziehen können. Gerade hier beweist das Design seine ganze Cleverness, denn der eigentlich stets sehr geradlinige Weg wird uns außerhalb der oft schlauchigen Pfade mithilfe einer sehr atmosphärischen Lichtsetzung markiert.

Das detailarme und ins Fantastische verfremdete Design sowohl der Figuren wie der Umgebungen, unterstreichen auf beeindruckende Weise das Auf und Ab der Gefühlswelt von Kay. So erstrahlt die Stadt gerade noch in Bonbonfarben bei Tageslicht, während wir mit unserem Boot einem freundlichen Mädchen im Regenmantel folgen, ehe völlig unvermittelt eine vollkommene Düsternis einsetzt und wir von einer riesigen Wasserschlange angesprochen und von ihren reißenden Zähnen in Angst und Schrecken versetzt werden.

Doch nichts ist in Sea of Solitude so, wie es zunächst scheint. Immer mehr stellt sich Kay die zutiefst intime Fragen, warum ihr die geradezu ehrwürdigen Riesenkreaturen (die sogar ein wenig an die Ungetüme in Shadow of the Colossus erinnern) vertraut vorkommen und warum sie selbst eigentlich ein Ungeheuer mit schwarzem Fell und großen rotleuchtenden Augen ist. Und sind die Monster überhaupt wirklich gefährlich oder bilden sie nur die Kehrseite ihres Lebens, das Kay viel zu oft in purer Selbstbezogenheit, Unsicherheit und Ignoranz gegenüber den Problemen ihres engsten Umfeldes geführt hat?

Es sind genau diese Verschiebungen, die das Gamedesign meisterhaft einfängt und grell kontrastiert. Das zeigt sich nicht nur auf See, sondern auch dann, wenn Kay sich in den zwar etwas hakeligen, aber eben nie wirklich schwierigen Jump&Run-Abschnitten bewähren muss. Dort warten beispielsweise in einer alten Schule herumschubsende Schatten, die Kay mithilfe ihrer Lichtkugel verscheucht, oder sich aufheizende Belüftungen innerhalb eines zu erklimmenden Turmes, die bemerkenswert treffsicher den Zorn einer Figur verkörpern.

Echte Kopfnüsse gibt es nicht zu lösen und selbst einige vermeintliche Bosskämpfe erweisen sich buchstäblich bei Licht betrachtet als dramatisch aufgeladene Situation ohne spielerischen Anspruch. Geppert und Co. legen den Schwerpunkt zusätzlich zu den inszenierten Stimmungswechseln ganz auf die hervorragend geschriebenen, glücklicherweise nicht zu ausufernden Dialoge, denen man bei einem zu intensiven Anforderungsprofil an das Gameplay kaum in angemessener Konzentration folgen könnte. Zwar sind die Gespräche sehr gut vertont, leider fehlt es neben der englischen Tonspur mit Untertiteln an einer deutschen.

Das ist insofern etwas seltsam, da das Berliner Studio bei den Sprechern deutlich hörbar auf deutsche Sprecher zurückgriff und das Geschehen kleinere Anleihen an die Stadt Berlin zumindest theoretisch anbietet. Hinzu gesellt sich in diesem Kontext eine manchmal merkwürdig falsche Übersetzung der Texte, die zuweilen der eigentlichen Intension der Handlung fast zu widersprechen scheint. Alles natürlich nicht schlimm, aber mehr Feinschliff hätte bei der Synchro und den Untertitel eben auch nicht geschadet.

Als weitere Kritikpunkte sind die fehlende spielerische Abwechslung, eine Banalisierung der Sammelgegenstände (speziell im Fall der in der Spielwelt versteckten Möwen, deren Sinn sich nicht erschließt) und der geringe Wiederspielwert zu nennen. Wer Kays Odyssee einmal durch hat, hat im Grunde alles gesehen, aber eben auch etwas erlebt, was in dieser grafischen und inhaltlich emotionalen Qualität zwischen verschiedenen Affektpolitiken von Freude bis Bedrohung selten gespielt werden kann.

Cornelia Geppert hat es mit ihren Mitstreitern verstanden, einen märchenhaft psychedelischen Ansatz zu wählen, der reale Gefühle in ernsthafter Weise spielerisch erfahrbar macht, ohne sich in zu ausgiebigen Textblöcken zu verlieren oder mit einer zu distanzierten Perspektive ihr eigenes Anliegen zu torpedieren. Sea of Solitude wird in Genre-Retrospektiven zwar alles in allem wohl nicht unbedingt in einem Atemzug mit den Übervätern Journey und Limbo aufgelistet werden, aber dieser sinnliche Spiegel einer Seele hat schon aufgrund seiner Ambitionen definitiv Applaus verdient. Loslassen war in einem Spiel niemals schöner.

Fazit

Ein faszinierender, erzählerisch fein austarierter Adventure-Trip voller Emotionen, dessen großartige Inszenierung über so manch fehlenden Gameplay-Gehalt hinwegtröstet.

Sea of Solitude • Jo-Mei-Games/EA • Adventure • PS4, Xbox One, PC

Abb. © Jo-Mei-Games/EA

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