18. August 2019 2 Likes

Roadtrip ins Surreale

Tillie Waldens neuer Comic-Roman „West, West Texas“

Lesezeit: 3 min.

Tillie Walden, 1996 im texanischen Austin geboren, ist eine der Comic-Entdeckungen der letzten Jahre – und vermutlich das größte Talent, das die Neunte Kunst des grafischen Erzählens derzeit zu bieten hat. Ihr wunderbares WeltraumabenteuerOn A Sunbeam“, zunächst als Webcomic und inzwischen als englischsprachiger Sammelband erhältlich, wurde z. B. von Ann Leckie (im Shop), Martha Wells (im Shop) und Brian K. Vaughan zurecht in höchsten Tönen gelobt und zudem für den Hugo und den Eisner Award nominiert. Auf Deutsch ist bei Reprodukt gerade Waldens neuester Comic „Are You Listening?“ unter dem Titel „West, West Texas“ erschienen, wobei die deutsche Ausgabe von einem exklusiven Cover geziert wird.

Die Graphic Novel, die zeichnerisch wie gewohnt zwischen David Mazzucchelli und Hayao Miyazaki liegt, konzentriert sich auf die junge Bea, die von zu Hause fliehen muss, und die ältere Lou, die einen schweren Abschied hinter sich hat und mit Auto und Wohnwagen durch den Süden der USA fährt. Die beiden ungleichen Frauen, die sich nur flüchtig aus der Nachbarschaft kennen, treffen unterwegs zufällig zusammen und setzen ihre Reise trotz allerhand Kommunikationsproblemen gemeinsam fort. Lou bringt Bea sogar das Autofahren bei, während sie auf dem Roadtrip nach und nach die emotionalen Wunden aufarbeiten, die das Leben den beiden bisher so schlug. Außerdem finden sie eine Katze, und plötzlich nimmt der Trip eine unerwartete Wendung: Das Wetter spinnt, die Landschaft verändert sich oder bricht einfach buchstäblich auseinander, und obendrein werden die Reisenden von seltsamen, bedrohlichen Männern verfolgt. Bea und Lou sehen nur eine Chance: Sie müssen das mysteriöse Örtchen West erreichen, das allerdings schwer zu finden ist …

Bei aller Begeisterung für die Arbeiten Tillie Waldens, die von Mangas genauso inspiriert wurde wie von Scott McCloud, Alison Bechdel oder Craig Thompson: Ihr neuer Comic-Roman ist nicht ganz so brillant und perfekt wie seine Vorgänger. Das liegt unter anderem daran, dass Walden die Messlatte mit „Pirouetten“ und „On A Sunbeam“ selbst ganz schön hoch gesetzt hat – und dass sie sich im ersten Drittel von „West, West Texas“ etwas viel Zeit lässt. Auf der Habenseite stehen realistische, greifbare Gefühle ihrer Protagonisten, denn bei Walden spürt man immer, wenn sie ein großes Stück von sich selbst und ihrem eigenen Leben in ihre Figuren packt. Außerdem gleitet die Story ihres über 300 Seiten starken Comic-Roadmovies sehr elegant und konsequent ins Surreale, ins Fantastische und in den magischen Realismus, womit „West, West Texas“ den besten und faszinierendsten Ghibli-Animationsfilmen in nichts nachsteht. Und natürlich liefert Walten – wieder einmal – wunderschöne Bilder, stimmungsvolle Farben und gekonnte Seitenlayouts, die das Lesen vom Visuellen und vom Tempo her zu einer geschmeidigen Comic-Reise machen.

Wer sich erst noch in Waldens Comic-Kunst verlieben muss, tut das vielleicht besser mit dem auf Deutsch vorliegenden „Pirouetten“ oder „On A Sunbeam“, das für Erlangen 2020 doch wirklich eine hübsche Idee wäre. Wer längst zu ihren Fans und Bewunderern zählt, freut sich indes darüber, dass die Reise für Tillie Walden auch auf Deutsch weitergeht.

Abb.: © Tillie Walden

Tillie Walden: West, West Texas • Reprodukt, Berlin 2019 • 320 Seiten • Paperback m. Klappenbroschur: 29 Euro

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