26. November 2019 1 Likes

Der Butterfly-Effekt im Kopf

„Mr. Nobody“ von Jaco Van Dormael

Lesezeit: 3 min.

Vier Spielfilme in fast dreißig Jahren. Der Belgier Jaco Van Dormael macht sich rar, aber wenn dann mal was Neues kommt, ist es immer ein ganz besonderes Ereignis. So ein Ereignis war 2009 sein dritter Spielfilm „Mr. Nobody“, der längst ein Klassiker ist – jedenfalls für die, die ihn kennen. Und wer ihn nicht kennt, sollte das schleunigst nachholen.

Mr. Nobody“ ist ambitioniert, aber trotzdem bemerkenswert leicht. Er erzählt keine Geschichte, sondern mehrere Varianten derselben Geschichte gleichzeitig, er springt in der Zeit vor und zurück, und dennoch kommt man nie durcheinander in diesem kunstvoll arrangierten Geflecht, weil man rasch die Methode erkennt und sich dann fallen lassen kann in einem Puzzle, dessen Teile gar kein ganzes Bild entstehen lassen sollen. „Mr. Nobody“ ist ein Spiel der Möglichkeiten, mit Betonung auf „Spiel“. Synchronizität, Butterfly-Effekt, Entropie, Paralleluniversen, Big Crunch, Traum, Fantasie, Fiktion, das alles sind Stichworte, die helfen, den Film zu beschreiben (und von denen Van Dormael auch einige sehr augenzwinkernd einbaut), in dem es um das Leben von Nemo Nobody (Jared Leto) geht. Um ein Leben, das nicht linear verläuft.

Als Anker dient der greise Nemo, der Ende des 21. Jahrhunderts als letzter Sterblicher in einer satirisch überzeichneten Bilderbuch-SF-Stadt einem ungläubigen Journalisten seine Lebensgeschichte erzählt, die ihn zwangsläufig an diesen Punkt führen musste und die ebenso zwangläufig an einem bestimmten Tag in einer bestimmten Sekunden enden wird – oder eben auch nicht. Und er beginnt keineswegs bei seiner Zeugung, sondern im Himmel. Denn dass er sich überhaupt an seine verschiedenen Lebenswege erinnern kann, dass er gleichzeitig quer und linear (in beide Richtungen) durch die Zeit reist, das ist die Schuld eines Engels, der einfach im entscheidenden Moment Mist gebaut hat. Nemo weiß einfach zu viel und das ist Makel wie Chance zugleich. Bei der ersten großen Entscheidung seines Lebens – bleibt er nach der Trennung der Eltern bei Mama oder Papa? – zerreisst es ihn regelrecht. Wir erleben nun mit, welche Auswirkungen die jeweilige Entscheidung hat und fluktuieren zwischen den verschiedenen Möglichkeiten, die im übrigen mehr als einmal mit dem Tod enden.

Van Dormael erzählt das sehr assoziativ, sehr charmant und kein filmischer Trick ist ihm zu billig oder zu kitschig, um nicht doch Verwendung zu finden. Eine Überraschung jagt die andere, bis man irgendwann wirklich nicht mehr kann. Da wird ihm die offene Form ein wenig zum Verhängnis, aber das ist ein kleinlicher Einwand angesichts des atemberaubenden Einfallsreichtums und der Vielfältigkeit der Gefühle, die der Film präsentiert. Mit einem Lächeln serviert er gegen Ende sogar eine wunderbar einfache Erklärung für das Gesehene, für all die, die ohne eine Einordnung vielleicht doch etwas zu frustriert den Saal verlassen würden, aber wirklich nötig hat der Film es nicht. Vielleicht ist es auch nur eine weitere Erklärung, aber eine, nach der man dankbar greift, weil sie so einleuchtend und der eigenen Lebenswelt entnommen ist. Was wäre nämlich, wenn all diese Möglichkeiten dem kleinen Nemo in jenen Sekunden durch den Kopf jagen, als er am Bahnhof steht und seine Mutter in den Zug steigt? Wenn er sein zukünftiges Leben durchspielt, weil er instinktiv ahnt, wie wesentlich die Entscheidung ist, die er nun treffen muss? Jeder kennt solche Momente, eine Art Butterfly-Effekt im Kopf.

Aber völlig egal, wie ernst man die philosophischen, wissenschaftlichen oder emotionalen Erklärungsansätze nimmt, die sich anbieten oder aufdrängen, sie alle sind letztlich nur Krücken, die versuchen, die Magie, die jeder Sekunde innewohnt, in Worte zu kleiden. Van Dormael findet dafür Bilder, faszinierende zweieinhalb Stunden lang.

Mr. Nobody • Kanada/Belgien/Frankreich/Deutschland 2009 • Regie: Jaco Van Dormael • Darsteller: Jared Leto, Diane Kruger, Sarah Polley, Linh Dan Pham, Rhys Ifans, Natasha Little

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.