5. Oktober 2020

Cixin Liu, Netflix und Co.: Wie politisch ist Science-Fiction aus China?

Was Chinas Uiguren-Politik, die Trisolaris-Verfilmung von Netflix und der US-Wahlkampf miteinander zu tun haben

Lesezeit: 4 min.

Es ist jüngst eine Debatte rund um die Netflix-Verfilmung von Cixin Lius Science-Fiction-Roman „Die drei Sonnen“ (im Shop) aufgekommen. Ausgelöst wurde sie am 23. September 2020 durch einen Brief von sechs republikanischen US-Senatoren an den Streamingdienst Netflix, in dem diese den Machern der künftigen Trisolaris-Serienverfilmung vorwerfen, sich nicht genügend von gewissen Aussagen Cixin Lius distanziert zu haben. In einem Interview mit der Reporterin Jiayang Fan für den New Yorker hatte Cixin Liu die massiven Restriktionen der chinesischen Regierung gegenüber der uigurischen Minderheit befürwortet.

Cixin Liu (Foto: Li Yibo)
Cixin Liu (Foto © Li Yibo)

Die Antwort von Netflix zwei Tage später fiel lapidar, aber deutlich aus: Man freue sich über das Interesse an der Liu-Verfilmung, weise aber darauf hin, dass Netflix weder in China operiere, noch dass man sich mit dem Erwerb der Filmrechte auch die private Meinung des Romanautors zu eigen mache. Man stimme mit Cixin Lius politischen Ansichten nicht überein, die überdies für die Romane und die geplante TV-Serie nicht von Belang seien. Mit anderen Worten: eine Abfuhr an die Adresse von offensichtlich wahlkampfgetriebenen Senatoren der Trump-Partei. Markus Mäurer hat den bisherigen Stand der Debatte, in der auch die Kritik an Disneys Mulan-Neuverfilmung mit hineinspielt, auf Tor-Online zusammenfasst.

Science-Fiction und Politik in China

Für mich als Lektor von Cixin Lius deutschen Übersetzungen ist diese Debatte äußerst interessant. Denn die Frage, wie politisch Science-Fiction sein kann, sein sollte und sein darf, steht hier meines Erachtens mitten im Raum. Alle Beteiligten attestieren Cixin Lius Romanen ein Desinteresse sowohl an chinesischer wie auch globaler Tagespolitik – die schlimme Situation der Uiguren in Xinjiang mit eingeschlossen.

Aus seinen persönlichen Ansichten hat Liu auch nie einen Hehl gemacht. Wie er bereits in einem Gespräch mit mir vor drei Jahren sagte, sieht er seine Aufgabe als Science-Fiction-Schriftsteller dezidiert darin, den Blick über das aktuelle Geschehen hinaus auf das „Verhältnis des Menschen zum Universum“ zu lenken. Eine Haltung, die in starkem Kontrast zu den ausdrücklich regimekritischen Tendenzen der Romane der Brüder Strugatzki in der ehemaligen Sowjetunion steht – und die Liu selbst mit seinem ausschließlichen Fokus auf das Subgenre der streng wissenschaftsspekulativen Hard-SF begründet.

Ist das also die „reine Lehre“: eine apolitische, kosmische Literatur? Oder kann es neben den gängigen Positionen der Befürworter oder Dissidenten in Bezug auf den chinesischen Staat auch noch andere Schreibhaltungen geben, die deshalb nicht weniger politisch sein müssen? Auf Twitter werden bereits erste Stimmen hörbar, die diese Debatte um Lius Positionen und sein Schreiben auch deshalb begrüßen, weil sie die Chance bietet, jenseits von Cixin Liu endlich auch andere Science-Fiction-Autorinnen und -Autoren wahrzunehmen, wie es etwa die Kritikerin Heike Lindhold fordert.

Darin kann ich ihr nur zustimmen, ohne die Bedeutung von „Die drei Sonnen“ schmälern zu wollen. Denn wenn ich in meiner Beschäftigung mit Science-Fiction aus China (und es gibt gute Gründe, diese nicht „chinesische Science-Fiction“ zu nennen) etwas gelernt habe, dann das: Die Vielfalt an literarischen, spekulativen und auch politischen Stimmen innerhalb des Genres dort ist noch viel breiter und überraschender, als wir das hierzulande und heute überhaupt wissen können; es gibt noch so viel zu entdecken!

Auch die Gegenwart und Vergangenheit der Volksrepublik China ist deutlich komplexer, als ein paar republikanische Hardliner das in einem Wahlkampfstunt darstellen können. Ich empfehle dazu beispielhaft die Lektüre von Daniel Bells Aufsatz „China first! Was liberale Demokratien von der größten Einparteiendiktatur lernen können“ im Kursbuch 194.

Das Genre in China jenseits des Cixin-Liu-Universums

Baoshu: Botschafter der Sterne (Trisolaris 4)Science-Fiction aus China hat bei Heyne mit Cixin Liu angefangen. Darüber hinaus gilt es, noch eine ganze Reihe anderer Autorinnen und Autoren zu entdecken, etwa den weiblichen Superstar der Science-Fiction, Hao Jingfang, mit ihrem Roman „Wandernde Himmel“. Manche wagen in ihren Romanen und Erzählungen durchaus kritische Standpunkte zur Politik Chinas – zum Beispiel Qiufan Chen in seinem Roman „Die Siliziuminsel“ (im Shop) oder auch die Erzählung „Großes steht bevor“ von Baoshu in dem von Ken Liu herausgegebenen Band „Zerbrochene Sterne“ (im Shop). Von Baoshu wird demnächst seine Fortsetzung zu Cixin Lius Trisolaris-Reihe, „Botschafter der Sterne“ (im Shop) erscheinen, und in Planung ist auch ein weiterer Roman von Cixin Liu selbst: „Supernova“ (im Shop) ist das Erstlingswerk des Bestsellerautors.

QuantenträumeGerade ist mit „Quantenträume“ (im Shop) ein weiterer Band mit Erzählungen chinesischer Autorinnen und Autoren erschienen, darunter viele Newcomer des Genres. Weiterhin bei Heyne geplant, aber noch ohne Erscheinungstermin, ist der in China seit vielen Jahren als meisterhafte Kritik der Kulturrevolution gefeierte Roman 蚁生 Yǐ shēng („Ant Life“) von Wang Jinkang., der neben Cixin Liu und Han Song als einer der Großen Drei des Genres gilt.

Was die popkulturellen Verwerfungen rund um die Verfilmungen von internationalen Bestsellern angeht, so werden wir einfach abwarten müssen. Für alle, die hinsichtlich der Game of Thrones-Macher gemischte Gefühle haben, gibt es immerhin eine gute Nachricht: Das Ende der Trisolaris-Romane steht bereits fest.

 

 

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