29. Dezember 2020 1 Likes

Matt Ruffs neuer Roman „88 Namen“

Nach „Lovecraft Country“: Cyberpunk für Gamer und Geeks

Lesezeit: 3 min.

Mit seinem Debütroman „Fool on the Hill“ aus dem Jahr 1988 schrieb Matt Ruff (im Shop) einen Kultklassiker der modernen Fantasy. Es folgten Bücher wie der provokante Alternativweltroman „Mirage“ für die Ära nach Nine-Eleven, die geniale Philip K. Dick-Hommage „Bad Monkeys“ und natürlich „Lovecraft Country“ über Rassismus und Okkultismus, dessen Adaption als TV-Serie durch HBO dieses Jahr viel Aufmerksamkeit erhielt. In Ruffs neuem, druckfrischen Roman „88 Namen“ wendet sich der 1965 geborene Amerikaner nach „G.A.S. – Die Trilogie der Stadtwerke“ aus den 1990ern nun abermals dem Cyberpunk-Genre zu – und erstmals so richtig der aktuellen Geek-Kultur und Gamer-Szene.

Ruffs Ich-Erzähler John Chu bietet Gelegenheits-Zockern, die das nötige Kleingeld haben, seine Dienste als Sherpa in der Welt des Massive Multiplayer Online Role-Playing-Games Call to Wizardry an. Das heißt, dass John und seine Crew mit ihrer Erfahrung und ihren Skills dafür sorgen, dass ihr Kunde auf den Quests in der epischen Fantasy-Spielewelt möglichst viel Fun hat, selbst wenn ihm das eigentliche Know-how fehlt, und nicht am laufenden Band auf dem Friedhof landet. Die Betreiber der Games sehen diese Unterstützung jedoch gar nicht gerne und bannen Sherpas genauso wie Goldfarmer, sollten sie ihrer habhaft werden. Die VR-Technologie der nahen Zukunft, in der z. B. längst ein 17. Teil von „The Fast and the Furious“ gedreht wurde, hat sich unterdessen noch ein ganzes Stück weiterentwickelt und die virtuelle Erfahrung in Sachen Gamen oder Cyber Sex auf ein neues Level gebracht. Gleichzeitig ist es so schwierig wie eh und je, mit Sicherheit sagen zu können, was für eine Person – welche Identität, was für ein Geschlecht – sich hinter einem Avatar oder Kontakt in der digitalen Domäne verbirgt, mit wem man da eigentlich interagiert. Eines Tages glaubt John sogar, dass er in seinem neuesten, verdächtig gut bezahlten und geheimnistuerischen Auftrag den nordkoreanischen Diktator Kim Jong-un durch verschiedene Games führen soll: Durch das Fantasy-Reich von Call to Wizardry genauso wie durch eine Zombie-Apokalypse in Korea und selbst ein altes textbasiertes Rollenspiel um einen Jahrmarkt. Als weitere zwielichtig agierende Parteien an John herantreten, ihm viel Geld bieten und die Grenze zwischen digitaler und echter Welt mit Gewalt übertreten wird, dämmert dem Sherpa, dass er ziemlich in der Patsche sitzt …


Matt Ruff. Foto © Lisa Gold

Matt Ruff ist einer dieser Wundertüten-Verfasser, die sich mit jedem weiteren Roman ein Stück weit neu erfinden oder komplett als schriftstellerisches Chamäleon präsentieren. „88 Namen“ liest sich so etwa ganz anders als Ruffs bisherige Bücher und mehr wie eine Mischung aus Ernest Clines „Ready Player One“ und Cory Doctorows (im Shop) „For the Win“ oder „Das echte Leben“. Gamer und Geeks haben mit Ruffs neuestem SF-Roman daher eine Menge Spaß und das Gefühl, dass mal wieder ein Werk extra für sie geschrieben wurde. Zudem punktet Ruff mit seiner durchdachten, technologisch und emotional nachvollziehbaren Zukunft, in der Virtuelles und Reales noch weiter verschmolzen sind, einander noch stärker beeinflussen. Schade, dass das Ende der unterhaltsamen Geschichte nur bedingt überzeugen kann – doch vielleicht muss man es in diesem Fall und bei diesem Thema so sehen, dass ja auch Games unterwegs am meisten Spaß machen, und der Endgegner oder das Durchspielen nicht der wichtigste Aspekt sind.

„88 Namen“ ist nämlich trotzdem einer der coolsten Romane, die man als Geek beziehungsweise Gamer in diesem Jahr lesen kann.

Matt Ruff: 88 Namen • Fischer TOR, Frankfurt am Main 2020 • 331 Seiten • Paperback: 16,99 Euro

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