17. Februar 2013

Hackerattacken

„Little Brother“ von Cory Doctorow

Lesezeit: 5 min.

Terroranschlag in San Francisco! Eine Brücke und ein Teil der U-Bahn werden gesprengt, Tausende Tote sind zu beklagen. Marcus Yallow, ein siebzehnjähriger Highschool-Schüler, hält sich zum Zeitpunkt des Attentats zufällig mit Freunden in der Nähe der Brücke auf und wird von Soldaten des Heimatschutzministeriums verhaftet. Da Marcus sich einiger Hackerattacken verdächtig gemacht hat und passende Werkzeuge wie WLAN-Finder und RFID-»Killer« besitzt, hält man ihn tagelang fest. Nach demütigenden Verhören wird er schließlich freigelassen, doch sein verletzter Freund Darryl bleibt verschwunden. Marcus wird aufgefordert, über die Vorkommnisse Stillschweigen zu bewahren; außerdem müsse er damit rechnen, von nun an permanent überwacht zu werden.

Infolge des Anschlags nimmt der Kongress den Patriot Act II an. Diese Maßnahme bewirkt, dass in Klassenzimmern Video­kameras installiert werden und das Thema »Nationale Sicherheit« auf den Stundenplan kommt. Im Unterricht wird nun diskutiert, unter welchen Bedingungen die Regierung die Verfassung außer Kraft setzen kann. Gegenüber seiner Familie hat Marcus über seine Verhaftung geschwiegen. Um sich zur Wehr zu setzen, beschließt er nun, mit anderen Jugendlichen ein eigenes Netz auf Basis gecrackter Spielkonsolen zu bilden: das Xnet. Da er seine alte Identität dem Heimatschutzministerium offenlegen musste, legt er sich einen neuen Decknamen und über Server der schwedischen Piratenpartei eine neue E-Mail-Adresse zu. Seine Xnet-Website heißt OpenRevolt. »Das Beste an der ganzen Sache war, wie ich mich dabei fühlte: Ich hatte Kontrolle. Die Technik arbeitete für mich, diente mir, schützte mich. Sie spähte mich nicht aus. Das ist der Grund, weshalb ich mich so für Technik begeistere: Wenn man sie richtig einsetzt, gibt sie einem Macht und Privatsphäre.«

Über das Xnet werden alle möglichen Aktionen koordiniert, um sich der Überwachung zu entziehen und für ein bisschen öffentliches Chaos zu sorgen. Aber nicht nur das. Wie es in einer Radiomeldung heißt: »Missbrauch von Zuständigkeiten – so heißt der neueste Kick in San Franciscos berüchtigtem Xnet, die Bewegung … besteht aus lauter ›little brothers‹, die ihrerseits die Heimatschutzbehörde bei ihren Antiterrormaßnahmen überwachen und Fehler und Exzesse dokumentieren.« Doch das selbstorganisierte Netz ist nicht sicher. Mit einem harten Kern an vertrauenswürdigen Freunden und deren Freunden will Marcus ein »web of trust« organisieren, ein Netz im Netz, bei dem ein spezielles Verschlüsselungsverfahren angewendet wird. Aber Marcus muss erkennen, dass auch dieses Netz unterwandert wird und er in Gefahr schwebt.

»Little Brother« ist weit mehr als ein Nerd-Roman für Jugendliche. Mit seinen Altersgenossen teilt Marcus eine große technische Kompetenz; die Technik ist selbstverständlicher Teil der Jugendkultur geworden. Bei Doctorow drückt sich das nicht (allein) im Downloaden von Musik und Computerspielen aus, sondern in einem konstruktiven Umgang mit diversen Hilfsmitteln, um sich die Welt der Erwachsenen in Gestalt von Schule und Eltern vom Leib zu halten. Die Gangerkennungskameras auf den Schulgängen kann man verwirren, indem man kleine Steine in den Schuhen trägt, die die eigene Gangart vom gespeicherten Profil abweichen lassen. Das SchoolBook, ein von der Schule zur Verfügung gestelltes Laptop, wird gecrackt und mit versteckten Programmen ausgestattet. RFID-Chips in Schulbüchern, die bei unerlaubtem Entfernen auch zur Fernüberwachung dienen können, werden durch »Faraday-Beutel« (mit Kupferdraht gefütterte Umschläge) neutralisiert. Marcus loggt sich schon mal für zehn Sekunden in ein Botnetz mit dreitausend PCs ein, um zehntausend gleichzeitige Anrufe und SMS auf ein Handy zu leiten und damit einen Schüler von der Gegenseite abzulenken. Eine selbstgebastelte LED-Röhre aus einer Klopapierrolle dient als Detektor für stecknadelkopfgroße Videokameras und vieles mehr.

Doctorows Buch ist absolut auf der Höhe der Zeit, was die Darstellung neuer Technologien und ihrer möglichen Verwendung zu Kontrollzwecken angeht. In seinem Nachwort versichert der Autor glaubhaft, die meisten Hacks in der Geschichte seien real. Eines der Hauptthemen ist die Kryptografie; Doctorow bietet eine Fülle an Informationen zu Geschichte und Aufbau von Verschlüsselungstechniken. Dabei wird deutlich, dass auch normalen Usern leistungsfähige Technologien zur Verfügung stehen. »Das Buch veranschaulicht Kapitel für Kapitel«, meinte Cory Doctorow in einem Interview, »was an den technischen Systemen, die wir entwickelt haben, alles nicht stimmt, und zeigt, wie leicht ein Bürger diese Technologien außer Gefecht setzen kann. Der Roman will junge Menschen dazu ermutigen, sich Kontrolle über die Technik zu verschaffen, um für ihre Freiheit im 21. Jahrhundert zu kämpfen.« »Little Brother« ist damit auch als Gegenentwurf zu Orwells Klassiker »1984« angelegt, in dem ein »Big Brother« umfassende Kontrollmacht ausübt.

Die Vision, die Doctorow für die USA der nächsten Jahre entwickelt, fällt allerdings wenig beruhigend aus. Die Annahme, dass es durch neue Bedrohungsszenarien zu einer weiteren Verschärfung der Antiterrorpolitik kommen könnte, erscheint allzu realistisch. Dabei wird die vorgebliche Wirksamkeit der Maßnahmen infrage gestellt. Unter Rückgriff auf statistisches Wissen lässt Doctorow seine Hauptfigur erklären, dass das Aufspüren einzelner Terroristen, selbst wenn es sie gäbe, mit einem Aufwand betrieben werde, der zu viele Verdächtige produziere und in keinem Verhältnis zum Ergebnis stehe. Zumal die Terroristen dieselben Technologien wie die jugendlichen Hacker nutzen könnten. Doctorow beschreibt eine antidemokratische Tendenz der US-Innenpolitik, den Aufbau eines immer umfassenderen Kontrollapparats (was keinesfalls abwegig ist, wenn man an den realen »National Defense Authorization Act« denkt, der zu Beginn des Jahres 2012 in Kraft getreten ist). Das Buch weigert sich, in die von Politik und Medien geschürte Terrorhysterie einzustimmen – ein mutiger Schritt. Das Geheimgefängnis, in dem Marcus’ Freund Darryl monatelang einsitzt, trägt den Namen »Guantánamo-in-the-bay«, eine weitere Figur redet provokant von einem »Gulag Amerika«. Bei seiner erneuten Verhaftung muss Marcus die Foltertechnik Waterboarding über sich ergehen lassen.

Eine wichtige Frage beantwortet Doctorow allerdings nicht: die nach den Urhebern des Terroranschlags. Man könnte sagen, dass dieser nur ein literarisches Mittel zum Zweck ist, aber es bleibt eine Leerstelle. Bei einem übers Xnet organisierten Konzert beschlagnahmt der Heimatschutz eine Broschüre mit dem Titel »Hat es die Attentate vom 11. 9. wirklich gegeben?« – zumindest ein Hinweis darauf, dass Doctorow die offizielle Version kritisch sieht, sie also nicht als Modell für seine Hintergrundgeschichte übernimmt. Vielleicht ist auch seine Einteilung der Regierung in einen guten und einen bösen Teil etwas zu einfach, etwa wenn ein »guter« kalifornischer Gouverneur eingreift und Nationalgardisten den Jugendlichen zu Hilfe eilen. Auch Doctorows offenkundiger Glaube an die Wirkungsmacht der alternativen Presse ist etwas zu sehr vergangenen Zeiten verhaftet: Am Ende darf Marcus auf juristische Wiedergutmachung klagen. Davon abgesehen ist Doctorows Buch eine vorausschauende Mahnung, weitere derartige Ereignisse nicht für eine Überwachungspolitik zu instrumentalisieren, die individuelle Freiheiten einschränkt. Es leistet Aufklärung in mehrfachem Sinne, ohne dass der Unterhaltungsaspekt zu kurz kommt. »Little Brother« ist ein Meisterwerk des politisch intendierten Jugendbuchs.

Cory Doctorow: Little Brother • Roman • Aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn • Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2010 • 492 Seiten • € 14,95

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