28. Februar 2021 1 Likes

Zurück in der Welt von „Watchmen“

Der einflussreiche Comic-Meilenstein und seine aktuellen Fortsetzungen

Lesezeit: 8 min.

Der englische Autorengott Alan Moore ist bekanntlich kein Fan davon, wenn seine Comics adaptiert oder sonst wie verwurstet werden. Besonders nicht das Meisterwerk „Watchmen“, mit dem Moore und sein zeichnender Landsmann Dave Gibbons zwischen 1986 und 1987 das Comic-Medium und den Superhelden-Comic für immer veränderten, was das Vokabular, die Möglichkeiten, die Themen und nicht zuletzt die Außenwahrnehmung angeht. Trotz Moores Ablehnung und Empörung, die auf Streitigkeiten und Enttäuschungen im Verhältnis zwischen Autor und Verlag in der Vergangenheit zurückzuführen sind, entstand 2009 die mainstreamtaugliche Blockbuster-Verfilmung von „Watchmen“ durch Regisseur Zack Snyder.

2012 brachte DC sogar die Reihe „Before Watchmen“ mit Comic-Prequels von J. Michael Straczynski, Darwyn Cooke, Amanda Conner, Brian Azzarello und anderen heraus, während Bestsellerautor Geoff Johns in „DC Rebirth Special“ von 2016 und in der Serie „Doomsday Clock“ zwischen 2017 und 2019 mit Zeichner Gary Frank die Watchmen und die DC-Superhelden zusammenbrachte.

2019 folgte zudem eine Fortsetzung des Comic-Klassikers via Damon Lindelofs „Watchmen“-Fernsehminiserie auf HBO, und seit Dezember 2020 inszenieren Autor Tom King und Zeichner Jorge Fornés eine 12-teilige „Rorschach“-Comic-Maxiserie.


„Watchmen“ 1986. Panels, die die Comicwelt veränderten. © DC Comics

Alan Moore lässt seinen Namen schon lange nicht mehr in Form des inzwischen eigentlich obligatorischeren Creator-Credits mit den multimedialen „Watchmen“-Verquickungen in Verbindung bringen, es wird nur Dave Gibbons angeführt. Dennoch existieren diese zum Teil durchaus erfolgreichen und beachtenswerten Ableger, und die interessanteste Frage abseits der nach dem moralischen Standpunkt lautet, wie die von „Watchmen“ beeinflussten Kreativen der nächsten Generation – alles Leser und Bewunderer von Moore – mit dem Überwerk der modernen amerikanischen Comic-Kultur und des grafischen Erzählens kommunizieren. Da ich just die Redaktionstexte für den ersten deutschen Band von „Rorschach“ bei Panini schrieb, habe ich nach mehr als zehn Jahren wieder einmal „Watchmen“ aus dem Regal gezogen und über mehrere Abende hinweg mit wiederentfachter Faszination und Begeisterung gelesen, mir die HBO-Fernsehserie angeschaut und die bisher erschienenen US-Hefte von „Rorschach“ gesichtet – und mir ein paar Gedanken zu der aktuellen, indirekten Unterhaltung zwischen Mr. Moores Bewunderern und „Watchmen“ gemacht.

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Die äußerst wohlwollend aufgenommene, mit Emmys geradezu überschüttete „Watchmen“-TV-Serie des amerikanischen Senders HBO, die es mittlerweile auf DVD gibt, geht hinsichtlich Setting und Story oft so weit wie möglich auf Abstand zum Original. Ohne je ganz den Kontakt zum Comic über eine wütende US-Gesellschaft zu verlieren, die ihre moralisch fragwürdigen Superhelden wie den göttlichen Dr. Manhattan, den gnadenlosen Comedian oder den extremen Rorschach in den 1970ern und 1980ern zu verabscheuen lernte. Die neun Episoden von je rund einer Stunde Laufzeit, die „Lost“-Macher Damon Lindelof mit seinem mutigen Team und vielen guten Darstellern realisiert hat, setzen 30 Jahre nach dem Comic ein: Nach dem Mord am Comedian, nach Dr. Manhattans Flucht auf den Mars, nach Rorschachs Verhaftung und Tod, nach dem Abtauchen von Night Owl und Silk Spectre, nach dem von Ozymandias fingierten Tintenfisch-Alien-Angriff auf New York, bei dem Millionen Menschen starben, was jedoch einen Atomkrieg zwischen den USA und Russland verhinderte, weil es die zerstrittenen Nationen tatsächlich gegen eine gemeinsame Bedrohung einte.

Die Polizei im heutigen Tulsa in Oklahoma trägt in der HBO-Serie Masken, nachdem weiße, rechte Extremisten unter Rorschach-Masken die Familien vieler Cops in einem koordinierten Angriff attackierten und zahlreiche Menschen starben. Deshalb agieren Angela Abar (immer gut: Regina King) und ihre Kollegen mit Marke verhüllt als Sister Night oder Looking Glass (stark: Tim Blake Nelson), derweil sie Verbrecher, Verschwörer und Vigilanten jagen – dass Officers und Detectives mit Masken in der Corona-Pandemie früh nach Ausstrahlung der TV-Serie ein weniger befremdendes Bild abgeben, dafür kann HBOs „Watchmen“ nichts. Auf selbsternannte Rächer hat es auch die gleichermaßen zynische wie taffe FBI-Agentin Laurie Blake (ein konstantes Highlight der Serie: Jean Smart) abgesehen, die frühere Silk Spectre. Ihr schlumpfblauer Ex Dr. Manhattan glänzt durch Abwesenheit, man kann in speziellen Kabinen jedoch Nachrichten gen Mars schicken. Und wohin auch immer es den superreichen, superschlauen und superskrupellosen Ozymandias Adrian Veidt (ziemlich brillant: Jeremy Irons) verschlagen hat, er sorgt weiterhin dafür, dass die Menschen an eine Invasion aus einer fremden Dimension glauben: Zwischendurch regnen kleine Tintenfische vom Himmel – die Leute scheinen sich dran gewöhnt zu haben, obwohl einige nach wie vor traumatisiert in den Bunker flüchten.


„Watchmen“ 2019. HBO knüpft an die klassische Comicserie an.

Natürlich mixen Lindelof und Co. noch andere, eigene Elemente in ihre Serie, die vor allem spürbar von der Historie und Aktualität rassistisch motivierter Gewalt gegen Afroamerikaner sowie der White Supremacy-Bewegung in den USA beeinflusst ist. Hier geben sie der „Watchmen“-Randfigur Hooded Justice – dem ersten Vigilanten und Rächer des Watchmen-Universums – einen interessanten Black-Lives-Matter-Dreh. Am Ende will diese „Watchmen“-Serie dabei immer mal zu viel und stolpert in ihrer Breite über die erzählerischen Möglichkeiten und Ambitionen des Premiumfernsehens; in ihren besten Momenten macht HBOs „Watchmen“ aber genauso viel richtig und begeistert dann selbst skeptische Fans mit ihrer coolen Krimi-Dystopie und ihrer intelligenten Weiterführung des Comics, die bei dem zu erwartenden Gegenwind vorsorglich genau das tut: weiter und weit genug weg von der Vorlage führen. In die Zukunft von „Watchmen“, die letztlich eine Reflexion unseres Gegenwart ist.

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Die „Rorschach“-Comics von Tom King und Jorge Forgés kleben zumindest in den ersten fünf US-Ausgaben genauso wenig an Moores und Gibbons Meilenstein der neunten Kunst und zeigen dessen Welt ebenfalls 30 Jahre später, genauer gesagt im Jahr 2020, also nach der bombastischen Bildergeschichte von 1986/1987 und nach der daran anknüpfenden TV-Serie von 2019. Mit einer unbestreitbaren Cleverness navigiert King seine Story zwischen dem ursprünglichen grafischen Roman und der Fernsehserien-Fortführung; „Rorschach“ wahrt anfangs seine Unabhängigkeit, für die das relativ neue Black Label von DC seit einiger Zeit steht: „Rorschach“ ist auf dem Papier erst mal kein Kanon von irgendwas, alles andere liegt in der Rezeption und Interpretation der Leser.

Der Comic beginnt mit dem verhinderten Attentat auf den republikanischen Herausforderer des amtierenden liberalen US-Präsidenten Robert Redford (wie in „Watchmen“ von Moore vorhergesagt und wie in der TV-Serie von Lindelof durchgeführt und etabliert). Bei diesem Attentatsversuch sterben gleich auf den ersten Seiten der neue Rorschach und seine junge Gehilfin. Doch wer waren die beiden, unter der Maske? Ein Detective soll für das FBI ermitteln. Seine Nachforschungen betreffen mitunter einen alten Piratencomic-Künstler (denn in der Welt von „Watchmen“ will niemand Comics über die verhassten Superhelden lesen; dafür dropped Autor King im ersten US-Heft die Namen von Batman-Neuerer Frank Miller und Supergirl-Erfinder Otto Binder, macht sie so zu Personen der „Watchmen“-Realität). Weitere Hinweise führen zu einer waffenstarrenden Hinterland-Miliz, die sich auf den nächsten Tintenfisch-Angriff vorbereitet und voll auf die Fake News und die Heldenlegenden aus „Watchmen“ abfährt. Damit wird auch das anspruchsvolle „Rorschach“ als subtile Alternativweltgeschichte früh zum Spiegel unserer jetzigen gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit.


„Rorschach“ 2021. Ein Psycho ist nicht totzukriegen. © DC Comics

Aber eben ganz bewusst nicht zum Abbild oder Abklatsch des ursprünglichen Comics, obwohl die Achtung und Zuneigung jederzeit spürbar sind und Tom King z. B. im fünften US-Heft auf den Antihelden Comedian in Vietnam zurückgreift. King war für die CIA im so genannten Krieg gegen den Terror tätig, bevor er ab 2014 als Autor von Comics wie „Vision“, „Grayson“, „Batman“ und „Mister Miracle“ durchstartete und dafür früh mehrere Eisner Awards erhielt. Bei vielen Gelegenheiten hat er sein Faible für das variantenreiche Neun-Panel-Grundraster unter Beweis gestellt, jenes Seitenlayout, das Moore und Gibbons in „Watchmen“ konsequent und meisterhaft nutzten, untersterblich machten und in Sachen Mustererkennung auf alle Zeit belegten. Das exquisite Artwork des spanischen „Rorschach“-Künstlers Jorge Fornés, der mit King zuvor einige starke „Batman“-Episoden umsetzte, erinnert überdies massiv an Ausnahmezeichner David Mazzucchelli („Batman: Das erste Jahr“, „Daredevil: Auferstehung“). So wird „Rorschach“ zu einem zunächst angenehm eigenständigen, stark geschriebenen und gezeichneten Hardboiled-Krimi bzw. Polit-Thriller über die 2020er von „Watchmen“, in denen wir unsere Realität wiedererkennen.


Oder doch? © DC Comics

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Sowohl für die TV-Fortsetzung als auch für „Rorschach“ gilt: Die einkalkulierte Entfernung (sprich: der Sicherheitsabstand) zum Original hilft, diese handwerklich hochwertigen, durchdachten Spin-offs ohne Moores Segen ernst zu nehmen und genießen zu können. Wer etwa vorurteilsfrei „Rorschach“ liest, kriegt außerdem garantiert Lust, ein weiteres Mal den Comic hervorzuholen. Der über 400 Seiten starke „Watchmen“-Sammelband ist bis heute ein Bestseller und einer von DCs wichtigsten Backlist-Titeln im US-Buchhandel. Vor einigen Jahren wurde die Graphic Novel von der „Times“ als einziger Comic auf die Liste der 100 besten [zwischen 1923 und 2005 publizierten] Romane gesetzt. „Watchmen“ durch den Trigger „Rorschach“ zum wiederholten Male zu lesen, hat sich für mich Anfang 2021 als unerwartetes Vergnügen entpuppt (Offenlegung und um die Frage zu klären, welche Ausgabe ich diesmal in der Hand hatte: 2019 arbeitete ich redaktionell an der „Deluxe“-Neuausgabe von „Watchmen“ bei Panini mit, welche die aufgemotzte Kolorierung der „Absolute Edition“ verwendet).

Wenig überraschend, ist dieser zur Zeit des Kalten Krieges entstandene Panel-Klassiker sowohl inhaltlich als auch zeichnerisch unglaublich gut gealtert. Es beeindruckt stets zutiefst, wie zeitlos diese Geschichte geschrieben und gezeichnet wurde, wie modern sie einem jedes Mal vorkommt – und wir alle wissen ja, dass nicht alle Superhelden- oder Science-Fiction-Stoffe aus den 1980ern den Test der Zeit bestehen. Bei jeder neuerlichen Lektüre von „Watchmen“ bemerkt man zudem etwas bis dato Übersehenes, erschließt sich einem irgendwo ein neuer Zusammenhang oder rückt man wieder ein Piraten-Panel mehr in den richtigen Kontext. Das macht seit jeher den Reiz des Wiederlesens aus. (Dass man als Leser reift, schadet gleichfalls nicht. Ein persönliches Beispiel: früher konnte ich ehrlich gesagt mit manchen der Prosa-Zwischenkapitel nichts anfangen. Zwischenzeitlich entdeckte ich Bücher aus dem Bereich Nature Writing für mich, und plötzlich ist etwa Night Owls Pseudoartikel über die Eulenbeobachtung ein Mini-Höhepunkt.)


„Watchmen“ 2019. HBOs preisgekrönte Fortsetzung.

Erwähnenswert ist, dass die zeitgenössischen Weiterführungen bei HBO und DC einen als Leser nicht nur hungrig zum Klassiker zurückbringen (statt fortzuführen im negativen Sinne), sondern zugleich neue Schwerpunkte für die aufmerksame Auseinandersetzung mit „Watchmen“ generieren. Ihre Ideen und Interpretationen schärfen das Bewusstsein für Details, Szenen, Beziehungen, Implikationen, Nuancen und Figuren im fantastischen Original und im Angesicht unserer Zeit. Der Dialog, den Damon Lindelof, Tom King und Co. in ihren Nachfolgeprojekten mit dem Original führen und dadurch automatisch für ihr Publikum anstoßen, verändert demnach zu einem gewissen Grad unsere Annäherung an den Comic aus den 1980ern samt dessen Rezeption, erfreulicherweise zum Positiven hin.

Selbst wenn einen die neuen Sequels nur dazu bringen, endlich mal wieder tief in die so üppige, vielschichtige Welt von Alan Moores und David Gibbons „Watchmen“-Comic einzutauchen und über damals wie heute wichtige Konstellationen nachzudenken, dann ist das sicher kein Nachteil, nichts Schlechtes – weder aus Sicht des Comic- oder Science-Fiction-Fans, noch aus der des umsichtigen Bürgers und aufmerksamen Beobachters unserer realen Welt, in der man sich längst nicht mehr mit der Frage begnügen darf, wer eigentlich über die Wächter wacht.

Comic-Abbildungen: © 2021 DC Comics. All Rights Reserved

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