14. Mai 2021

Wenn die Menschheit vergreist

In „Graubart“ von Brian W. Aldiss bewirkt eine Nuklearkatastrophe Kinderlosigkeit

Lesezeit: 4 min.

Nachdem erdnahe Atombombentests die meisten Lebewesen unfruchtbar gemacht haben, rächt sich die menschliche Maßlosigkeit in einer Überalterung der Gesellschaft, die rasch bedrohliche Züge annimmt. Was zuerst nur wirtschaftliche Folgen hat, führt schließlich zu einem massiven Aussterbeprozess, der unumkehrbar scheint und das Ende der Menschheit einläutet. 1964 erstveröffentlicht, ist Graubart von Brian W. Aldiss (1925–2017) ein Klassiker, dessen dystopische Vision von überraschender Aktualität ist und nichts von ihrer Eindrücklichkeit verloren hat.

Das Dörfchen Sparcot im Themsetal um 2030: Der nur „Graubart“ genannte Algernon Timberlake ist mit seinen Mitte Fünfzig noch einer der jüngeren Bewohner. Die Menschheit altert rapide, da keine Kinder mehr geboren werden und die Zivilisation abzusterben scheint. Seit der Katastrophe im Jahr 1981 haben Kriege und Seuchen den Verbliebenen den Rest gegeben; bedroht von Gewalttätigkeiten aller Art, bleibt den Überlebenden kaum mehr übrig, als dem eigenen Verlöschen zuzusehen. Doch es machen auch Gerüchte die Runde – zumindest vereinzelt soll es zu Schwangerschaften und Geburten gekommen sein, außerdem wurden seltsame Gnome gesichtet, von denen niemand weiß, um wen es sich dabei handelt und ob diese Gestalten wirklich existieren. Als die Dorfbewohner Sparcot wegen eines möglichen Angriffs aggressiver Tiere verlassen müssen, beschließt Graubart, zusammen mit seiner Frau und einigen weiteren Wegbegleitern die Themse entlang zu reisen, um zur Küste zu gelangen. Ein Unterfangen, das nicht ohne Komplikationen abläuft und überraschende Erkenntnisse mit sich bringt.

Graubart selbst ist eine ungewöhnliche Figur. Der Kriegsteilnehmer wurde in Washington zum Dokumentaristen ausgebildet, um die Folgen der Katastrophe für eine Nachwelt festzuhalten, bei der unklar ist, ob es sie überhaupt geben wird. Doch sein wichtigstes Instrument, ein speziell ausgestattetes Fahrzeug, hat er schon früh gegen Essen eingetauscht, als die Bewohner von Sparcot zu verhungern drohten. Unkonventionell ist auch seine Haltung der Katastrophe gegenüber: Hat die Menschheit den Untergang nicht selber herbeigeführt und somit verdient? War nicht gerade der Lebensstil des 20. Jahrhunderts fatal für die Geschöpfe des Planeten – insbesondere für Kinder? Und erblühen nicht überall dort, wo es früher bloß „vergewaltigte Natur“ gegeben hat, neue und prachtvolle Landschaften? Graubart ist nicht der einzige, der so denkt. Und doch stellt sich die Frage, ob es für den Menschen noch einen Ausweg gibt – und wie dieser beschaffen sein müsste.

Der britische Publizist David Pringle rechnet Greybeard neben zwei weiteren Aldiss-Titeln – nämlich Non-Stop (1958; dt. Starship – Verloren im Weltraum) und Hothouse (1962; dt. Der lange Nachmittag der Erde, im Shop) – zu den hundert wichtigsten englischsprachigen Science-Fiction-Büchern zwischen 1949 und 1984; ein Kompliment, das weiterhin nachhallt. Tatsächlich hat Aldiss den Roman zwischen The Dark Lightyears (1964; dt. Die dunklen Lichtjahre, im Shop) und Earthworks (1965; dt. Tod im Staub, im Shop) veröffentlicht, die sich alle drei als Dystopien auf ökologischer Grundlage bezeichnen lassen, in denen die Folgen von Umweltverschmutzung, Überbevölkerung oder – wie hier – Kernenergie beschrieben werden. Die Katastrophe ist dabei nur ein Detail des Gesamtbilds: Der Roman zeichnet ein ausgesprochen kritisches Porträt des Menschen, dessen gewalttätige Präsenz als zeitweilige Verirrung, als vorübergehende Störung der irdischen Entwicklung gewichtet wird und dessen Aussterben folgerichtig erscheint. Zwar eröffnet sich am Ende des Romans noch einmal eine Perspektive, die aber an der Diagnose selbst nichts ändert. Aldiss zeigt hier eine überraschend unversöhnliche Seite, die sich auch in Tod im Staub finden lässt.

Zugleich deutet der Roman im Hinblick auf das Gesamtwerk erstmals an, dass dem Autor das Genre zu eng zu werden beginnt. Die dunklen Lichtjahre ist von Idee wie Ausführung her noch lupenreine Science Fiction; Graubart aber lässt erkennen, dass sich Aldiss die Schriftstellerei auch jenseits seines literarischen Kernbereichs vorstellen kann. Tatsächlich hat er nachfolgend immer wieder Nicht-SF geschrieben und – wenn auch sehr viel später – die Familiensaga Walcot (2010) zu seinem „magnum opus“ erklärt; aus Genreperspektive hätte man eher mit der Helliconia-Trilogie (1982–1985, im Shop) gerechnet. Graubart ist zwar Science-Fiction, aber ernsthaft im Ton, sorgfältig komponiert und nicht nur mit beeindruckenden Landschaftsdarstellungen, sondern auch mit eingehenden Charakterisierungen versehen. Speziell Algernon Timberlake wurde mit einer Ambivalenz ausgestattet, wie sie zumindest in den frühen 1960er Jahren im Genre untypisch war; dazu gehören auch seine Fehlentscheidungen wie jene, die sich kurz vor Romanende ereignet. Wie wichtig Aldiss seine Hauptfigur ist, zeigt sich auch darin, dass ihre Vorgeschichte erzählt wird, und zwar originellerweise in umgekehrter Chronologie. Und: Auch Graubarts Ehefrau Martha wird von Aldiss ernst genommen und als vollwertige Figur geführt. Der Roman lässt sich daher durchaus als Beziehungsgeschichte eines intelligenten Paares lesen, das sich gegen soziale und ökologische Krisen stemmt, die die menschliche Zivilisation zu vernichten drohen.

Am Schluss steht dann nicht das Ende der Reise, sondern eine neue Ausfahrt in die weiterhin unbekannte Zukunft hinein. Graubart ist – wie viele Romane aus den 1960er Jahren, und zwar insbesondere diejenigen von Brian W. Aldiss – eine Ausnahmearbeit: Radikal in ihrer zeitlosen Kritik und zugleich ambitioniert in ihrer literarischen Umsetzung. Besseres lässt sich über eine Dystopie kaum sagen.

 

Brian W. Aldiss: Graubart • Roman • Aus dem Amerikanischen von Reinhard Heinz • Heyne, München 2020 • 259 S. • E-Book • € 9,99 • im Shop

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