16. Dezember 2021 1 Likes

„Und alle sahen aus wie ich.“

Neue Grotesken von Eugen Egner: „Ihr Radio hat eine wichtige Nachricht für Sie!“

Lesezeit: 4 min.

Ein Mann, der sich in einem „fensterlosen Photolabor“ wiederfindet, entdeckt auf einem soeben gemachten Abzug ein unbekanntes Organ. Hinter seinem Rücken meldet die Geschäftsleitung ein Patent auf das Körperteil an und verdient ein Vermögen damit. Zwei Freunde treffen in einem Badeort ein, an dem Gäste „Schutzhüllen aus Kunststoff“ tragen müssen; wahlweise mit oder ohne Taschen. „Nehmen sie welche mit Taschen“, rät die Frau vom Fremdenverkehrsamt, „wenn doch das Finanzamt alles bezahlt.“ – Das sind nur zwei Szenen aus den irrlichternden Grotesken, die Eugen Egner in seinem neuen Buch „Ihr Radio hat eine wichtige Nachricht für Sie!“ vorlegt und mit denen er erneut die Brüchigkeit der Realität aufzeigt. Allerdings ohne Erklärungsversuche, denn: „Die Frage, ob der Mensch zuerst da war oder das Reh, kann und soll hier nicht beantwortet werden.“

Dass dieses Buch erst vier Jahre nach Die wahren Zusammenhänge und in einem anderen Verlag erscheint, dürfte nicht Egners Produktivität anzulasten sein. Viel eher ist es die Ungeschmeidigkeit des literarischen Betriebs, die auf die ausgesprochen unterhaltsamen, aber schwer kategorisierbaren Arbeiten des Autors mit Achselzucken reagiert. Das gilt auch für den Genrebereich, der sich nicht minder ratlos gebärdet, zudem – mal ehrlich – Egners Buchtitel wie Androiden auf Milchbasis (1999) nicht eben nach knackiger Military-SF klingen. Und so bewegt sich der Schriftsteller, Zeichner und Musiker, der seit 1986 ein umfangreiches Werk an Prosa, Bildgeschichten und Hörspielen vorgelegt hat und 2021 siebzig Jahre alt geworden ist, auch weiterhin zwischen allen Stühlen.

Dies allerdings sehr gekonnt. In „Nächtlicher Heimweg“ verfolgt der Erzähler zwei Personen, die ihn verdächtig an sich selbst erinnern, und gelangt in ein abrissreifes Haus, dessen Inneres wie ein altertümliches Kirchenschiff wirkt. Dort sitzen Dutzende von Menschen, die alle so aussehen wie er. Erschrocken weicht der Erzähler zurück, wird aber von einer älteren Frau aufgehalten, die wie eine Stewardess in den 1960er-Jahren gekleidet ist. Als er das Haus schließlich verlässt, erfolgt der Schock: „Bürgersteig und Straße quollen über von Menschen. Schweigend bewegten sie sich in die Richtung, in die auch ich wollte. Und alle sahen aus wie ich.“ – Es würde zu kurz greifen, in dem dreiseitigen Text eine harmlose Gruselgeschichte zu sehen, die bloß unterhalten soll, denn dazu ist der Tonfall trotz aller impliziten Komik zu ernst und die Handlung zu verstörend.

Egner schildert hier mit der Logik des Traums ein Geschehen, das von der eigenen Entindividualisierung handelt und von der Aussicht, als Mensch im „Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“ verloren zu gehen. Dahinter steht die Furcht, im Hinblick auf die Wirklichkeit von falschen Voraussetzungen ausgegangen zu sein und entscheidende Veränderungen nicht mitbekommen zu haben: „Irgendwas geht hier vor, aber Sie wissen nicht, was es ist, nicht wahr, Mr. Jones?“ (Ronald M. Hahn) Diesen Eindruck vermitteln praktisch alle der zumeist sehr kurzen Grotesken, deren Ich-Erzähler sich auf schwankendem Grund bewegen. So muss die Hauptfigur in der Titelgeschichte aus dem Rundfunk erfahren, dass es sich bei ihr „laut Standard-Echtheitstest“ um eine „Fälschung“ handelt: „Eine geheime Macht bewirkt mittels Täuschung, daß dieses Ding sich ein Bewußtsein einbildet.“ Der Abgrund ist unmittelbar im Alltag verankert und das zuvor als sicher erlebte Terrain erweist sich als Stolperfalle: Kein Wunder, wenn das Radio eine wichtige Nachricht für uns hat.

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Tatsächlich ist Egner trotz aller kunstvollen Überdrehtheit – eine seiner Figuren lebt seit Jahren mit einer Resopalplatte zusammen – viel näher an der sogenannten Wirklichkeit, als auf den ersten Blick vermutet werden könnte. Züge durchfahren „bewohnte und unbewohnbar gemachte Landstriche“ („An der See“), Ladengeschäfte stellen in ihren Schaufenstern unerklärliche Dinge aus („In der Fremde“) und der Busbahnhof „ist heute woanders“, da offenbar Platz für „gigantische Baumaßnahmen“ gebraucht wird, die „mindestens zehn Jahre dauern sollen“ („Biographie eines begabten Kindes“). Feststellungen wie diese lassen sich jeden Tag machen; sie werden im eigenen Umfeld bloß meist nicht so treffsicher formuliert.

Letztlich speisen sich all diese zwischen Amüsement und Befremdung wechselnden Episoden nicht nur aus einer Irritation über die tagesaktuellen Bauformen der Wirklichkeit, sondern aus der tiefgehenden Verunsicherung, ungefragt ins Dasein geworfen zu sein. „Meine Geburt traf mich unvorbereitet und kam mir ungelegen“, heißt es in einer der Geschichten, gefolgt von der Feststellung: „Die Welt hat mich immer gestört.“ Wer sich solchen Sätzen, bei denen auch Samuel Beckett grinsen würde, nur ein kleines bisschen anzuschließen vermag, muss das Buch haben; der Rest liest besser was anderes.

Eugen Egner: Ihr Radio hat eine wichtige Nachricht für Sie! • Verbrecher Verlag, Berlin 2021 • € 20

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